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Maya Angelou »Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt«

Kriegt wirklich jeder, was er verdient?

Maya Angelou ist eine rasend interessante Persönlichkeit: eine Ikone der afroamerikanischen Literatur, Klappentext-Zitate von Obama, Oprah und James Baldwin deuten die Liga an, in der die Autorin spielt. Eine sagenhafte Biografie umgibt Angelou, die von 1928 bis 2014 lebte und Tänzerin, Calypso-Sängerin, alleinerziehende Mutter, Bürgerrechtlerin, Vertraute von Martin Luther King Jr. und Malcom X, Künstlerin, Journalistin und erste schwarze Straßenbahnschaffnerin von San Francisco war.

»Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« erschien erstmals 1969 und kann als Autofiktion betrachtet werden, das Memoire einer schillernden Persönlichkeit, dass Suhrkamp nun in der Übersetzung von Harry Oberländer neu auflegt.

Marguerite Johnson, das Mädchen mit den unzähligen Rufnamen, wächst in den 30er Jahren in dem kleinen Krämerladen ihrer Großmutter in den US-Südstaaten, in einem kleinen Ort namens Stamps in Arkansas, auf. Der Laden bildet den Mittelpunkt der schwarzen Community dieses Ortes und liegt in der Nähe der Baumwollplantagen. Mayas bester Freund ist ihr Bruder Bailey und zusammen erleben sie eine Kindheit voll Spiel, Spaß und Abenteuer, auch wenn ihre Welt sich vor toternster Kulisse abspielt.

Mit Maya begegnet uns eine junge, trotzig-kämpferische Protagonistin, die aber trotzdem beherrscht ist von Ängsten. Der Erzählton ist ein zarter und eindringlicher. In poetischer Sprache wird eine gewalt(tät)ige Geschichte von massiver Armut, körperlicher Schinderei, ständiger Lebensgefahr, Minderwertigkeitsgefühlen und der Perspektivlosigkeit der Opfer eines allgegenwärtigen Rassenhasses erzählt.

Schwarz, jung und weiblich trifft auf das Amerika der 30er und 40er Jahre

»Ist das Heranwachsen für das schwarze Mädchen im Süden schmerzhaft, das Wissen um ihre Deplatziertheit ist der Rost an der Klinge, die die Gurgel bedroht. / Es ist eine unnötige Beleidigung.« (S. 10)

Die beiden Kinder werden im Laufe des Romans mehrmals zwischen ihren geschiedenen Eltern in Kalifornien und ihrer Großmutter »Momma«, die mit dem verkrüppeltem Onkel Willie über dem Geschäft in Stamps wohnt, hin- und hergeschickt. Traumatische Erlebnisse markieren jeweils die Wendepunkte auf ihrem pendelnden Weg zwischen zwei verschiedenen Welten, wobei Stamps als Umgebung greifbarer, atmosphärischer gelingt.

»Der Fatalismus ihrer Bewohner gab mir Kraft, mich auszuruhen, ihre Zufriedenheit beruhte auf dem Glauben, dass sie nichts mehr zu erwarten hatten, ihre Ansprüche hatten sie aufgegeben. Ihre Haltung, sich mit den Ungleichheiten im Leben abzufinden, war lehrreich für mich. Als ich den Boden von Stamps betrat, hatte ich das Gefühl, die Grenzen der Landkarten zu überschreiten und ohne Angst hinter das Ende der Welt zu fallen. Es konnte nichts mehr geschehen, denn es geschah nichts in Stamps.« (S. 106)

Die historischen Folien für das bewegte Leben der beiden Heranwachsenden bilden die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Die Religiosität wird als ein wichtiges Thema im Rahmen der Handlung immer wieder mitverhandelt. Für die geplagten Schwarzen im ländlichen Arkansas bildet sie den einzigen Grund zur Hoffnung und Quell für Lebensmut. Der kleinen Maya erscheint Gott, der in ihren Augen selbstverständlich ein Weißer sein muss, aber zunehmend als grausam und ungerecht. Eine weitere Kontrastfolie zum schwierigen und ernüchternden Leben in Stamps bildet Mexiko, das das junge Mädchen auf einem Ausflug mit ihrem Vater kennenlernt. Kaum vorstellbar, aber noch ärmer und einfacher stellt sich das Leben hier dar, doch Maya überkommt der Verdacht, dass die Mexikaner vielleicht trotzdem glücklicher sind als die Menschen, die sie kennt. Spätestens während des Mexiko-Trips wird auch klar, dass Maya, die so sehr unter der ungerechten Ungleichheit zwischen den Menschen im Amerika leidet, selbst nicht frei ist von Vorurteilen und Ressentiments.

