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Re:connected wollen wir leben: Frankfurter Buchmesse 2021, ein Rückblick

Dass die Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr wieder vor Ort stattfinden würde, haben die meisten bis zum Schluss nicht so ganz glauben können. Umso schöner war es dann, tatsächlich wieder durch die Messehallen zu streifen und Podiumsgesprächen zu folgen, alles in allem die Literatur zu feiern und sich kräftig auf die neuen Programme zu freuen. In diesem Jahr mit dem Ehrengastland Kanada, das sich in kühlen Farben, ruhigen Klängen und weichen Wellenstrom-Formen präsentierte.

Schmal und schmucklos waren die Stände zwar, doppelt so breit und ziemlich ausgestorben die Gänge dazwischen. Und dann auch noch überschattet von einem Boykott, der auf die rechten Verlage zielte, die auf dieser Messe präsent wie nie waren. Das zusammen hat die Euphorie etwas gedämpft, aber ich konzentriere mich lieber auf die klugen und inspirierenden Interviews, denen ich lauschen konnte und an denen ich euch in einer Auswahl gern im Folgenden teilhaben lasse.

 

 

Doris Knecht auf der Arte-Bühne über »Die Nachricht«

Doris Knecht hat ein so beeindruckendes wie beklemmendes Buch über Internetstalking geschrieben und überzeugt auch auf der Bühne mit ihrer klaren, überzeugenden, eloquenten Art. Die Gesellschaft müsse sich viel stärker darum kümmern, dass Männer nicht zu Tätern werden, anstatt Frauen mit Misstrauen zu verunsichern, um zu verhindern, dass diese zu Opfern werden, argumentiert Knecht. Auch auf rechtlicher Ebene müsse noch sehr viel passieren – gerade das Internet sei noch ein rechtsloser Raum, in dem Frauen oft ausgeliefert sind. Wir müssten im Grunde sehr viel mehr über toxische Männlichkeit sprechen, und nicht nur über Empowerment und Feminismus. »Die Nachricht« ist außerdem auch ein Buch über Freundschaft (in der Krise) – wie tragfähig ist die wirklich? Und wie viel kann man verlangen, wenn eine Frau in das Netz aus männlichem Hass, Gewalt und Drohgebärden gerät? Auch Politikerinnen stünden stark im Visier und werden überproportional oft zu Opern von Hate Speech, Stalking und Gewaltandrohungen – zwei Drittel von ihnen vermeiden deshalb bestimmte Themen in der Öffentlichkeit.
Die Protagonistin aus Knechts Roman, Ruth, möchte nicht so viel Kraft aufwenden, die es kostet, um gegen ein Phantom vorzugehen und zu kämpfen. Denn die Anonymität des Netzes schützt die Täter. Es fehlt auch an gesellschaftlicher Unterstützung, an Solidarität und Gerechtigkeit, oft wird sie nicht einmal ernst genommen. Immer mehr baut sich ein Netzwerk an Drohungen auf, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.
Doris Knecht verteidigt das Ende ihres Buches: Der Täter kommt ohne Bestrafung davon, weil es in Wirklichkeit eben in den aller meisten Fällen auch so ist. Sie wollte realistisch schreiben und keine Rachefantasien befriedigen, deshalb war dieses Ende zwingend.
Aber was kann man also tun? Damit müssen sich jetzt endlich mal die Männer beschäftigen, erwidert die Autorin schnippisch. Die müssen dringend solidarischer werden mit Frauen, es ist nicht die Aufgabe der Frauen, das im Alleingang zu lösen, und nebenbei gesagt auch nicht möglich.
Knecht hat sich selbst auch aus den Medien zurückgezogen, hat ihre Kolumne aufgegeben, fühlt sich eingeschüchtert. Twitter nutzt sie nur passiv und twittert nicht selbst, weil sie sich nicht dickhäutig genug für die Reaktionen fühlt. Stattdessen flüchte sie sich lieber in die Literatur. Und da gelingt ihr ein wichtiges Buch.

