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Warum das #FerranteFever nicht
ansteckend ist: Eine Rezension

Der knapp 450 Seiten schwere Roman »Meine geniale Freundin« von Elena Ferrante ist im Literaturbetrieb eingeschlagen wie eine Bombe und der Auftakt einer vierteiligen Neapel-Saga. Bis Ende 2017 sollen alle Teile in Deutschland erscheinen. Elena Ferrante hat sich als Pseudonym einer anonymen italienischen Autorin entpuppt, hinter dem wahrscheinlich die Literaturübersetzerin Anita Raja steckt.

Die Geschichte einer lebenslangen, ungewöhnlichen Frauenfreundschaft

Im ersten Roman der Saga wird die Kindheit und frühe Jugend der beiden Freundinnen Elena Greco und Raffaella Cerullo, genannt Lila, erzählt. Die drei Folgeromane werden die Leben der beiden mehr oder weniger chronologisch weitererzählen. Elena ist die Ich-Erzählerin, aus deren Sicht der Leser die Welt der beiden Freundinnen im neapolitanischen Rione mitverfolgt.

Eine geniale Freundin?

Wir befinden uns im Neapel der 1950er Jahre. Die früheste Jugend der neapolitanischen Kinder, die in der gettoartigen Region des Rione aufwachsen und es nur schwer werden verlassen können, ist geprägt von bitterer Armut und der Gewalt innerhalb und zwischen den alteingesessenen Familien. Außerdem sind die Mädchen den ständigen Gemeinheiten und kleineren Gewalttaten der Jungenbanden ausgesetzt. Doch dominierend für die Erzählungen aus der Kindheit ist der ständige Konkurrenzdruck, dem Elena sich besonders in der Schule ausgesetzt fühlt. Lila ist eine hochbegabte Autodidaktin, die aber störrisch und nicht willens sich anzupassen den Lehrern Paroli bietet. Die strebsame Elena, auch Lenù genannt, himmelt sie dafür an. In ihren Augen ist Lila absolut genial und unerreichbar. Im Rione ist es üblich, dass die Kinder nach der Grundschule in den familiären Betrieben arbeiten und nur die Klassenbesten können auf einen längeren Bildungsweg hoffen. Elena, die in der Gunst ihrer Lehrerin Oliviero steht, erkämpft sich das Schülerinnenleben in der Unterstufe und wird schließlich sogar auf das lokale Gymnasium versetzt. Nach und nach erschafft sie sich mit ihren guten Noten ein eigenes Reich, in dem Latein, Griechisch und die geliebte Belletristik alles sind. Doch Lila, die eine Weile noch heimlich mit geliehenen Bibliotheksbüchern versucht, auf demselben Wissensstand zu bleiben, wird schon bald von der Arbeitswelt ihres Schuster-Vaters eingenommen. Beinahe Lenùs gesamtes Umfeld lebt das Leben der Arbeiterschicht, sie alle sind das Prekariat – »Pöbel« – und so kommt sie sich in ihrer elfenbeinernen Welt der Intellektuellen schon bald unerträglich einsam vor. Lila ist inzwischen wie besessen von ihren Ideen für eine eigene Schuhkollektion und versucht, die Schusterei ihrer Familie in eine Schuhfabrik zu verwandeln. Und wieder fühlt Elena sich ihr unterlegen.

