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Maxim Biller öffnet »Sechs Koffer«

Familiengeheimnisse und Lebenslügen: großer Verrat im Hause Biller

»Sechs Koffer«, der neue Roman des streitlustigen Polemikers und »Esra«-Skandalautors Maxim Biller, genießt bereits viel Aufmerksamkeit. Besprochen im »Literarischen Quartett« vom 10.08. und sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises hat es die Familiensaga geschafft, die vom Anfang der 60er Jahre bis in der Gegenwart reicht und trotzdem mit knapp 200 Seiten auskommt.

Familie Biller ist gebeutelt von der Härte der Zeit, zerrissen und verstritten wegen einer folgenschweren Denunziation, drückendes Schweigen, halbe Wahrheiten und ganze Lügen prägen die zerrütteten Familienmitglieder. Die sich widersprechenden Behauptungen befeuern die Spekulationen des kleinen Ich-Erzählers, wer seinen Großvater Tate an den KGB verraten hat und so an seiner Hinrichtung Schuld trägt. Was nach Krimi klingt, ist eigentlich viel mehr eine tragische Familiengeschichte mit detektivischen Zügen, eingebettet in das grausige Portrait des Kalten Kriegs und der Zerrissenheit der Welt. Maxim Biller nimmt sich eines großen Stoffes an und umkreist einen historischen Verrat.

Sechs Koffer, sechs Perspektiven

Jedes Kapitel widmet der Autor einem anderen Familienmitglied, es werden mosaikartig einzelne Szenen und Erinnerungen verwoben, dabei springt die Erzählung immer wieder stark in der Zeit. So werden drei Generationen spotlichthaft in einer ellipsenhaften Geschichte erfasst. Der gesamte Roman umkreist das große zentrale Geheimnis der Familie, wobei alle etwas oder auch nichts erzählen und vor allem alle etwas anders, sodass man am Schluss genauso klug ist wie zuvor.

»›Alle für einen, aber nur einer für sich selbst.‹« (S. 71)

Im Zentrum der Erzählung stehen die vier Brüder Wladimir, Lev, Dima und Sjoma, letzterer ist der jüngste und Vater von Maxim und Jelena. Verheiratet ist Sjoma mit Rada Biller, vorher war er aber mit Natalia zusammen, die nun die Ehefrau seines Bruders Dima ist, was nicht selten für Vorwürfe, Eifersucht und Streit in den beiden Ehen sorgt. Der Roman schildert zu Beginn die Entlassung Dimas nach fünf Jahren Pankrác-Haft und Idee Maxims, dass ein Häftling auch ein Mörder sein müsse. Der etwas einfältige Dima wird von den meisten zum Hauptverdächtigen als Denunziant des Taten erklärt, der Verdacht fällt aber im Laufe der Erzählung auf jeden der Brüder und ihre Frauen.

Der Tate, Schmil Grigorewitsch, Vater von Sjoma und Großvater von Maxim, ist jahrelang lukrativen Schwarzmarktgeschäften nachgegangen, er hat Waren, Fremdwährungen und Devisen zwischen dem Ostblock und dem Westen geschmuggelt, wurde allerdings zweimal vom KGB festgenommen und schließlich gehängt. Diese Hinrichtung wirft einen gewaltigen Schatten auf die gesamte Familie. Wer hat den Taten verraten?

»Die Frage war nur, ob sie schon vorher von den Geschäften des Taten gewusst hatten, und wenn ja, von wem. Es konnte ihn schließlich jeder verraten haben, dem der Tate alte amerikanische Nähmaschinen oder französisches Parfum besorgt hatte, jeder, der ihm noch Geld schuldete oder der einfach nur wütend war auf diesen freundlichen, stillen Juden aus Ruthenien, weil er es schaffte, für seine Familie besser zu sorgen als die meisten Russen. (…) Noch wütender machte ihn, dass Dima und er und wir in einer Welt leben mussten, in der jemand wegen ein paar schwarz verdienter Dollars gehängt wurde.« (S. 18)

Seine vier Söhne waren alle in diese Geschäfte verstrickt. Es geht in der Familie ständig um Geld, Gier und Schuld; die Brüder streiten sich um ihre Anteile vom Gewinn des Taten und alle miteinander misstrauen sich gegenseitig. Lev lehnt es sogar ab, mit irgendjemandem seiner Verwandten jemals wieder zu reden. Sie alle sind sich sicher, dass der Verrat in der Familie liegt, und dass jeder auf seine Art verdächtig ist. Das Motiv des Kopfschmerzes zieht sich durch die Erzählung und versinnbildlicht, wie sehr die Familie von Missgunst und Misstrauen vergiftet ist. Maxim ist hierbei der naive Detektiv, der sich im Denken auf den »stalinistischen Irrsinn« einlässt und wilde Spekulationen vom Stapel lässt.

