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Jennifer Clement »Gun Love«

»Wusstest du, dass für jeden Menschen auf der Welt zwei Kugeln existieren?« (S. 152)

Der neue Roman der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement spürt einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung irgendwo im Hinterland von Florida nach, die durch einen Mann und seine Pistolen gefährdet wird. Das Setting erinnert sehr an Sean Bakers Kinofilm »The Florida Project«.

»Ich? Ich wuchs in einem Auto auf, und wenn man in einem Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen.«

Die kleine Pearl lebt seit der Geburt mit ihrer Mutter in einem Auto am Rande eines Trailerparks in einer Wohnwagensiedlung. Auch wenn sie in prekären Verhältnissen aufwächst, mit der ständigen Angst an das Jugendamt verraten zu werden, lebt sie mit ihrer Mutter doch im Hier und Jetzt einer zauberhaft verträumten, heilen Welt. Im Inneren des Ford Mercury wirken andere Kräfte als in der irrsinnigen Welt da draußen voller Waffennarren, Gefahr, Gewalt und Hass. Die Erzählung ist besonders geprägt durch den traumwandlerischen Blick der beiden, durchzogen von Passagen aus Lovesongs und in einer lyrisch-dichten Sprache, durch die die Geschichte stark gewinnt. Während Pearl zurückgezogen in einer romantisierten radikalen Einfachheit und in mütterlicher Geborgenheit lebt, herrscht um sie herum Endzeitstimmung – der nahe Fluss und die Luft sind vergiftet durch Chemieabfälle, die mutierte Tiere und kranke Menschen hervorbringen, die Hitze ist unerträglich und lauernde Alligatoren bedrohen den Alltagsfrieden. Waffen sind in diesem Teil des Landes allgegenwärtig, sei es für das Sicherheitsgefühl, zum Zeitvertreib oder als Handelsware. In diese lebensfeindliche Szenerie, in der sich Stück für Stück eine dramatische Schicksalsgeschichte entwickelt, streut Clement feinen Witz und skurrile Bilder.

Blut, zäh wie Zuckersirup

»Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen. / Meine Mutter war so süß, ihre Hände klebten immer wie nach einem Kindergeburtstag. Ihr Atem roch nach den fünf Geschmacksrichtungen der Life-Savers-Bonbons.« (S. 9)

Dieser Kontrast einer zuckersüßen Mutter, die Liebeslieder trällernd, mit kindlich-elfenhaftem Wesen vollkommen an der Gabe einer röntgengleichen Empathie erkrankt ist, in der Obdachlosigkeit und in einer Umgebung, die geprägt ist von schusswütigen Waffennarren und von der Gefahr durch bissige Reptilienriesen und die nahegelegene verseuchte Müllkippe, erzeugt eine fortwährende Spannung und ein interessantes Oszillieren der Geschichte. Clement erzählt von einer Welt, die den Waffen verfallen ist –, wo das Bedrohen, Anvisieren und Schießen zum Alltag gehört, wo sich Pistolen anstelle von Kuscheltieren im Bett stapeln, Patronen geheimnisvoll am Grund des Wassers glitzern und die Schrotflinte statt der Handtasche auf dem Weg zum Gottesdienst geschultert wird.

»Die Leute hier machten gern Schießübungen. Irgendwer hatte immer den Finger am Abzug. (…) In diesem Teil von Florida bekamen Dinge schnell mal eine Kugel verpasst, einfach nur so.« (S. 17)

In den USA befinden sich so viele Waffen und werden täglich so viele Menschen erschossen wie in einem Bürgerkriegsland, außerdem werden hier mehr als 100.000 Menschen vermisst. Nirgendwo sonst ist das Waffengesetz so locker und die Waffenlobby so stark. Trotz unzähliger Berichte über Katastrophen, Unfälle, Amokläufe, Anschläge, Schwarzhandel, Mafia, Bandenkriminalität und Selbstjustiz, ist das Cowboy-Image noch immer lebendig, bedeuten Waffen für die meisten Freiheit und Sicherheit – erstrebenswerte Ideale, gutes Recht und Grundfeiler einer funktionierenden Gesellschaft. Clement erfasst mit »Gun Love« das Lebensgefühl und Stimmungsbild einer Nation.

 

»Aber das Süße sehnt sich nach dem Bösen«

Pearl ist eine besondere Protagonistin. Sie ist kleinwüchsig – in etwa so groß wie ein Jagdgewehr –, kleptomanisch und so hell wie ein Albino. Ohne Besitz und bald auch ohne Bezugspersonen ist sie wie eine Insel, hat nichts außer dem Talent ihrer Mutter, in Menschen wie in Häuser hineinsehen zu können. Die beiden können Abwesende oder Tote sprechen zu hören, Tiergeister spüren und Psychen wie möblierte Zimmer betrachten.