Irrungen und Wirrungen der Pubertätsjahre

»Auf dem Hof hatte ich nicht so viel Erfolg. Dort zählten nur Liebeleien und Verehrer. Als ich Carmela Peluso erzählte, dass ich die Beste der ganzen Schule war, begann sie sofort darüber zu reden, wie Alfonso sie ansah, wenn er vorüberging.« (S. 144)

Nach und nach verschieben sich die Interessen der Rione-Mädchen und, langsam in der Pubertät angekommen, dreht sich bei Lenù, Lina, Gigliola und Carmela alles um Schwärmereien, Gerüchte, Äußerlichkeiten, Tanzabende und ein ständiges Buhlen um Aufmerksamkeit und Bewunderung von den Jungs. Lila beginnt, eine geradezu explosive Wirkung zu entwickeln. Die schmächtige, androgyne Draufgängerin ist einer heiß begehrten Schönheit gewichen und raubt Enzo, Pasquale, Antonio und Stefano gleichermaßen den Verstand. Zu einem richtigen Problem wird das, als die zwei reichen, arroganten Solara-Brüder, Marcello und Michele, eins mit ihrem neuen Auto, einem Millecento, auf sie aufmerksam werden und beginnen, Ärger zu machen.

Fernab jeglichem verklärenden Kitsch einer Bilderbuchfreundschaft ist diese Freundschaft eine schwierige und ambivalente wie intensive Beziehung!

Lilas und Elenas Freundschaft durchläuft im Laufe der Zeit zahlreiche Höhen und Tiefen und wird von der Ich-Erzählerin als starke Abhängigkeit empfunden; manchmal ein ermutigender Segen, manchmal ein quälender Fluch, da Lila durch ihren starken Einfluss auf Menschen manchmal sehr manipulativ ist und das in einer Weise, die sie nicht immer kontrollieren kann. Für Elena ist diese innige Beziehung deshalb stets von Verlustängsten überschattet. Sie ist auf zauberhafte Art von ihrer Freundin fasziniert, aber auch eingeschüchtert und ihre Schicksale sind eng miteinander verschmolzen.

»Sie fragte: ›Was habe ich denn an mir?‹ Sie empfand sich als dürr und hässlich, warum also war Marcello dermaßen fixiert auf sie? ›Stimmt irgendwas nicht mit mir?‹, fragte sie. ›Ich bringe andere dazu, das Falsche zu tun‹« (S. 237)

Der Auftaktroman der Saga endet mit der prunkvollen, aber auch chaotischen Hochzeit der sechzehnjährigen Lila. Sowohl für Lenù als auch für den Leser bleibt völlig unklar, ob hier eine großartige, märchenhafte Liebe ihren Weg gefunden hat oder ob Lila als überzeugende Schauspielerin mit ihrer Hochzeit einen komplizierten und von langer Hand vorbereiteten Plan zu seinem Abschluss führt. Das Einheiraten in eine wohlhabende Familie scheint den Ausbruch aus der Armut des Rione zu versprechen, ohne die geliebte Heimat verlassen zu müssen. Doch noch vor Ende des Hochzeitstanzes droht Ärger durch die Solara-Familie, die so reich und einflussreich ist, dass sie die Autorität einer Bank besitzt, und sich von Lila gehörnt fühlt…

»Im Dialekt sagte sie: >Verplemperst du deine Zeit immer noch mit solchem Zeug, Lenù? Wir sitzen auf einem Feuerball. Der Teil, der sich abgekühlt hat, schwimmt auf der glühenden Lava. Auf diesem Teil bauen wir Häuser, Brücken, Straßen. Von Zeit zu Zeit kommt die Lava aus dem Vesuv oder sorgt für ein Erdbeben, das alles zerstört. Überall gibt es Mikroben, die dich krank machen und umbringen. Es gibt Kriege. Es herrscht eine Armut ringsherum, die uns alle verrohen lässt. Jeden Augenblick kann was passieren, was dir so viel Leid zufügt, dass du niemals genug Tränen dafür hast. Und was machst du? Einen Theologiekurs, in dem du angestrengt versuchst, herauszukriegen, was der Heilige Geist ist?« (S. 329f.)

