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»Es war einmal Indianerland« (Film) –
Coming-of-Age mal anders?!

»Und das bist du: der Lärm in deinem Kopf.«

Mauser ist 17 und kommt aus einem Hochhausviertel am Stadtrand von Hamburg. Sein Leben wird geprägt von unverputzten Brutalismus-Platten-Fassaden, Gewalt, Kriminalität und Konkurrenz unter den Ghetto-Kids. Um dieser Großstadt-Tristesse zu entfliehen, macht Mauser das Boxen zu seiner Welt. Doch alles gerät schließlich aus den Fugen, als er sich auf einer Party im Schwimmbad in die so schöne wie aufregende Jackie verliebt. Doch was seine Welt so richtig zum Einstürzen bringt, ist, als Kondor, sein bester Freund aus dem Viertel, ihm den Krieg erklärt und zum Duell herausfordert – im Boxring selbstverständlich – und dann auch noch Mausers Vater Zöllner verschwindet, nachdem er im Streit seine Freundin erwürgt hat. Die große Suche führt ihn zusammen mit Edda, der sonderbaren Videotheks-Aushilfskraft, auf ein Musikfestival an der polnischen Grenze: Eine ungewöhnliche Kombination aus dem Versuch, seinen kriminellen, flüchtig gewordenen Vater zu stellen und einem großen, mit Glitter kandierten Drogenrausch als Reise auf den Wellen der Elektromusik ins innere Ich. Und schließlich muss Mauser sich entscheiden…

»Denn diese Generation ist besser als ihr Ruf.«

Beeindruckende, starke Bilder, ein treibender Sound, gelungene Ästhetik. Der Film funktioniert von Anfang an sehr gut. Ziemlich retro, anhand einer Art Kassetten-Spul-Optik wird sprunghaft aus Mausers Leben erzählt. Von Jacky auf dem Sprungturm im Schwimmbad, für die er sich mit einer Scherbe die Nummer in den Arm ritzt. Aber auch von Edda, die erfrischend anders ist und Mauser über Postkarten-Nachrichten zum Grübeln bringt. Und dass die Geschichte sich nicht in die schier unendliche Reihe an Berlin-Hymnen reiht, finde ich sehr angenehm. Die aufgebotenen Schauspieler und entworfenen Rollen funktionieren jedenfalls, sie wirken stimmig und hip, aber nicht zu arg schablonenhaft.

Ein junger Rocky, der an den Abgrund seiner kleinen, deprimierenden Welt geführt wird. Ein Junge, der erwachsen werden muss.

»So wach warst du noch nie.«

Geschickt verknüpft der Film Mikro- und Makrowelten, denn es geht um alles: Wer man ist, wer man sein kann, was richtig und wahr ist und was könnte. Wie sehr einen Familie und Herkunft definieren. Aufnahmen des Kosmos, der Milchstraße und wie alles auf Moleküle zurückgeht und in sie zerfällt – der Gedanke drängt sich auf, dass man nichts und alles zugleich ist, dass alles zusammenhängt und auch ganz anders sein könnte.

»Wer sagt mir, dass das alles kein Traum ist?«

Der Fluchtpunkt des Films ist im wahrsten Sinne das PowWow-Festival an der Grenze, alles läuft auf dieses skurrile Showdown hinaus und verdichtet sich. Denn das PowWow ist zugleich schillernde, anarchische Party und Fluchtweg eines Kriminellen, Mausers Vater, den er hofft, hier zur Rede stellen zu können. In vielerlei Hinsicht ist dieses Festival an der Grenze sogar grenzüberschreitend und mutet surreal an, wenn ein biblisches Unwetter aufzieht…

»Hier kannst du nur finden.«

Der Wilde Westen als Kontrastfolie

Der gesamte Film wimmelt nur so von skurrilen Details wie beispielsweise der ominösen Bohrmaschine getarnt als rotes Erste Hilfe-Köfferchen, den Mauser mit auf Reisen nimmt. Doch noch fragwürdiger sind die zwei Leitmotive, die Edda und Mauser stets begleiten: Der Indianer und das Wildschwein. Erst verunsichert über Bedeutung und Konnotation, stellen sie sich dann als eine Art Totem dar, als Seelenspiegelung und in gewisser Weise auch als Sinnbild der Familienbande. Mit dem Tod und anschließender Seebestattung der Totems, können die beiden loslassen, sich emanzipieren und auf sich selbst besinnen. Symbolisch wird vorgeführt, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Mauser ist an einem Punkt angekommen, von dem aus er sein Leben ändern und neu bestimmen kann, vor allem aber müssen drängende Entscheidungen getroffen werden. Und so wählt er eines der beiden Mädchen und entschließt sich, den großen Box-Wettbewerb, auf den er so lange zusammen mit seinem Vater hin trainiert hat, zu verlieren.

»Das Wildschwein ist der Bison des kleinen Mannes.«

Die Tatsache, dass Mauser sich in einer Welt des Wilden Westens mit einem Indianer und eben nicht – wie in den meisten Filmen – mit den Cowboys identifiziert, macht ihn zum tragischen Helden, der eine Verletzlichkeit, ein Opfer als spirituellen Kern in sich trägt.