»Ich saß (…) an Dimas Schreibtisch und spielte immer weiter alle möglichen und unmöglichen Varianten von Verrat und Diebstahl und Mord durch, die mir einfielen, während ich die Notiz zur Aktion Bruder nun schon zum dritten oder vierten Mal las. Und weil mir davon immer schlechter wurde, hoffte ich für einen Moment, dass das meiste von dem, was in Dimas StB-Mappe stand, ohnehin nur die Erfindungen bösartiger, unterbeschäftigter Geheimdienstleute waren, die mich mit ihrer widerlichen Tschekisten-Fantasie offenbar längst angesteckt hatten.« (S. 89)

 

Die »falsche Seite der Welt« (S. 148)

Auf kleinstem Raum entfaltet Maxim Biller ein hoch interessantes Familien- und Zeitportrait, ein erschreckendes allerdings, in zumeist düsteren Farben. Erzählt wird von dem russisch-jüdischen Familienleben in Prag, die zwei älteren Brüder sind bereits nach West-Berlin und Rio geflohen. Die Stationen führen von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich und teilweise wieder zurück. Auf knapp 200 Seiten erfährt der Leser so einiges über die Verstrickungen und Irrwege der Figuren, über Liebe, Neid und Misstrauen. Zwar wird ein Schuldiger an der Hinrichtung des Taten angedeutet, aber letztlich haben sich alle mit dem ein oder anderen Verrat belastet, sodass wenig Sympathiepunkte übrigbleiben und doch wird durch die Erzählung kein Urteil gefällt.

Familie Biller als Produkt der Verhältnisse?!

»Aber leider hast du danach gleich weiter über Politik geredet und noch lauter über die Bolschewiken geschimpft, weil sie eure Familie auseinandergerissen hatten. ›Nur weil sie die Menschen nicht glücklich machen können (…), brauchen sie jemanden, dem sie die Schuld an ihrer lächerlichen Unfähigkeit geben können. Alles, was sie über Slánský, Trotzki und die jüdischen Ärzte sagen, müssten sie über sich selbst sagen: Sie sind gierig! Sie sind Lügner und Trickser! Sie zerstören uns alle.‹« (S. 126)

Das Drama der Familie wird maßgeblich durch die Härte der Zeit mitbestimmt. Mit wachsendem Entsetzen liest man von den Machenschaften der Geheimdienste KGB und StB, den Methoden der kommunistischen Partei, von den Fluchten aus der sozialistischen Brüderstaaten, den Schikanen des Migrantenlebens und antisemitischen Erfahrungen, von Spitzelei, Schmuggelei, Erpressungen, folgenschwerer Entwurzelung, von Angst, Unzufriedenheit und vom besonders harten Schicksal der Frauen, die zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen werden. Herausragend ist vor allem die provokante Geschichte von der KZ-Überlebenden (angelegt sowohl in der Figur der Tante Natalia, als auch in deren Filmheldin), die ihr Leben genießt, sich aufreizend und fröhlich zeigt, gerne Sex hat und der diese Art des Umgang mit dem erlittenen Leid abgesprochen wird.

»(…) und auf einmal wurde ich wahnsinnig wütend, weil ich dieses Bild nie wieder in echt sehen würde, denn es gehörte nun den Parteileuten, die inzwischen in unserer Wohnung lebten, so wie der Rest der Möbel und Bilder, die wir bei unserer Flucht zurücklassen mussten, und dann wurde ich noch wütender – auf die Erwachsenen, die uns nie gefragt hatten, ob wir überhaupt mit ihnen in den Westen fliehen wollten.« (S. 77)

»Sechs Koffer« erzählt im Subtext auch die Geschichte eines Jungen, der das Gefühl hat, permanent verraten zu werden, den das ständige Hinterfragen und Misstrauen gegenüber allem droht, zu einem Versehrten zu machen.

 

»Selten war die Lüge trauriger« (Roman Bucheli, NZZ)

Wo ist sie, die diesem Roman so häufig attestierte Komik? Vor meinen Augen breitet sich hier ein durch und durch tragisches Familiendrama aus, Beziehungen, die unheilbar verworren und verdorben sind. Neben Geheimdienstakten, dem tschechischen Kino der Nachkriegszeit, den Auswirkungen von Flucht und den Gründen zum Schreiben zu kommen, steht die Familiensaga hier ganz klar im Fokus. Biller zeigt uns, wie stark Verwandtschaft einzelne Leben verbindet und welchen unentrinnbaren Einfluss sie ausübt, ohne einen je wieder loszulassen.

