Literatur
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Vom Zähne-Ausbeißen am großen Unbekannten: Dilek Güngör »Vater und ich«

Er ist ihr Vater und er redet nicht. Und wer wäre er eigentlich, wenn er einfach nur ein Mann wäre?

»Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen? (…) War ich eines Morgens in die Küche gekommen und hatte mich gewundert, warum du nichts sagst? (…) Wäre es so gewesen, wüsste ich das. Ich würde mich an den genauen Tag, an den Moment erinnern, daran, was es an dem Morgen zum Frühstück gab. Was du tatst, welches Hemd du trugst. Wohin du sahst und wohin ich sah, ob ich meinen Satz wiederholte oder nur dachte, ich hätte etwas falsch gemacht.
Ich hatte nichts falsch gemacht, auch du hattest nichts falsch gemacht. Trotzdem war es vorbei.« (5)

 

Ich muss aufpassen, an unserem Schweigen nicht zu ersticken. (9)

Ipek kommt für ein paar Tage nach Hause, in der Hoffnung, eine Annäherung in Gang bringen zu können. Ihre Mutter ist im Wellnessurlaub und sie versucht jede Gelegenheit zu nutzen, um ihren Vater in ein Gespräch zu manövrieren, dass über »Ja« und »Mhm« hinausgeht. Immerhin hat sie einen Journalistenpreis für ihre Interviewreihe bekommen, da sollte sie doch wohl ihren eigenen Vater knacken können. An der Küchenarbeitsplatte, im Gartenliegestuhl oder an der Hobbywerkbank tänzeln Vater und Tochter scheu umeinander herum und ziehen sich in die Stille in sich zurück.

»Ich weiß nicht, ob wir je einmal längere Zeit miteinander allein waren, ohne Mama. Drei Tage sind ein Anfang, ein Versuch. Ob wir uns wieder nah sein können, anders als früher, also so nah immerhin, dass ich dir eine Decke bringen könnte, wenn du beim Fernsehgucken einnickst?« (7)

Aber wann ist das eigentlich passiert, dass sie nicht mehr miteinander reden können? Als Ipek in die Pubertät kam? Oder früher schon, als es nicht mehr ayıp war, sie auf den Arm zu nehmen? Wie kann man Nähe kreieren, wenn körperlicher Kontakt undenkbar geworden ist? Dilek Güngör erzählt auf zarte, sehr berührende Art von den innersten Dynamiken einer türkischen Gastarbeiterfamilie.

 

»Wir freuen uns, so beiläufig, so verdeckt, dass es keiner sieht. Nicht einmal wir.« (9)

Ipek ringt mit sich, mit ihrer Sprache, mit ihrem Selbstbild. Es tobt ein Kampf in ihr. Möglicherweise gibt es mehr als eine legitime Art, in der Familie miteinander umzugehen. Schweigen muss kein Desinteresse abbilden, zumindest sagt Ipek das zu sich. Möglicherweise kann im gemeinsamen Schweigen ein Echoraum der Verbundenheit existieren. Das fände Ipek auf jeden Fall schöner als sinnentleerte Phrasen mit ihrem baba zu wechseln.

»In der Schüchternheit, da treffen wir uns, du und ich, sie ist unser gemeinsamer Ort. In unserer Unbeholfenheit sind wir uns nah, hier kennen wir uns aus, und vielleicht fühlen wir und hier wohl, in der Stille.« (37)

 

»Ich will nicht reden, ich will Nähe, Vaternähe.« (79)

Güngor schafft es schnörkellos, gekonnt und mit feinem Humor, eine zarte Vater-Tochter-Bande lebendig werden zu lassen. In ihrer Verstocktheit sind die beiden gleichermaßen tragisch wie niedlich. Es sind kleine Gesten, Mini-Schritte, die sie aufeinander zu machen, und die einem die Gänsehaut auf die Arme treibt. Sehr leise und wahrhaftig. Kızım. Meine Tochter.

»›Vor deinem Mundwerk haben wir uns gefürchtet. Laut warst du und hast geredet, bis einem der Kopf wehtat. Bıd-bıdı – bıdı- bıdı. Nie stand dein Mund still.‹
›Also so schlimm war ich auch nicht.‹ (…)
›Jetzt hast du den passenden Beruf dazu.‹
›Zu viel reden ist gar nicht gut in meinem Beruf. Man macht das Gespräch kaputt, wenn man immer dazwischen plappert‹, sage ich so schnippisch, dass eine Pause entsteht, ein Schweigen, das anders ist als unser alter Freund. Eines, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und die ganze Werkstatt füllt.« (74)

 

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»Vater und ich« von Dilek Güngör umfasst 104 Seiten, erschien am 20. Juli 2021 beim Verbrecher Verlag und kostet fest gebunden 19,00 €.

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