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Margaret Atwoods Frauen-Dystopie: »Der Report der Magd« und »Die Zeuginnen«

Gilead, eine theokratische Hölle

Margaret Atwood hat sich mit ihrer Gilead-Dystopie von 1985 in eine Reihe mit den Klassikern Aldous Huxley und George Orwell gestellt. Die Grundregel ihrer Wahnutopie: „Es dürfen nur Geschehnisse vorkommen, die es in der Geschichte der Menschheit schon gegeben hat.“ (570, Nachwort)

»Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.« (554)

Im »Report der Magd« entwirft Atwood ein provokatives Gedankenexperiment, die düstere Vision eines totalitären Staates, »einer puritanischen Theokratie« (554) – ein an das Christentum erinnernder, ins Extremistische gesteigerter Glaube bestimmt in Gilead das Leben aller und schränkt besonders das der Frauen entscheidend ein. Es ist ein Staat, der – begründet mit der Bibel – von der Superiorität von Männern überzeugt ist und den Frauen ihre Menschenrechte abspricht. Sie dürfen weder arbeiten, noch lesen, schreiben oder eigenes Geld besitzen. Die Ehe und Fortpflanzung sind nicht nur zum unbedingten Ideal, sondern zur Pflicht erhoben, jedoch wird gleichzeitig die Körperlichkeit und Sexualität verachtet. Der männliche Körper wird regelrecht mit Angst, Ekel und Grauen belegt. Frauen müssen sich verschleiern und Sex findet einmal im Monat als festgelegtes, enterotisiertes Ritual statt.  Zurückhaltung ist zur höchsten weiblichen Tugend erkoren.

»›Aber es wird ein gutes Stück Arbeit sein. Man hat Frauen inzwischen so lange erzählt, dass sie in den öffentlichen und privaten Sphären Gleichheit erlangen können. Sie werden wenig erbaut sein von dieser…‹ Ich suchte nach einem Wort. ›Segregation.‹
›Es war von Anfang an grausam, ihnen Gleichheit zu versprechen‹, sagte er, ›da sie sie naturgemäß niemals erlangen können. Wir haben jetzt schon die gnadenreiche Aufgabe übernommen, ihre Erwartungen herunterzuschrauben.‹« (245)

Der Nachwuchs ist in Gilead heilig, da beinahe die ganze Welt durch Umweltverschmutzung und atomaren Müll unfruchtbar geworden ist. Um den Fortbestand der Nation zu sichern, wird das Kinderkriegen auf die Berufsgruppe der Mägde ausgelagert – die einzigen noch gebärfähigen Frauen, die wie Sklaven ihrem Herrn gehören und nach Belieben misshandelt und weiterverkauft werden können und auch keinerlei Anspruch auf die von ihnen ausgetragenen Kinder haben. Genau einmal im Monat, an ihren fruchtbaren Tagen, muss die Magd, die keinen eigenen Namen besitzen darf, sondern als Besitzstück nach ihrem Herrn benannt wird, sich »seinem Samen hingeben« –  eine gesellschaftliche Verpflichtung für beide Seiten.

»Wir sind keine Konkubinen, wir sind wandelnde Gebärmütter.«

Der ›Ausbildungsort‹ der Mägde, das »Rote Zentrum«, ist eine Abfertigungs- und Folterhalle, beherrscht von den asexuellen »Tanten«, die sich um Überwachung, Spionage und Indoktrinierung kümmern. Das Rechtssystem des Staates, der sich pausenlos im Kriegszustand mit anderen Nationen befindet, aber genauso unerbittlich und misstrauisch gegen die eigenen Bürger vorgeht, stützt sich auf Geheimpolizei, Denunziation, Hinrichtungen und Propaganda. Durch Kontrolle und repressive Maßnahmen werden dafür gesellschaftspolitische Probleme wie Geburtenrückgang, Klimawandel, Terrorismus, Arbeitslosigkeit und Wohlstandsgefälle in den Griff bekommen.

In Gilead verehrt man das Konservative, Altmodische, Rurale, das Ursprünglich-Natürliche, die Kleinfamilie, man heiligt und verdammt die Frauen zu gleichen Teilen – die Ausrichtung des alltäglichen Lebens erinnert an Mormonen oder Amish People, eigentlich trifft die Darstellung aber jede extreme Interpretation von Religion. Diese erweisen sich als reaktionär und diskriminierend und setzen auf Segregation in ihrem Versuch, eine Antwort auf die komplexe, chaotische Welt, ihren raschen technischen Fortschritt und das wachsende Unsicherheitsgefühl der Menschen zu geben. Immer stärker wird allerdings auch das Widerstandsnetzwerk »Mayday«, das vielen Einwohnern bei der Flucht hilft.

Im »Report der Magd« begleitet man die Magd Desfred, die versucht aus Gilead zu fliehen und ihre Tochter wiederzufinden. Ihre Erinnerungen bebildern, wie schnell eine Demokratie in eine Autokratie kippen kann – im Falle Gileads gab es einen Terroranschlag auf die Regierung, weshalb der Notstand ausgerufen und geltendes Recht außer Kraft gesetzt wurde. Der Roman hat ein legendär offenes Ende, das den Ausgang für Desfred total im Dunklen belässt, man sie in Todesgefahr oder der rettenden Freiheit wähnen kann.