Als Clou flicht der Autor dann noch mithilfe der russischen Figuren Spejbl und Hurvínek einen Meta-Kommentar ein, der sein Schreiben, als wäre das Leben ein Roman und sein Spiel mit Fakten und Fiktion kommentiert: Die Figur des jungen Maxim stellt sich vor, dass sein Leben lediglich eine Gutenachtgeschichte Spejbls sein könnte und dass das Buch jederzeit zugeklappt werden und sein Leben beenden könnte, und das, während der Autor diese russische Figur beim Schreiben seiner Familiengeschichte betrachtet. Geschickt gemacht!

 

»Nie wieder, dachte ich, will ich ein Familiengeheimnis wissen, nie wieder will ich in fremden Schubladen kramen.« (S. 103)

Beide Kinder, sowohl Maxim als auch Jelena, schreiben als Erwachsene über die Vorkommnisse in ihrer Familie. Beide wollen das düstere Geheimnis, das scheinbar allem Übel zugrunde liegt, eigentlich gar nicht kennen oder lüften. Sie wollen lediglich schreibend verarbeiten und verstehen, was das alles mit ihnen gemacht hat, warum ihre Familie so verbittert-verkorkst ist, was davon auf die Verhältnisse der Zeit zurückzuführen ist und vor allem wie sie selbst sich an deren statt verhalten hätten.

»(…) dass sie eigentlich nur herausfinden wollte, was der unnatürliche Tod des Großvaters mit ihr selbst und überhaupt mit uns allen zu tun hatte; und dass es ihr, zwei Jahre und dreihundert Seiten später, noch immer nicht klar war; und dass sie jetzt noch mehr Fragen hatte als vorher (…)« (S. 185)

Auffällig ist in diesem Zusammenhang allerdings die merkwürdig anmutende, nicht ganz stimmige Erzählhaltung des Romans. Es handelt sich zwar um eine Ich-Erzählerfigur, die nah an dem Autor zu sein scheint, diese ist aber häufig bei dem Erzählten gar nicht anwesend und berichtet trotzdem meistens auktorial allwissend, und dann tuen sich bei Maxim doch immer wieder Erinnerungsschwierigkeiten auf, die dazu noch stark betont werden. Das Erzählperspektivenproblem beschränkt sich nicht auf das Formale, denn auch inhaltlich bleibt der Roman schwankend. Maxim macht sich zum selbsternannten Detektiv auf den Spuren der Familienvergangenheit, aber er ist auch genervt von den ganzen Lügen und Verwicklungen in der Verwandtschaft, er ist sowohl für als auch gegen Geheimnisse, präsentiert wird eine stark autobiografische Fiktion, die Autorenfigur besteht aber darauf, sich vor Journalisten und Öffentlichkeit nicht ‚nackt machen‘ zu wollen. Diese Zwiegespaltenheit bringt zwar Unstimmigkeiten mit sich, das kann aber die im Grunde trotzdem sehr gelungene Erzählung kaum beeinträchtigen.

 

Fazit: unentschlossen

Maxim Biller ist ein routinierter Erzähler, ein Könner der kurzen Texte. Ich habe dieses spannende Familienportrait schnell verschlungen, auch wenn die ‚Krimi-Auflösung‘ mich ab einem gewissen Punkt eigentlich kaum noch interessiert hat. Schlicht und schön wird erzählt, mit einer auffallenden Klarheit. Dabei schafft der Autor den Spagat, kühl und distanziert, aber deswegen nicht empathielos zu schildern und den Stoff dennoch eindrücklich und intensiv zu vermitteln.

Besonders der Anfang ist wirklich gelungen, sehr atmosphärisch erzählt und virtuos in kraftvolle Bilder verpackt. Das verliert sich dann leider etwas, von der verdienten Begeisterung blieb bei mir einiges auf der Strecke, was wohl auch daran liegt, dass immer wieder dieselbe Geschichte durchgespielt wird. Haben Thea Dorn und Sascha Marianna Salzmann recht und Maxim Biller geht dem Schmerzpotenzial, das in dieser Geschichte steckt, nicht wirklich nach?! Zumindest ging mir die Geschichte nicht so nah, hat mich nicht so stark berührt, wie sie es müsste und sollte. Ist es der Kürze des Romans und den vielen Fremddarstellungen und Perspektivwechseln geschuldet, dass man irgendwie draußen bleibt? Hat sich der Autor nicht genug Zeit genommen?

Kurz gesagt: Billers Familiendrama ist wirklich gut und lesenswert, aber es hätte kolossal sein können…

 

»Sechs Koffer« von Maxim Biller umfasst 198 Seiten, erschien am 08.08.2018 bei Kiepenheuer & Witsch und kostet gebunden 19,00 €.

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