Literatur
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Elena Ferrante
»Die Geschichte eines neuen Namens«

»Die Geschichte eines neuen Namens« ist nach »Meine geniale Freundin« der zweite Band der neapolitanischen Saga um die beiden Freundinnen Elena und Lila. Können angelegte Potenziale nun besser ausgeschöpft und Schwächen ausgebügelt werden?

Bei dem neuen, oder besser verlorenen, Namen, auf den der Buchtitel anspielt, handelt es sich um Lilas Nachnamen. Von der kleinen wilden Cerullo darf nach ihrer Hochzeit nichts mehr in Signora Carracci übrigbleiben. Der neue Nachname steht für ihre verlorene Identität und Eigenständigkeit, denn nun soll sie so sein, wie der Unternehmer Stefano Carracci sich seine Frau vorstellt.

Als klar wird, dass Stefano hinter dem Rücken seiner Verlobten mit den Solaras in Kontakt stand und Geschäfte mit ihnen gemacht, ja sogar Lilas heiligen Schuhprototypen verkauft hat, kommen in Elena die schlimmsten Flucht- und Gewaltfantasien auf. Ihr Hass auf den Rione und seine eigene Politik aus krummen Geschäften und Verstrickungen schweißt sie zwangsläufig mit Lila zusammen. Eine gemeinsame Flucht aus diesem dunklen Loch ihrer Kindheit ist die einzige richtige Reaktion. Oder?

»Ja, ich spürte, dass ich mir das wünschte, ich wollte, dass das geschah. Schluss mit der Liebe und diesem unerträglichen Fest, nichts da mit Umarmungen in einem Bett in Amalfi! Unverzüglich alles im Rione zerschlagen, Menschen und Dinge, alles niedermetzeln, weglaufen, Lila und ich, weit fort, und mit fröhlicher Verschwendung gemeinsam alle Stufen der Verworfenheit nach unten steigen, wir beide allein, in fremden Städten. Das schien mir das richtige Ende für diesen Tag zu sein. Wenn nichts uns retten konnte, kein Geld, kein männlicher Körper und nicht einmal die Schule, dann konnte man auch gleich alles zunichtemachen.« (S. 20f.)

Doch Lila wäre nicht sie, wenn sie nicht unberechenbar bliebe. Entgegen des Lesers und Elenas Wunsch fügt sie sich gegenüber Stefano und in ihr neues Leben. Doch wütend ist sie schon und ihre Erniedrigung lässt sie an allen aus, auch an Elena.

»›Verdrehte Dinge biegt man zurecht.‹« (S. 23)

Schnell fällt Stefanos charmante Maske. Es wird klar, dass die verknallte Lila sich in ihm getäuscht hat. Für Stefano steht das Geld und seine Geschäfte über allem und wenn Lila nicht die zauberhafte Signora spielt, ist er sogar fähig sie zu schlagen und zu misshandeln. Der dämonische Don Achille, sein Vater, bricht dann aus ihm wie aus einer Hülle hervor.

»[…], was du tust, tue ich auch, du kannst mich nicht abhängen.« (S. 31)

Elena ist derweil wieder in ihr altbekanntes Konkurrenzschemadenken verfallen. Daher rührt auch ihre Faszination für Nino, der »asketisch[e] Prinz« (S. 75), weil er so gar nicht in den Kategorien des Rione lebt, alles abgeschüttelt hat und nur noch in die Intellektuellenwelt gehört.

Erneut und auch lägst nicht zum letzten Mal kämpfen in Elena widersprüchliche Empfindungen. Ist es Anmaßung und Überheblichkeit von ihr den Weg der Bildung weiterzugehen? Ist sie gut genug? Ein gewohnt extremes Auf und Ab in der Freundschaft zu Lila und Elenas Selbstwertgefühl stellt sich auch im zweiten Teil der Saga schnell wieder ein und ist etwas ermüdend.

Die einäugige Göttin der Selbstzerstörung

Die Rangeleien der männlichen Rione-Bewohner um ihren Anspruch und Einfluss auf Lila manifestiert sich in einem symbolischen Streit um die Verfügung über ihr Hochzeitsfoto. Um sich nicht länger wie eine weitergereichte Puppe und bloßen Besitz zu fühlen, setzt Lila ein visuelles Statement. Sie willigt in die prominente Ausstellung einer Großaufnahme von sich ein, allerdings in avantgardistischer Bearbeitung.