»Meine Mutter konnte in Menschen hineinsehen und zerbrochenes Glas sehen. Sie sah die Scherben und die Flaschen voller Tränen.« (S. 25)

Sowohl Pearl als auch ihre Mutter Margot weisen eigensinnige, poetisch anmutende Eigenheiten auf. Sie sind Träumerinnen und Ausreißerinnen. Doch ein einziger Mensch, die große Ausnahme von ihrer Gabe, reicht aus, um ihre Welt zum Einsturz zu bringen. In Eli, dem notorischen Lügner und Berufs-Betrüger, können sie nichts sehen. Er ist es, der das Schlechte in Pearls Leben bringt: die Einsamkeit, Vernachlässigung, Streit und schließlich den Tod.

 

»Jeder auf dem Platz verkaufte etwas oder versprach etwas oder träumte etwas. Niemand glaubte an etwas. Das hatte man schnell durchschaut.« (S. 68)

Großartig wird das Obdachlosenleben im Trailerpark geschildert. Alle Bewohner erscheinen einem als liebenswürdige Durchgeknallte, ob sie nun auf Barbiepuppen, Mutproben oder Tex Mex-Popstars stehen. Die Autorin streut immer wieder ergreifende Details in den Plot ein, wie zum Beispiel, dass Pearl noch nie eine Tür geöffnet hat, durch die sie nicht schauen kann, und beweist ein gutes Gespür für psychologische Feinheiten. Dabei werden auch erschreckende Geschichten sachlich erzählt, wie beiläufig eingeflochten. So hat Margots Vater ihr zum Einschlafen nichts vorgelesen, sondern sie über den Gasherd gehalten, Pearl bekommt und raucht seit sie zehn ist Zigaretten und Sergeant Bob, Kriegsinvalide aus Afghanistan, zwingt seine Tochter auf einem erschossenem Hirsch zu ‚reiten‘. Es entsteht das Bild eines völlig abgedrehten und kaputten Amerikas.

Der Zigarettengott hat ein Herz für Waisenmädchen

»Wenn man im Auto lebte, tat man nur so, als wäre man keine Pennerin, die unter der Brücke schlief. In deren Augen war Obdachlosigkeit ansteckend.« (S. 23)

Pearls Mutter Margot wird – von ihren mit sich selbst beschäftigten Eltern unbemerkt – mit 17 Mutter und läuft ohne Schulabschluss aus ihrem reichen Elternhaus mit zu vielen Fliegenklatschen davon. Alles was sie hat, ist ihr Ford Mercury mit einem Kofferraum voller wertvoller Andenken an ihre gehobene Herkunft. Zurückgezogen baut sie sich mit ihrer kleinen Tochter Pearl eine Parallelwelt am Rande der Gesellschaft auf – das einzige, was sie noch mit der Realität der anderen verbindet, ist die Angst vor dem Jugendamt, denn ohne Geburtsurkunde und offizielle Adresse liegt ihre Existenz näher an der Illegalität als an der Alternativität. Besonders Pearl leidet unter den Vorurteilen der anderen, die sie reflexartig für Diebe, Entführer oder Junkies halten. Empört schreit die Kleine es heraus: Obdachlosigkeit ist kein Verbrechen!

Und doch ist »Gun Love« keiner dieser Romane, der sich mit seinem gut funktionierenden, atmosphärisch dichten Setting zufriedengibt, sondern auch spät noch für erschreckende Entwicklungen sorgt.

»Hätte meine Mutter bei uns auf der Rückbank gesessen, dann hätte sie gesagt, Du denkst, du kriegst deine Dosis Drama und das war’s. Du denkst, schlimmer kann es nicht kommen und dass du jetzt in Sicherheit bist. Aber Drama ist nicht wie Medizin. Das kriegst du nicht als Pille oder als Löffel voll. Drama haut richtig rein.« (S. 139)

Bereits mit 14 wird Pearl zum »Shoot«, zum Jugendamt-Notfall und Pflegekind. In 14 Jahren hat sie schon alles erlebt und gesehen. Ein paranoider Teenager, der für zwei Tage Unterschlupf in ihrem Mercury gefunden hat, beendet das Leben wie sie es kannte und macht Margot zur Märtyrerin ihrer eigenen Weltanschauung, die in jedem Täter auch das Opfer sehen will.