 

Friedemann Karig und Samira El Ouassil über »Erzählende Affen«

Karig und El Ouassil haben ein Sachbuch über das Geschichtenerzählen als existenziellen Bestandteil der Menschheit geschrieben. Es sei ein evolutiver Vorteil und kongenial, dass der Mensch sich Geschichten darüber erzählt, was wäre und sein könnte, so werde auch die Problemlösungskompetenz geübt.
Man kann nicht nicht Geschichten erzählen, alles ist in Narrative eingebettet und unser Denken ist in diesen eingeübten Mustern gänzlich gefangen – unser Gehirn braucht die bekannten narrativen Muster geradezu, und die diskursiven Angebote um uns geben uns das, was wir wollen. Zwar kommen wir aus diesen Denkstrukturen nicht raus, wir können aber durchaus unser Handeln verändern.
Es gab eigentlich nie so viele Geschichten wie gerade, die Frage ist nur: Was macht das hochmediale Zeitalter mit dem Affen? Aus diesem Überangebot an Narrativen kann man sich leichter als je aussuchen, welche Geschichten, welche Erklärungsmuster, welche ideologischen Mythen man lesen und glauben möchte, seine eigene Sicht auf die Welt in einer Bubble erschaffen und sich bequem in ihr einrichten. Verschwörungen florieren, Fake News und Gerüchte. Es bleibt uns nur, viel konsequenter zu hinterfragen: Wer erzählt mit welchem intentionalen Hintergrund? Wer profitiert? Wer hat zum Beispiel etwas davon, den Klimawandel zu entdramatisieren? Corona zu leugnen? Vorurteile zu schüren? Kursieren Mythen zur Deutung unserer Zeit? Braucht die neue Regierung ihre eigene „Erzählung“, um möglichst viele hinter sich zu vereinen? Und welche könnte das sein? Was kommt nach dem „Wir schaffen das“ und was wird das über die Deutschen sagen? Ist Identität in dem Sinne nur die Summe der Geschichten, die wir glauben, dass andere sie über uns erzählen?
Die Urerzählung schlechthin, die von der Antike an nicht an Bedeutung eingebüßt hat, sei die Heldenreise, die Transformation des Helden, sein Selbstermächtigung, findet sich durch alle Epochen auf der ganzen Welt. Faschistische Strömungen haben immer wieder genau das Gegenteil erzählt: Du musst dich nicht ändern, die anderen, die Welt ist das Problem. Konservative auf der ganzen Welt halten an einer Retropie fest, an einer ach so guten Vergangenheit, dem Wunsch, zurück zur Utopie, die einmal war zu gelangen. Das seien die gefährlichen Geschichten, diejenigen, die nichts von dir wollen.
Stattdessen fordert das Autor:innenduo mehr Mut zur Utopie. Wo steht die Gesellschaft gerade, wenn wir die Weltgeschichte als Heldenreise begreifen wollen? Können wir noch ein Happy End durchsetzen? Oder ist der Mensch vielleicht gar der Gegner des guten Prinzips, der eigennützige Zerstörer? Die postpandemischen Jahre fühlen sich jedenfalls jetzt schon an, als könnten sie eine Art Point of no Return darstellen. Letzte Zeit, um die Weichen zu stellen.

 

Felicitas Hoppe über ihre Neuerzählung der »Nibelungen«

Auch Felicitas Hoppe hat sich Gedanken zu Geschichten gemacht, die die Menschheit überdauern werden. Erzählungen seien genauso komplex, wie die Menschen selbst. Es seien gerade die noch nicht auserzählten Geschichten, die auch in Zukunft noch fruchtbar sein werden. Mit den »Nibelungen« setzte sie sich einer Geschichte aus, die eigentlich zu groß für sie ist. Schreiben ist deshalb für Hoppe wie Bergsteigen – risikoreich, die Möglichkeit zu Scheitern immer gegenwärtig, ihre Angst wird so als Produktivkraft nutzbar. Was einen zum Motto des Buches führt, denn nur Helden fürchten sich nie, die schreiben aber auch keine Bücher.
Immer wieder wird das sogenannte postheroische Zeitalter für unsere Gegenwart proklamiert, da diese Helden so gar nicht in die demokratische Zeit zu passen scheinen – und trotzdem sehnen wir uns nach Archetypen. Greta Thunberg könne man beispielsweise als eine moderne Jeanne d’Arc lesen, schlägt Hoppe vor. Im Ritter des Hochmittelalters sieht sie den Höhepunkt der Lächerlichkeit von heroisch übersteigerter Männlichkeit, und als die hat sie sie sehr gern in ihren Roman integriert.

Hoppes »Nibelungen« sind in vielerlei Hinsicht gebrochen erzählt, dennoch solle man diese uralten Figuren ernst nehmen, sie gingen uns heute noch was an, im Guten wie Bösen. Die Personnage bestehe im Grunde aus Handlungsmaschinen, sie sind alle weder im Recht noch im Unrecht, sondern handeln alle nach eigenen Maßgaben und scheitern letztlich einfach in der Kommunikation.
Die Autorin plädiert dafür, Siegfried, Brunhilde und Co. Als Projektionsflächen zu lesen und sich als solche an ihnen zu ergötzen. Und sie nicht in ein feministisches Programm pressen zu wollen, da sie sonst ihren Zauber verlieren würden.

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