»Lila war nicht mehr zu erkennen. Was blieb, war eine verführerische, schreckliche Gestalt, das Bild einer einäugigen Göttin, die ihre gut beschuhten Füße mitten in den Raum stieß.« (S. 162)

Diese Selbstzerstörungswut manifestiert sich immer mehr auch in Lilas Verhalten, ihre Freunde zu piesacken und von sich zu stoßen. Überhaupt rückt der zweite Ferrante-Roman Lila häufig in ein schlechtes Licht: Sie lässt eigene Zweifel und Wut an anderen aus, ist manipulativ, falsch und zergeht in Eigenhass, indem sie sich über die anderen stellt. Als sie dann nicht schwanger werden kann und eine frühe Fehlgeburt erleidet, wird sie vom Rione mit Teufelsattributen versehen.

Der schreckliche ewige Kreis

»›Vor allem war es eine Möglichkeit‹, sagte sie plötzlich, ›dir zu beweisen, dass ich etwas gut konnte, auch wenn ich nicht mehr zur Schule ging.‹« (S. 186)

Durch den ganzen Roman, wie es scheint sogar durch die gesamte Romanreihe, zieht sich eine zwickmühlenartige, verzweifelte und für den Leser frustrierende, ewige Bewegung: Ein ständiges Wegstoßen und Anlocken, aus dem Weg-Gehen und Nachlaufen. Diese gegenläufigen Bewegungen wechseln sich unkoordiniert ab und kollidieren miteinander. Besonders Elena leidet sehr unter ihren sich widersprechenden Empfindungen für Lila.

»Ich betrüge euch alle, ich betrüge beim Abwiegen und bei tausend anderen Dingen, ich betrüge den Rione, du darfst mir nicht trauen, Lenù, du darfst dem, was ich sage und tue, nicht trauen.« (S. 186f.)

»Lila, Lila: Sie wollte über die Stränge schlagen und uns alle mit ihren Exzessen quälen.« (S. 222)

Der Frauenarzt verordnet Lila aufgrund ihrer Jugend und Schwäche eine Auszeit, einen Meeresurlaub, um zu Kräften zu kommen und doch noch schwanger zu werden. Elena, die Lila gern dabei haben möchte und dafür sogar bezahlt, überredet sie den Urlaub auf der ihr wohlbekannten Ischia-Insel zu verbringen, in der Gewissheit, dort Nino zu begegnen.

Es folgt eine quälende fast 200 Seiten lange Widergabe des einmonatigen Urlaubs auf Ischia, was knapp einem Drittel des ganzen Romans entspricht. Die beiden Freundinnen werden von der schwangeren Pinù und Lilas Mutter Nunzia, als Aufpasserin, begleitet. Kurz gesagt: Elena dackelt Nino hinterher, die sich auch näher kommen, während die schwangere Pinù sich in Ninos Freund Bruno, den Mortadellafabrik-Erben, verknallt. Lila aber kann Nino durch ihre Art, gerade heraus zu reden, beeindrucken und lässt sich schließlich sogar auf eine offene Urlaubsaffaire ein. Diese findet aber ein jähes Ende, als Stefano davon Wind bekommt.

»›Dein ganzes Leben lang liebst du Menschen, von denen du nie wirklich weißt, wer sie sind.‹« (S. 282)

Desillusioniert und rasend vor Verlangen, will er die Uni abbrechen und Lila erobern. Für beide ist es die wahre Liebe, die einen zu jeder Verrücktheit bereit macht und alles infrage stellt. Eigentlich ist diese Entwicklung tragisch-schön, besonders, da sie offenbart, wie unglücklich und eingesperrt Lila in ihrer Ehe ist, die sie als ein langsames Sterben empfindet. Doch man sieht die Ereignisse durch Elenas Eifersuchtsbrille und leidet mit der Verschmähten mit und verabscheut beide Liebenden.