»Du willst mich erschießen, sagte sie.
Ja.
Ich nehme an, dann wird es so sein, sagte meine Mutter.
Ja, antwortete er. So verkündige ich auch Neues.
Ich wusste, dass meine Mutter ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, als er anfing zu feuern.
Meine Mutter wusste, dass er quer durch die USA getrampt war, von Kalifornien bis Florida, nur um herauszufinden, ob es in Amerika so etwas wie Liebe gab.
In seinem Inneren sah meine Mutter elektrische Eisenbahnen, Spielzeugtrucks, Halloweensüßigkeiten und Spielzeugwaffen, und eine Luftpistole, mit der man Vögel töten konnte.
Sie spürte den Sonnenbrand auf seinen Schultern.
Meine Mutter wusste, dass alles, was dieser junge Mann brauchte, Liebe war. Er brauchte ein Mädchen, das ihn bei der Hand nahm und zu sich ins Bett zog.
Es gab keine Liebe in Amerika.« (S. 128f.)

 

Die Liebe zur Waffe – Liebe als Waffe

»Gun Love« führt auf subtile Art die Mechanismen und Kehrseite der Verherrlichung von Waffen vor. Nicht nur die Waffenliebe, die mit dem Freiheitsbegriff verknüpft wird, in der Realität aber nur Leid und Abhängigkeit wie das Licht die Motten anzieht, nimmt einen zentralen Platz in dieser Geschichte ein, sondern auch die Liebe als Waffe, wenn Eli sich Pearls Platz im Mercury ergaunert, um sein illegales Waffengeschäft aufzuziehen. Ganz deutlich wird hier der Kern des Problems deutlich: Die systematische kausale Entkoppelung der Sphären Waffen und Töten – die Werkzeuge des Todes werden zur alltäglichen Ware, zum rentablen Geschäft –, eine Verbindung, die Pearl für den Leser überdeutlich miterlebbar wieder herstellt.

Auf schaurige Art führt Clement Waffen und Romantik eng und kreiert immer wieder makabre Zusammenhänge. So werden wir Zeuge der tragischen Verwicklung eines Waffenopfers in Waffengeschäfte, außerdem beleuchtet der Roman Waffennarren in einer Gegend, die vom Veteranenkrankenhaus als wichtigstem Arbeitgeber abhängt. Besonders groß ist der Zynismus allerdings, wenn Pastor Rex sein Anti-Gewalt-Programm nutzt, um seine Waffenschmuggelgeschäfte zu decken. Immer ist im Waffenmilieu auch der Drogenhandel und das Elend nicht weit. Ein Teufelskreis der Aufrüstung, bis wir irgendwann buchstäblich unter Waffenbergen begraben liegen.

 

Fazit: »Wähl niemals den Notruf, kauf dir eine Waffe!«

Jennifer Clement gelingt ein großartig geschriebener und gewichtiger Roman über Mutterliebe und Hoffnung in einer Welt, die die Sprache von Waffen und Gewalt bereitwillig annimmt –, sprachlich stark und eigenwillig, wenn sie es auch mit den neologistischen Substantivreihen hier und da etwas übertreibt. Mit Pearl und Magot kann man einen zauberhaften Blick auf unsere grausame Welt erhaschen. Das grandiose Cover bringt die zwei im toten Fluss lauernden Grundgefahren der Wohnwagensiedler auf den Punkt: bissig und schusswütig. Diese abgründigen und tragischen Schicksale berühren ganz besonders, weil Pearl als Reflektorfigur alles als normal und selbstverständlich wahrnimmt. Gern hätte der Roman noch etwas länger sein dürfen, besonders das Ende kommt doch sehr rasch.

»Und ich hörte meine Mutter, ihre Worte klangen wie das Amen nach einem Gebet, sie sagte, Unglück ist immer noch besser als gar kein Glück.« (S. 236)

Eindrucksvoll wird die Logik der Bewaffnung und die Tragik dahinter vorgeführt, die Waffe als unschlagbares Argument, ohne die die Welt nicht auskommt. Ein latentes Misstrauen und Unsicherheitsgefühl werden geschürt, Knarren, Gewehre, Pistolen zum Glauben, zur Freiheit stilisiert. Wenn alle Waffen haben, was sie potenziell gefährlich macht, brauche ich auch eine! Das heilige Mantra beim Schießtraining: Du willst, dass etwas Gutes mit deiner Kugel passiert, du bist im Recht. Besonders erschreckend ist der Versuch der Waffenlobby, bereits Kinder für sich zu gewinnen, ob nun mit Waffenausmalbüchern, schussfähigen Kinderpistolen oder Waffenmärchen, angelehnt an die Grimm’schen, frei nach dem Motto: Wäre es Hänsel und Gretel nicht besser ergangen, wenn sie eine Schrotflinte dabei gehabt hätten…?

 

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»Gun Love« von Jennifer Clement, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, umfasst 251 Seiten, erschien am 10.09.2018 bei Suhrkamp und kostet als Hardcover 22,00 €.

 

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