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Ein Leben in »Serpentinen« – Bov Bjergs Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte

Wie ein guter Vater sein, wenn die ganze Familiengeschichte voll mit schlechten ist?

Es ist die begierig ersehnte Fortsetzung von »Auerhaus«. 30 Jahre sind vergangen seit den Abenteuern dieser schrägen Wohngemeinschaft und Friedas plötzlichem Tod und mittlerweile ist Protagonist Höppner Hühnerknecht, wenn auch reichlich spät, selbst Vater geworden. Er geht bereits auf die 50 zu und holt so seinen Vater ein, der noch vor Erreichen der Lebensmitte Suizid begangen hatte. Nun nimmt Höppner seinen noch recht jungen, namenlos bleibenden Sohn mit auf einen Ausflug in seine Heimat – irgendwo in Baden-Württemberg.

»Ich hatte nicht gedacht, dass ich noch Vater werden würde. Ich entschied mich für ein Kind, weil ich glaubte, dass ich weiterleben wollte. Was war, wenn ich mich geirrt hatte?« (125)

Es ist deprimierend: Der Hang zum Suizid liegt bereits in der Familie und beherrscht auch Höppners Gedanken und auch seinen besten Freund Frieder hatte damals eine Depression in den Tod getrieben. Nun, auf den Spuren seiner Vergangenheit wandelnd, ist der alkoholkranke Höppner besessen von dem Gedanken, seinen Sohn und dann sich selbst umzubringen, um das vorgegebene Muster zu durchbrechen und die Linie an (zukünftigen) Vätern auszulöschen. Wie sonst soll ein Entrinnen aus diesem Teufels-, diesem Todeskreislauf möglich sein?

Bereits seit drei Generationen drücken sich die männlichen Mitglieder in der Familie vor der Schwere des Lebens und türmen immer mehr psychischen Ballast auf: »Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben. Vor Angst schlief ich ein.« (5) Es handelt sich um Tode, die schon so lange her sind, dass nirgendwo mehr ein Grabstein existiert und nur noch Höppners Probleme mit dem Leben und der Welt von ihrer Existenz künden. Es ist deprimierend. Und unglaublich schwer, offen darüber zu sprechen. Das belastet nicht nur den gemeinsamen Sohn, sondern auch die Liebe zu M. Nur selten erlaubt der seinerseits depressive Protagonist sich einen vorsichtigen schwarzen Humor.

»Wir hatten uns stillschweigend darauf geeinigt, meinen Trübsinn so zu behandeln, wie M. ihre Pollenallergie behandelte. Solange die Beschwerden andauerten, beeinträchtigten sie unser Leben. Doch sobald sie vorbei waren, dachten wir keinen Moment mehr daran, dass sie wiederkommen würden.« (134)

 

»Ich fürchtete, er könnte Angst bekommen, dass ich es auch tun würde. Und ich wusste nicht, wie ich ihm die Angst hätte nehmen können, ohne ihn anzulügen.« (11)

Während der paar Tage Urlaub mit seinem Jungen in der schwäbischen Albregion, aus der der Vater stammt, begegnet ihnen überall die Vergangenheit. Alle Kurven des Leben müssen noch einmal genommen werden, in Serpentinen kreisen sie immer wieder um die Themen und Momente, die das Leben des Vaters bestimmen, bis es plötzlich wirklich dramatisch wird.

»Diese Scheißwut der Scheißväter. Gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater.« (53)

Dabei streifen Höppners aufgescheuchte Gedanken nicht nur durch die Biografien seiner Vorfahren und Leidensgenossen, sondern auch durch die Themen seiner Kindheit: die katholische Kirche, Zugehörigkeit und Sicherheit, die entwickelten Zwänge und Tics in Bemühung um Kontrolle (»sonst würde etwas Schlimmes passieren«) und die Angst vor dem prügelnden, unberechenbaren, alkoholkranken Vater (das Prügeln übernimmt später die Mutter), der in seinem Verfolgungswahn mit einem Beil unter dem Kopfkissen geschlafen hat. Dem Stiefvater danach, der genauso schlimm ist. In dieser Zeit entwickelt Höppner die Vorstellung vom »Schwarzen Gott« und liebäugelt zum ersten Mal mit den Verlockungen von (Selbst-)Zerstörung und Tod. Der Einfluss dieser befehlenden, wie erlösenden Gedankenfigur ist noch immer ungebrochen: »Der Schwarze Gott war allmächtig. Er diktierte, ich schrieb. Er befahl, ich folgte. Nahm er den Befehl zurück, ließ ich den Jungen am Leben. Ich bitte dich, erhöre mich.« (186). Das Schwarz der Trauerkleidung ist wohl eingesickert durch die Haut und hat Höppners Inneres eingefärbt. Linderung konnte ihm nur der Alkohol verschaffen:

»Es musste nicht alles so schwer sein. Mit Bier gelang das. So hatte ich zu trinken begonnen. Dann wuchs das schlechte Gewissen gegenüber der Mutter. Dann wuchs die Furcht, zu enden wie der Vater. Ich trank das schlechte Gewissen nieder und die Furcht. Ich musste nicht enden wie der Vater, als Säufer. Ich war stärker. Stärker als der Vater und stärker als der Alkohol. Mit Bier gelang es mir, daran zu glauben. Ich erwachte im Bett von Frauen, von denen ich nüchtern nichts wollte. Im Studium. Als Doktorand. Ich erwachte, umgeben von Fliesen, im Polizeigewahrsam. Ich erwachte auf Parkbänken. In Straßengräben. Die Peinlichkeit und die Scham jedes Mal wieder einzudämmen kostete Kraft.« (165f.)

 

 

Eine Flüchtlingsfamilie, noch immer auf der Suche nach Geborgenheit

»Am Tag der Hochzeit sagte die Mutter des Bräutigams, die Selbstmörderwitwe, zur Braut, der zukünftigen Selbstmörderwitwe: ›Das mit dem Trinken wird besser, wenn er verheiratet ist. Wenn er für Kinder sorgen muss, wird das besser.‹ (Das hatte mir die Braut selbst erzählt, viel später, als sie schon klüger war.)« (26)

Es zieht sich durch alle Generationen wie ein schwarzer Faden, ein düsterer Schatten: die Überforderung einer dysfunktionalen, destruktiven Familie. Sie alle reden sich ein, dass es noch schlimmer hätte kommen können, »andere werden härter geschlagen«. So machen sie einfach immer weiter.

Es geht in »Serpentinen« um Familiengeschichten, um Verwandschaftsdynamiken und Vergangenheitsbewältigung (historisch und psychologisch), um Ahnenforschung und verklärendes Familienbla, die der Bewältigung im Wege steht – »Diese Familie hatte es nicht so mit Wirklichkeit oder Logik« (5).

»Die Formel lautete: (E + G) x V = F.
Klammer auf, Ereignis (
›so war das‹) plus Gefühl (›das war schlimm‹), Klammer zu, mal Variation (der eine sagte: ›Vielleicht war es auch zwei Tage vorher‹, die andere: ›Nein, es war am Dingsdabums, das weiß ich noch ganz genau, weil‹) gleich Familienbla. Das ›weil‹ im Faktor Variation bot Gelegenheit, ein beliebiges anderes Familienbla einzufügen, wodurch sich die Legenden auf immer wieder andere Weise ineinander verschachtelten, oft gar nicht erst zu Ende erzählt wurden, was niemanden störte, da sie ohnehin allgemein bekannt waren.« (27)

Die Höppners sind eine Familie von vertriebenen Sudetendeutschen, ihre Geschichten sind voll von Melancholie, Dialektverwirrungen, der verschwundenen Heimat (geflutet von den Tschechen), der Scham, als Flüchtling niederste Arbeiten verrichten zu müssen und der Schuld durch die politische Positionierung während der NS-Zeit. Höppners Vater war überzeugter Nazi – im Geiste, nicht in der Tat – der Sohn nun verschreibt sein Leben der Reue, der kritischen Revision und soziologischen Studie: »Ich hatte nie gearbeitet, immer nur gelesen, geschrieben, gedacht, gelabert.« (147)

 

»Das Leben war nur eine Behauptung. Ebenso der Tod.« (44)

Höppner ist mittlerweile Soziologie-Professor, er richtet seinen verkopften Blick auf die Welt und ist wie manisch an faschistischen Mustern interessiert: »›Du mit deinen Nazis. Du siehst überall Nazis!‹ Ich sagte: ›Nazis SIND überall!‹« (118)
Sein Leben war getragen von dem Etappenziel, älter zu werden als sein Vater, als er sich damals erhängte – aber was hält ihn nun noch am Leben?
Höppner muss sich eingestehen, dass weder sein Wegzug noch seine Bildung und der soziale Aufstieg ihm Erlösung gebracht haben.