Wir befinden uns noch in einer erzkonservativen Zeit, in der eine Scheidung nicht denkbar ist! Deshalb sieht Lila keinen anderen Ausweg, als ihre Ehe zu zerstören, Signora Carracci zu verstümmeln wie sie zuvor ihr Hochzeitsbild schon zerschnitten hatte.

»Ich betrachtete sie [Lila und Nino] von Zeit zu Zeit wie gefallene Götter. Einst so brillant, so intelligent und nun so dumm, verwickelt in ein dummes Spiel.« (S. 329)

Alles geht den Bach runter…

In einer wahren Abwärtsspirale trudeln die Leben der Rione-Bewohner Richtung Abgrund. Die Solaras klauen die Cerullo-Schuhdesigns und beginnen, Konkurrenzreihen zu produzieren, was Stefano und Rino wirtschaftlich in den Ruin treibt. Beide betrogenen Geschäftsmänner zerstören in ihrer Frustration ihre Ehen, sie schlagen ihre Frauen und stürzen mehrere Familien ins Unglück. Lila kehrt nach dem Urlaub zwar in ihr altes Leben zurück, setzt aber ihre Affaire mit Nino heimlich fort und wird schließlich von ihm schwanger. Stefano allerdings glaubt an seine Vaterschaft und will seine ruinierte, von Hass geprägte Ehe um jeden Preis fortsetzen, sodass Lila keinen anderen Ausweg sieht, als ihn zu verlassen. Eine Weile lebt sie glücklich mit Nino in einem gemeinsamen Liebesnest, doch ihre Lage scheint ausweglos. Das Geld geht ihnen aus, Streitereien fangen an und schließlich werden sie aufgespürt.

»›Weil ich gelesen habe, dass sich alles, was wir sind, gleich in den ersten Lebensjahren entscheidet.‹« (S. 507)

Die scheinbar gebrochene Lila lebt nun nur noch für ihr Kind, das sie nach ihrem Bruder Rinuccio nennt, in ihrer eigenen Welt und setzt alles daran, ihm die bestmögliche Erziehung und Bildung zukommen zu lassen. Er soll ein besseres Leben vor sich haben, an das sie für sich schon nicht mehr glaubt.

 

 

Elena hat es derweil über ein Unistipendium an ein Collegio in Pisa geschafft und macht dort ein Diplom in Philologie mit Bestnote. Doch ihr Leben ändert sich gravierend, als sie sich mit Pietro verlobt, ein Professorenkind aus angesehenem Hause, selbst mit 23 Dottoressa wird und ihre Schwiegermutter in Spe ihre Beziehungen nutzt, um Elenas ersten Roman zu veröffentlichen.

Lila schafft derweil den endgültigen Absprung aus dem Rione. Um sich und ihrem Sohn eine eigene Wohnung finanzieren zu können, fängt sie an, in der Wurstfabrik von Brunos Vater zu arbeiten.

»Arbeiter und Arbeiterinnen schienen in einer finsteren Gleichgültigkeit gefangen zu sein, selbst wenn sie lachten oder sich lauthals beschimpften, wirkten sie weit weg von ihrem Gelächter, von ihren Stimmen, von der Pampe, die sie bearbeiteten, vom Gestank.« (S. 611)

Als Elena Lila an ihrem neuen Arbeitsplatz besucht, bietet sich ihr eine schockierende Szenerie, die Lilas krassen Niedergang widerspiegelt: Fließbandarbeit, Erniedrigung und Armut, gepaart mit einem perversen grausamen Chef; Lila ist ganz unten angekommen, sie redet vulgär, ist gefühlskalt.

»Ja, es ist Lila, die mein Schreiben mühsam macht. […] Und ihr Leben taucht beständig in meinem auf, in den Worten, die ich gesagt habe und in denen häufig ihre Worte widerklingen; in jener entschlossenen Geste, die eine Nachahmung einer ihrer Gesten ist; in meinem Weniger, das als solches wegen ihres Mehr da ist; in meinem Mehr, das die Umkehrung ihres Weniger ist. Ganz zu schweigen von dem, was sie nie gesagt hat, mir aber zu verstehen gegeben hat, dem, was ich nicht wusste, aber später in ihren Schreibheften las. Und so muss meine Schilderung der Ereignisse Filter, Verweise, Halbwahrheiten und halbe Lügen einrechnen: Daraus ergibt sich eine ganz auf das ungewisse Maß der Worte gegründete, aufreibende Messung der vergangenen Zeit. « (S. 444)