 

Die Fortsetzung

35 Jahre später erscheint nun die Fortsetzung des Kultbuches, die sich so viele Leser*innen gewünscht haben. »Die Zeuginnen« liefert eine Antwort auf die Frage: Wie kam es zum Sturz von Gilead?

Dieser neue Roman wird aus drei Perspektiven erzählt: Tante Lydia, die den Kopf der weiblichen Sphäre des Regimes darstellt – indoktriniert, grausam und skrupellos überwacht und straft sie. Da sie Einblick in die Geheimdienstakten hat, liegt ihr der Grad an Korruption und Verderbtheit von Gilead offen, welche die gesamte Führungselite durchziehen. Außerdem schlüpfen wir in die Sicht eines gutsituierten Mädchens in Gilead, sie gehört der Generation an, die die Zeit vor der Staatsneugründung nicht mehr miterlebt hat. Die dritte Perspektive gehört einem Mädchen aus Kanada, das in Verbindung mit dem Widerstand ist.

»Falschaussagen waren keine Ausnahme, sondern die Norm. Unter dem schönen Schein aus Tugend und Anstand war Gilead verderbt bis ins Mark.« (426)

Atwood erschafft ein wahrlich beeindruckendes und beunruhigendes dystopisches Universum, das von ihrem Einfallsreichtum und der genauen Beobachtung von Weltgeschichte und ihrer Gegenwart zeugt. Im »Report der Magd« gelingt es ihr, wahrlich Grauen zu erregen und ihre kritische Warnung zu platzieren, während sie eine spannende, packende und bedrückende Geschichte ausrollt. Die Fortsetzung »Die Zeuginnen« kann dagegen sprachlich nicht immer überzeugen, gerade durch die zwei jungen Protagonistinnen gerät es hier und da etwas flach oder vorhersehbar und wirkt eher wie ein Jugendthriller – Plot-driven und mit flapsigem Sound (»Alphazicke«). Dieser Bruch mit dem düsteren Grundton, den die zweite Weltkriegs-Anspielung braucht, führt zu Unstimmigkeiten und Wirkungsverlust. Sie setzt außerdem stark auf genretypische Spannungsmuster, wobei viele Enthüllungen und (biografische) Zusammenhänge recht vorhersehbar und das große Happy End kitschig und aufgesetzt sind. Leider wird der zweite Roman in meinen Augen der faszinierenden Grundidee nicht gerecht.

Schuldfrage

»Lieber Steine werfen als mit Steinen beworfen zu werden. Auf jeden Fall sind da die Überlebenschancen höher.« (249)

Die größte Leistung der Fortsetzung ist es, einen revidierenden Blick auf die Seite der Macht zu werfen. Es sind keine Monster, die das System voranbringen, sondern von einem guten Ideal überzeugte Träumer, schwache Menschen, die auf den eigenen Vorteil bedacht sind und ängstliche, die sich um jeden Preis anpassen. Wir erhalten einen Blick in die menschliche Natur, die machthungrig, grausam und feige ist, und bekommen ein Gefühl für systempolitische Prozesse, die sich im Lauf der Geschichte immer wiederholt haben: Ein Regime, das sich verselbstständigt und unweigerlich von seiner Ideologie entfernt.

»Man könne an Gilead glauben oder an Gott, aber nicht beides.« (420)

Außerdem führt sie vor, wie alle Staatsformen, die auf Religiosität gegründet sind, dem puren, unschuldigen Glauben widersprechen müssen. Und zeigt wie die nächste Generation – durch Bildung und Kulturpropaganda indoktriniert – nur allzu bereit ist, alles als gegeben und normal zu akzeptieren. »Die Zeuginnen« erlaubt sich, einen gewissen Grad an Nachsicht mit Tante Lydia zuzulassen. Kannst du beurteilen, wie du selbst gehandelt hättest?

»Wie konnte ich nur so schlecht, so grausam, so dumm gewesen sein, wirst du dich fragen. Du hättest solche Dinge niemals getan! Aber du selbst wirst niemals die Notwendigkeit dazu gehabt haben.« (550)

 

Die Graphic Novel

Fast zeitgleich mit den »Zeuginnen« ist nun auch »Der Report der Magd« als Graphic Novel erscheinen, wobei Atwood selbst den Originaltext bearbeitet hat, der durch die Straffung noch dazugewinnt. Ausdrucksstark und beklemmend, enorm bildgewaltig und atmosphärisch dicht wird die Geschichte gekonnt von Renée Nault in eine adäquate Bildsprache übersetzt, wobei auch im visuell expliziten Medium vieles in der Schwebe gelassen wird. So werden beispielsweise Desfreds Albträume oder sehr dynamische Gewaltszenen ohne jeglichen Text und in sich auflösenden Panels dargestellt. Der Comic entwickelt trotz seiner extremen textlichen Reduktion einen starken Sog und Erlebniskraft.

 

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»Der Report der Magd« von Margaret Atwood, übersetzt von Helga Pfetsch, umfasst 416 Seiten, erschien bei Piper und kostet als Taschenbuch 12,00 €. Als Hardcover kostet es beim Berlin Verlag 25,00 €.

Die Graphic Novel-Adaption von Renée Nault umfasst 240 Seiten, erschien am 02.09.2019 beim Berlin Verlag und kostet fest gebunden 25,00 €.

»Die Zeuginnen« von Margaret Atwood, überstetz von Monika Baark, umfasst 576 Seiten, erschien am 10.09.2019 beim Berlin Verlag und kostet als Hardcover 25,00 €.

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