»Arbeiterjunge schafft es auf die Uni. Gehört nicht mehr dahin, wo er herkommt. Gehört nicht dahin, wo er jetzt ist.« (100)

Höppner glaubt nicht mehr an Trost, auch an die Hoffnung nicht. Er traut weder Psyche noch Körper und ist auch von den Wissenschaften enttäuscht. Zwar ist ihm große Liebe widerfahren, aber diese treibt ihn nur noch mehr in die düsteren Gedanken. Was tut er seinen Nächsten an?

»Ich misstraute der Psychologie. Die Psychologie war mir zu tragisch. Biochemische Prozesse lösten ein Gefühl aus, die Psychologie nannte es Kränkung. Kränkungen bewirkten biochemische Prozesse usw. usf., ad inf. Ich misstraute der Soziologie. Ich misstraute dieser Larmoyanz. Das Individuelle wurde typisiert, wurde zurechtgebogen, bis es ins Klischee passte und ins Ressentiment und in die stimmige, ad hoc einleuchtende Geschichte. Legenden, Lügen, Bla, Theorie. Und wieder: Grobe Pinselstriche malten alles schön deutlich und klar. Pop-Art-Lebensläufe. Es war falsch, meine kranke Wahrnehmung mit einer statistisch belegbaren, größeren Ungerechtigkeit zu erklären. Die Fremdheit kam aus meinem eigenen Leben, aus meinem eigenen Scheitern.« (122)

Er verweigert sich der Typisierung und Diagnostizierung, der strukturellen Schuld. Alle Disziplinen haben eine andere Erklärung für seine Lage parat: Die Psychologie meint Depression und (vererbtes) Trauma, die Soziologie ruft Prekariat und Heimatlosigkeit, die Medizin diagnostiziert Disposition und genetische Vorbelastung. Diese Schemata allesamt abzulehnen ist Höppners Versuch der Selbstermächtigung, sich seine Krankheit, seine Lage, seine Gefühle wieder zu eigen zu machen und selbst Verantwortung dafür zu übernehmen. Seine Schlussfolgerung ist allerdings tragisch, Höppner gibt sich den (Selbst-)Mordfantasien hin.

»Depression war keine Diagnose. Wenn ich das Wort aussprach, erschuf ich das Bezeichnete erst. Wenn ich das Wort aussprach, verwandelte ich das Gefühl in ein Urteil. Erst die Vollstreckung des Urteils würde dem Gefühl ein Ende machen. Die Kapitulation vor dem Schwarzen Gott.« (123)

 

 

Shades of Black

»Serpentinen« ist in jeder Faser ein düsteres Buch. Ein Buch über das Vatersein als schwere Aufgabe und Bürde, aber auch als Selbstverständlichkeit, großes Geschenk, als Schuld, Chance oder Hoffnung:

»Es stimmte nicht, dass mein Vater nicht leben wollte, weil ich nicht genügte. In Wirklichkeit war es viel leichter. WIE ich war, war für ihn ohne Bedeutung. Das war meine Freiheit. In Wirklichkeit war es viel schwerer. Bereits DASS es mich gab, war für ihn ohne Bedeutung. Das war mein Schmerz. Ich war für den Vater: NICHTS. Der Junge war für mich: ALLES.«

Ein Buch über das Warum – den fehlenden Sinn der Existenz und dagegen die Obsession der Therapeuten, dass es auf alles eine Antwort geben muss:

»Ich wusste nicht, warum er sich das Leben genommen hatte. Ich hätte nicht einmal sagen können, warum ich mir selbst das Leben nahm. Oder nicht nahm. Es war seltsam, dass es dafür einen Grund geben sollte. Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre.« (202)

»Einzelheiten ohne Sinn. Bruchstücke, die kein Bild ergaben.« (60)

Diese trübsinnige Geschichte, die nur wenige Tage auf Heimaturlaub umfasst, kleidet Bov Bjerg in düstere Gedankenkaskaden, steile Klippen, klaffende Brüche, Risse und Haken schlagende Serpentinen. Besonders den Anfang, ca. 60 Seiten lang, gestaltet er so, dass der Roman formal mutwillig verstellt wirkt. Man muss sich hineinkämpfen in diese Geschichte, die erst sehr spät eine vorsichtige Anknüpfung an den Vorgängerroman zulässt.