Die kommentarlose Einstreuung von historischen und politischen Kontexten des ersten Romans wird weiter aufgearbeitet. Besonders durch Nino, dessen Einstellung links-kommunistisch ist, werden nun große Positionen und politisches Grundvokabular endlich etwas mehr mit Inhalt gefüllt, allerdings wieder nur mit Stichworten wie Studentenaufstände, Pazifismus, Polizeigewalt, Dezentralisierung, Autonomie, Wirtschaftsplanung usw.

Der gravierendste Kritikpunkt, dem sich der Fortsetzungsroman nicht entziehen kann, ist die Dauerschleife an Themen und Problemen, das ewige Auf und Ab der Freundschaft und Liebschaften, ein extremes und beinahe unerträgliches, ja soaphaftes Hin und Her, das von Skandalen, Schicksalsschlägen, Intrigen, Feindseligkeiten, Neidern erzählt, und den Leser nicht nur nervt und auf Dauer langweilt, sondern auch enttäuscht. Enttäuscht, da keinerlei Entwicklung (der Figuren) gegenüber dem Auftaktroman zu erkennen ist. Die Themen wiederholen sich nicht nur ständig, sondern sind auch schon bestens aus »Meine geniale Freundin« bekannt. Besonders frustrierend ist hierbei das ewige Konkurrenzdenken zwischen Lila und Elena, das die Freundschaft immer wieder vergiftet und vorläufige Brüche herbeiführt.

»Ich begriff, dass ich voller Überheblichkeit dort hingekommen war, und erkannte, dass ich – durchaus in guter Absicht und voller Zuneigung – diese ganze Fahrt vor allem unternommen hatte, um ihr zu zeigen, was sie verloren und was ich gewonnen hatte. Aber das hatte sie bereits in dem Moment erkannt, als ich vor ihr auftauchte, und nun, auf die Gefahr hin, sich Reibereien mit ihren Arbeitskollegen und Geldstrafen einzuhandeln, reagierte sie, indem sie mir praktisch erklärte, dass ich gar nichts gewonnen hatte, dass es auf der Welt überhaupt nichts zu gewinnen gab, dass ihr Leben genauso wie meines voller außergewöhnlicher und unsinniger Abenteuer war und dass die Zeit ganz einfach ohne jeden Sinn verrann und es nur schön war, sich hin und wieder zu sehen, um den verrückten Klang des Gehirns der einen als Echo im verrückten Klang des Gehirns der anderen zu hören.« (S. 617)

Fazit

Leider schleichen sich in diesem zweiten Teil der Neapel-Reihe einige Fehler ein. Vertauschte Pronomen und Namen, Ungenauigkeiten, missverständliche oder unsaubere Formulierungen sind nicht nur ärgerlich, sondern zeugen auch davon, dass die Autorin ihrer enorm breit und komplex angelegten Geschichte nicht so recht gewachsen ist.

Enttäuschend ist auch, dass keine nennenswerten neuen Ideen und Grundkonflikte eingeführt werden und die Figuren sich nicht wirklich entwickeln, sodass die Geduld des Lesers aufgebraucht wird. Da hat sich auch kein peppiger Cliffhanger mehr finden können, um auf die nächsten zwei Folgeromane heiß zu machen.

Zwar schafft es Elena Ferrante hin und wieder noch, ihr Erzähltalent unter Beweis zu stellen und hier und da gelingt ihr eine schöne Wendung, ein kluger Einfall oder eine gelungene Metapher. Im Großen und Ganzen jedoch ermüden die so sehr überhöhten Verwickelungen, die minutiös auserzählt werden und keine sympathischen Figuren in diesem Gruselkabinett übrig lassen.

»Die Geschichte eines neuen Namens« ist der zweite Roman in Elena Ferrantes neapolitanischer Saga und folgte auf »Meine geniale Freundin«. Der Fortsetzungsroman ist im Frühjahr 2017 beim Suhrkamp Verlag auf 624 Seiten erschienen und kostet 22,00 €.

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