Die Erzählung der italienischen Jugendfreundschaft enthält immer wieder schöne, rührende, poetisch-funkelnde, aber auch erschreckende Episoden. Sie ist bewegend und führt in eine Welt aus Armut, kindlichem Entdeckungseifer, Gewalt, Hass, Identitätsverwirrungen, Zweifeln und Krisen, Geheimnissen und Pakten, dem rettenden Reich der Intellektuellen und dem schillernden Leben der Reichen, einem Urlaub am Ischia-Strand, jeder Menge Liebeswirren, einem pädophilen Übergriff, der – halb verdrängt – traumatische Entwicklungen auszulösen vermag, und schließlich dem Grauen vor der Vergangenheit und der unausweichlichen Verstrickung in diese.

Ein Auftaktroman mit Potenzial und Luft nach oben

Schlägt man »Meine geniale Freundin« auf, wird man als erstes von einem fünf Seiten umfassenden Namensregister erschreckt. Die befürchteten Unannehmlichkeiten erweisen sich dann aber schnell als Irrtum, denn das scheinbare Problem des allzu umfangreichen Figurenarsenals wurde elegant gelöst. Sowohl ein sehr praktikables Lesezeichen mit einer Kurzübersicht über die wichtigsten knapp zwei Dutzend Figuren des Romans, das dem Buch beigefügt ist, als auch eine sensible Schreibart, die die Figurenkontexte in sehr unübersichtlichen, figurenreichen Szenen behutsam in Erinnerung ruft, erleichtern das Lesen und Zusammenhänge-Herstellen enorm. Dieses große Figurenarsenal wirkt zwar authentisch für das Setting des Rione, verhindert aber, dass Nebenfiguren ausreichend beleuchtet und belebt werden, um dem Leser ans Herz wachsen zu können. Dennoch ermöglicht diese breite Anlage erst die Ausweitung in eine umfangreiche Romanreihe, als die der Stoff merklich und nachdrücklich angelegt ist.

Schnell ist der Leser bereit, sich in das Universum der Saga hineinsaugen zu lassen.

Er liebt mich, er liebt mich nicht… Gähn!

Alles kreist immer wieder um dieselben wenigen Themen, das wird schnell ermüdend und frustrierend.

Die größte Stärke des Romans bleibt die Anlage der genialen Lila, Elenas Referenzfigur, die in ein changierendes und elektrisierendes Licht getaucht wird und für die Erzählerin wie für den Leser mysteriös und anziehend bleibt. Eben eine vielschichtige, komplexe Figur, die nicht immer freie Sicht auf ihre Motivationen gibt und den Motor und Mittelpunkt der Erzählung bildet. Dagegen provoziert die Anlage der Protagonistin und Ich-Erzählerin Elena nicht gerade Jubelschreie und Fanscharen. Je weiter man in die Geschichte von Elena und Lila versinkt, desto stärker wird einem bewusst, dass Elena ein Mädchen ist, dem nicht gerade die Sympathie der Leser zufliegt.

Sprachlich serviert uns Elena Ferrante einen zum Großteil gut gewählten, wohlklingenden, manchmal sogar poetischen, faszinierenden Ton. Ganz besonders gelingt ihr das in den anfänglichen Kapiteln die frühe Kindheit der Freundinnen betreffend. So erschafft sie eine von Einfallsreichtum, Neugierde, Angst und Unwissen der Kinder gefärbte, monströse Welt, die durchzogen ist von grauenerregenden und fantastischen Elementen, die aus E.T.A. Hoffmanns Feder stammen könnten. So zum Beispiel der mephistophelische, dämonische Don Achille, der – halb Spinne, halb Mensch – es auf die Puppen der kleinen Mädchen abgesehen hat.