Maya ist in Kalifornien zu einer gebildeten und belesenen jungen Frau geworden, die sich immer mehr in die Welt der Bücher flüchtet und versenkt. Die Umstände haben sie schon sehr früh erwachsen werden lassen. An einem unbestimmten Punkt schafft es das eingeschüchterte, melancholische, verträumte, einzelgängerische Mauerblümchen dann aber eine rasche Entwicklung in sich anzustoßen. Sie geht durch die harte Schule der Obdachlosigkeit, hat bereits jetzt in zwei absolut verschiedenen und voneinander getrennten Welten gelebt und fängt an, die Möglichkeiten einer besseren Zukunft zu erahnen. Sie will die Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen nicht länger hinnehmen, sich nicht wie all die anderen in dieses düstere Schicksal fügen, vor den arroganten weißen Machthabern zu buckeln und zu kuschen. Sondern sie beschließt, etwas ändern zu wollen, die Gegebenheiten zu hinterfragen, ihre Rechte einzufordern und zu kämpfen. Symbolisch für diesen Beschluss steht die Arbeit als erste schwarze Straßenbahnschaffnerin von San Francisco. Erst nimmt sich die kämpferisch gewordene Maya einen Job, der ihr zunächst verweigert wird, dann nimmt sie sich einen Jungen.

»In Stamps war die Rassentrennung so total, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht wirklich wussten, wie Weiße aussahen. Sie wussten nur, dass sie anders waren, dass man sie fürchten musste, und diese Furcht schloss die Feindschaft der Machtlosen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Reichen, der Arbeiter gegen die Besitzenden und der Zerlumpten gegen die Wohlgekleideten mit ein. (…) Die anderen, die seltsamen bleichen Kreaturen, die ihr fremdes Unleben lebten, waren keine Menschen. Sie waren Weiße.« (S. 33f.)

»Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« weist einen unschlüssig schwankenden Ton auf: Manchmal wirkt die Erzählung auf mich eher anklagend und selbstmitleidig, dann wiederum wütend und selbstermächtigend, mit Potenzial zum Empowerment.

Als unstimmig habe ich allerdings die Wendungen und Entwicklungsstufen wahrgenommen, die zum Teil recht holprig und nicht mit dem nötigen Feingefühl und genügend Zeit erzählt werden, wie z. B. hier:

»Die Existenz von San Francisco war wie ein Heilmittel für mich. Ich verlor meine Ängste, wurde unerschrocken.« (S. 238)

Leider kommt das Romanende dann auch irgendwie sehr plötzlich um die Ecke und schafft keinen runden Schluss für die extrem starke Geschichte. Ich bin nach der Lektüre unzufrieden zurückgeblieben und habe mich gefragt, wo die Fortsetzung zu dieser spannenden Lebensgeschichte zu finden ist. Ich hatte erwartet, mehr über die erwachsene Frau in Anlehnung an die sagenhafte Autorinnenbiografie zu erfahren, doch der Roman bleibt in der Kindheit und Jugend dieser schillernden Figur stecken und endet, als sie mit 17 selbst Mutter wird. Würde es dann nicht erst richtig interessant werden?!

 

»Onkel Willie, warum hassen sie uns so?‹« (S. 223)

»Ein Schleier hing zwischen der schwarzen Gemeinschaft und allem, was weiß war. Aber man konnte hindurchsehen und entwickelte ein Gefühl aus Furcht, Bewunderung und Verachtung für die weißen Dinge (…).« (S. 60)

»Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« schildert die Lebensbedingungen von Schwarzen in den 30ern und 40ern der US-Südstaaten. Erzählt wird von kindlicher Unbeschwertheit, ohne eine richtige Ahnung von den harten und grausamen Schicksalen um sie herum, von absoluter Geschwisterliebe, die an Arundhati Roys »Der Gott der kleinen Dinge« erinnert, vom Aufwachsen in dem Gefühl, minderwertig zu sein und der Furcht, Abscheu und Bewunderung für die Sphäre der Weißen. Erzählt wird, wie sich Menschen mit  der ewigen und unbeantwortbaren Frage des Warum und Sinns quälen, vom Verlust des Glaubens an Gleichheit, Gerechtigkeit und einen gütigen Gott, von der ständigen Lebensgefahr für Schwarze, von übergriffigen Männern, einer konservativen Frauenrolle und einem selbstbestimmten, modernen Mädchen, das in Begriff ist, all diese Gewissheiten auf den Kopf zu stellen. Vom Trauma der Gewalt, von Angst, Vergewaltigung, Entwurzelung und entwaffnender Einsamkeit, von einer melancholischen Träumerin und der ganz normalen Identitätskrise eines pubertären Teenagers.

»In ihren zarten Jahren wird die schwarze Frau von allen Kräften der Natur heimgesucht. Sie gerät in ein dreifaches Kreuzfeuer von Vorurteilen: des unlogischen weißen Hasses, der schwarzen Ohnmacht und des männlichen Chauvinismus.« (S. 305)

»Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« ist ein enorm starker, deskriptiver, vielversprechender und unsere Neugierde weckender Titel, aber wird die mitschwingende Frage auch tatsächlich beantwortet? Zumindest regt sie enorm zum Nachdenken an, auch noch nach der Lektüre…

Singt der eingesperrte Vogel, weil gerade die Gematerten und Ausgebeuteten noch gefallen wollen? Weil sie nicht schon tot sein wollen, während sie noch leben? Weil sie dreimal so viel Kraft aufbringen, um ein wenig zu strahlen? Weil sie auf sich aufmerksam machen müssen, um sich befreien zu können?

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»Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« von Maya Angelou umfasst 321 Seiten, erschien am 10.09.2018 bei Suhrkamp und kostet als Taschenbuch 12,00 €.

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