Die Coming-of-Age-Story

Warum gefällt uns die Coming-of-Age-Story so sehr? Warum lesen wir so gerne von orientierungslosen, verunsicherten Jugendlichen, auch und besonders, wenn wir diesem Alter längst entwachsen sind? Weil wir uns gern an diese Jahre zurück erinnern, sie idealisieren. Es ist eine Zeit der Möglichkeiten, in die wir gern zurückkehren würden. Eine Zeit, in der noch alle Entscheidungen möglich sind, in der wir wild, verantwortungslos, idealistisch, träumerisch und impulsiv sein und uns völlig neu erfinden können. Das Leben liegt noch vor einem und die ganze Welt steht uns offen. Zumindest scheint es so.

»Es war einmal Indianerland« nun also auch ein Coming-of-Age-Drama: Großstadtmief, Liebeswirren, ein planloser Anti-Held und natürlich Drogenexzesse. Leider kennt man das alles nun schon zu genüge! Das Genre ist hip und wird wie am Fließband auf den Markt geworfen. Stimmt zwar, und dennoch kann »Es war einmal Indianerland« noch überraschen…

»Fühlt es sich so an, das Abenteuer jung zu sein?«

Denn dieser Streifen von Ilker Ҫatak unterwandert systematisch alle Publikumserwartungen und Genrekonventionen. Das muss man aushalten können und akzeptieren lernen, aber dann entfaltet sich die Größe des Films. Ich habe mich zwischendurch gefragt, ob man nicht zu viel gewollt hat und nacheinander anreißt. Zwar sind alle Elemente des Films hinlänglich bekannt und aus verschiedenen Erfolgs-Genres entnommen, aber irgendwie auch neuartig zusammengebracht:

Da hätten wir einmal einen Roadmovie auf dem Weg zum Festival, es wird auf der Fahrt allerdings viel geschwiegen und gestritten. Und ein Boxkampffinale, dessen Ende uns vorenthalten wird. Ein Kriminalfall bzw. eine Fluchtgeschichte, die nicht auserzählt wird und von dessen Ausgang Mauser nichts mehr wissen will. Gleichzeitig eine Bewältigungsgeschichte: Mausers Leben ist im Einsturz begriffen, doch er schweigt sich dazu aus. Es bahnt sich eine klassische Lovestory an, doch auf deren Höhepunkt misslingt die Sexszene. Es wird uns eine verbotene Liebe vorgeführt, die Shakespeare‘sche Ausmaße annehmen könnte: Ein Kind aus ärmlichen Verhältnissen verliebt sich in die unerreichbare Tochter aus gutem Hause, doch der klassische Konflikt entwickelt sich einfach nicht, wird nicht erzählt. Dazu gehört die ‘Best Buddy-Ghetto-Geschichte‘, der zugehörige Bruch mit der eigenen Herkunft, doch auch dieses bekannte Narrativ wird nicht so recht bedient. Der notwendige Ausbruch aus dem Milieu gelingt nicht. Und schließlich ist auch der obligatorische erste Drogentrip keine erkenntnisreiche, bunte, faszinierende Erlebnisreise, sondern geht für Mauser komplett nach hinten los: Er ruiniert sich sein Schäferstündchen und beginnt, unter neurotischen Halluzinationen alles anzuzweifeln und sich zu verlieren…

Fazit: gewollt und sehr gekonnt

»Es war einmal Indianerland« kann in erster Linie durch einen absolut genialen Soundtrack mit Musik von Acid Pauli und durch einen fantastischen Look überzeugen. Einfallsreiche, gelungene filmische Kniffs, eine tolle Bildästhetik und glaubwürdige, gut entwickelte Figuren begeistern und wirken nie gekünstelt.

Hier ein Versuch, das innovative optische Konzept in Worte zu fassen: Viele laute Farbkontraste in Neonfarben und bunt, harte, schnelle Schnittmontagen, Lichtspektakel und aufwendige, detailreiche Schauplatzausstattung. Anachronistisch wird in Kassettenspul-Manier erzählt und im Plot gesprungen, diese Sprünge aber durch Fast-Forward- oder Fast-Backward-Zeitraffer markiert und nachvollziehbar gemacht. Es werden Nervensystemaufnahmen mit kosmischen Einblendungen kombiniert und all das kontrastiv mit Vorstadtgrau gepaart. Was entsteht, ist ein Wechsel aus Hektik und entschleunigten Szenen, unkonventionelle Dialoge gespickt mit phantastischen Elementen – »Hau!«

Es bietet sich ein anrührender, innovativer Film, der schön, wahr und gut ist und in seinen permanenten Genrebrüchen unbequem oder zumindest anders sein will.

»Es war einmal Indianerland« basiert auf der Romanvorlage von Nils Mohl.

D, Okt. 2017, 116 min. Regie: Ilker Ҫatak. Mit Leonard Scheicher (»Finsterworld«), Emilia Schüle, Johanna Polley, Clemens Schick, Johannes Klaussner, Bjarne Mädel u.a.

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