»Nu und Tina [die Puppen der beiden jungen Freundinnen] waren nicht glücklich. Die Schrecken, die wir Tag für Tag erlebten, waren auch ihre. Wir trauten dem Licht auf den Steinen nicht und auch nicht dem auf den Häusern, auf dem Umland und auf den Menschen draußen und in den Wohnungen. Wir ahnten die dunklen Winkel, die unterdrückten Gefühle, die immer kurz vor dem Ausbruch standen. Und diesen schwarzen Löchern, diesen Abgründen, die sich dahinter und unter den Wohnblocks unseres Viertels auftaten, schrieben wir alles zu, was uns am helllichten Tage erschreckte. Don Achille, zum Beispiel, befand sich nicht nur in seiner Wohnung im obersten Stockwerk, sondern auch darunter, er war eine Spinne unter Spinnen, eine Ratte unter Ratten, eine Gestalt, die jede Gestalt annahm. […] / Lila wusste um meine Angst, meine Puppe sprach laut davon. Deshalb schob sie Tina, […], durch den Spalt im Metallrost und warf sie in die Finsternis.« (S. 30f.)

Stellenweise kommt die Saga sprachlich aber leider auch etwas flach daher. So stören Doppelungen und Worthülsen ohne emotionale Aufladung.

Kaiser, Kommunisten und Krieg – die Historie rollt durch die Welt der Mädchen

Der geschichtliche Kontext, der einen gehaltvollen, über die Individualleben hinausweisenden Unterbau bilden soll, wird leider sehr plötzlich eingeführt und endet noch viel abrupter. Auf drei, vier Seiten werden komplexe, zu (Nach-)Kriegszeiten auftretende Phänomene und Gruppen eingeführt, die nur angerissen werden können und das Vorwissen des Lesers voraussetzen. Zu hoffen bleibt, dass dieser Umstand dem Figurenhorizont der erzählenden Elena geschuldet ist, die zu diesem frühen Zeitpunkt ihres Lebens solcherlei historische Sachverhalte weder versteht, noch sich auch nur im Geringsten für sie interessiert, und dass historische Zusammenhänge in späteren Bänden genauer, kritischer und gehaltvoller nachgeliefert werden.

Das #FerranteFever als Geldmaschine

Insgesamt lässt sich eine gewisse Beunruhigung nicht abschütteln, dass die Reihe um Lila und Elena zu groß angelegt wurde und von nicht genügend Einfällen getragen werden kann. Es scheint ein großes Marketing-lastiges Prestige-Projekt zu sein; eine schöne Idee, auf die man sich besser und purer konzentriert hätte, als sie aufzublasen und auszuschlachten.

Ganz vorn dabei auf der Spiegel-Bestsellerliste – ein Buch, das die Herzen im Sturm erobert?

Ein Fazit

»Meine geniale Freundin« ist ein Buch über eine lebenslang währende Frauenfreundschaft –wobei sich beide Figuren in diesem ersten Buch nicht so recht als Sympathieträger eignen – und stark geprägt von seiner interessanten Situierung: dem vom zweiten Weltkrieg gezeichneten, italienischen Armenviertel vor Neapel.

Trotz einiger Schwachstellen entwickelt die Geschichte einen Sog, der den Leser mitreißt. Das ständige Changieren von Elena und Lila zwischen Rivalität und Freundschaft, bringt einen dazu, das Buch geradezu zu verschlingen. Die nackte Brutalität, die in dieser Geschichte zu spüren ist, wirkt angsteinflößend und doch ist es gleichzeitig eine unglaublich unschuldige Geschichte zweier Mädchen, die versuchen ihren Weg durchs Leben zu gehen ohne sich selbst, ihre Werte, und allem voran ihre Freundschaft zu verlieren.

Eigenständig und für sich betrachtet ist der Roman allerdings ein wenig dürftig – was vor allem ermüdenden inhaltlichen Wiederholungen geschuldet ist – , als Teil einer ganzen Saga, aber ein akzeptabler Auftakt mit Potenzial.

»Meine geniale Freundin« erschien 2016 unter dem Autorenpseudonym Elena Ferrante beim Suhrkamp-Verlag auf 423 Seiten für 22,00€ als Hardcover und bildet den ersten Teil der neapolitanischen Saga mit einem starken Cover, das einen ästhetisch-dekorativen Mehrwert bietet.

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