Schwer wiegt, dass der geliebte Sound aus »Auerhaus« so gar nicht mehr aufscheint. Natürlich handelt es sich nun zwar um denselben, aber längst nicht den gleichen Protagonisten – ein erwachsener und resignierter Depressiver mit Angst- und Wutattacken, der sich nur sehr schwer mit dem Höppner des Prequels zusammenbringen lässt.

Erzählt wird in »Serpentinen«, stark sprunghaft, elliptisch bis hin zum unverständlichen Stakkato, verstellte Sätze, verquere Gedankenfetzen. Höppner als Protagonist ist nicht einfach schwer einzuschätzen, sondern bleibt unverständlich, kaputt. Nie wird auf direktem Wege ausgesprochen, was verhandelt wird und immer wieder ertönt die Frage des Sohnes, die stellvertretend für die Leserschaft fragt: »Um was geht es?«

Bjerg stellt eine verstörend enge Verbindung zu seinem wahnhaften Protagonisten her und trotzdem wird kaum Mitleid erregt. Bei aller Nähe zu Höppners Gedanken wird dennoch bewusst Distanz gewahrt, Distanz zum Geschehen und zu den anderen Figuren, die auch alle keinen Namen erhalten, Distanz zum Protagonisten selbst. Ein Monolog-lastiger, stark artifiziell bearbeiteter Bericht, aus dem sich nur wenig Handlung und Zusammenhänge herauskristallisieren. Ohne Frage ein erschütternder und kraftvoller Text, aber streckenweise doch zu verkopft, unzugänglich und die ganze Zeit über bedrückend und nur schwer erträglich.

Es ist tragisch, ja fast abstoßend und unerträglich, Höppners Gedanken ausgeliefert zu sein, die häufig versprengte Stückchen eines Gefühlsteppichs sind, den man in der Lektüre rekonstruieren muss. Eine düstere Vorahnung wird heraufbeschworen und bis ins Schmerzhafte gesteigert und gedehnt. Es macht beileibe keinen Spaß, diesen Roman zu lesen (im Gegensatz zu »Auerhaus«), aber wenn man fair ist und den Schock darüber überwunden hat, dass es so ganz anders ist als das, was man erwartet hat, muss man dem Buch seine Qualitäten zugestehen. Enorm atmosphärisch, kraftvoll und formal aufwändig konstruiert Bjerg diese Geschichte und beweist ein Händchen dafür, hübsche poetische, individuelle Leitmotive – kleine Details – einzuflechten, die einem immer wieder begegnen und die Erzählung zusammenhalten. Dennoch hätte ich mir weniger Reflexion und mehr Erleben gewünscht, etwas weniger karge Sprunggedanken, auch wenn sie ihre Berechtigung in der Figur finden.

In »Serpentinen« verleiht Bjerg dem Protagonisten aus »Auerhaus« sowohl Vergangenheit als auch Zukunft, wobei diese nicht so recht zu der Figur zu passen scheinen, die man bereits kennengelernt hatte. All das legt die Vermutung nahe, dass sich der Autor keinen Gefallen getan hat mit der Anlehnung an den beliebten Vorgängertitel und ein eigenständiger Kosmos für dieses Buch besser funktioniert hätte – auch, wenn sich viele danach gesehnt haben, Frieder und dem jungen Höppner wieder zu begegnen.

Denn diese Fortsetzung ist kein tragikomischer, unterhaltsamer Roadtrip mit herzerwärmenden, kumpeligen Vater-Sohn-Geschichten, wie man annehmen könnte, und auch kein dramatisches Familienportrait, wo ähnlich wie in »Auerhaus« um Höppners Seelenheil gerungen und er in Situationen aus Liebe, Freundschaft und Lebensfreude geschupst wird. Im Gegenteil: Höppner kämpft hier den einsamsten und stillsten Kampf überhaupt – um sich, sein Leben und nur in Gedanken.

 

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»Serpentinen« von Bov Bjerg umfasst 272 Seiten, erschien am 28.01.2020 bei Claassen und kostet im Hardcover 22,00 €.

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