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Helene Hegemann schaut auf Bungalows

»›Die Welt existiert nur dann, wenn sie auf der Kippe steht.‹« (S. 44)

In »Bungalow« beschreibt Helene Hegemann die radikalen Selbstfindungsversuche der jungen Charlie, die zwangsläufig mit Selbstzerstörung und -verlust Hand in Hand gehen. Der Roman berührt durch seine beinahe zerstörerische Kraft, erzählt pessimistisch, schonungslos und bitterböse aus der Sicht der 17-jährigen Charlie von ihrer gestörten Kindheit. Denn ihr Leben als gebrandmarktes Kind durch die psychisch kranke, alkoholsüchtige Mutter ist geprägt von Angst und Scham gegenüber der überforderten Erziehungsberechtigten. Außerdem strotzt es vor Zerstörungswut, Panikattacken, voyeuristischen Streifzügen, Sexfantasien und Eskapaden bei einem nach Identifikation suchenden Schwanken zwischen den Extremen. Charlie wächst in einer tristen, immer apokalyptischer werdenden Welt auf und kämpft mit der Vernachlässigung und Gefährdung, die von ihrer unberechenbaren Mutter ausgeht. Verwahrlosung, Hungerleiden und Gewaltattacken – zu ihren ganz konkreten Ängsten fantasiert Charlie sich noch eine Hand voll fiktiver dazu.

»Ich erkannte meine Mutter auch nicht wieder. Die Intensität meiner Ängste stieg proportional zur Abnahme ihrer Zurechnungsfähigkeit. Jede Nacht wurde zu einem Zustand ungezügelter Panik, ich halluzinierte Asteroideneinschläge und mit vergifteten Dolchen bewaffnete Einbrecher.« (S. 83)

In Charlies Heimatstadt existieren auf engstem Raum zwei Welten nebeneinander: Die  Bungalows der Reichen stehen den Betonmietskasernen der Abgehängten genau gegenüber, sie befindet sich in ihrer prekären Misere also vis-à-vis der glänzenden Welt der Millionäre. Während Charlie die Bungalows und deren Bewohner beobachtet, wird sie von denen durch ihre soziale Stellung getrennt, diese fremde Welt ist so weit entfernt, als würde ein riesiger Graben zwischen den Straßen verlaufen.

»Für eine Wohnung in unseren Zeilenbauten brauchte man kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein. Den bekam man erst dann, wenn man sein Leben so schwer vor die Wand gefahren hatte, dass man sich keine im regulären Markt zu mietende Wohnung mehr hätte leisten können. Zuerst hielt ich das für ein Privileg, nach meiner Einschulung nur noch für mein Todesurteil. Die Millionäre und wir teilten uns dieselben Parkplätze und Grünstreifen, trotzdem klaffte zwischen uns ein tiefer Abgrund. (…) Wenn es regnete, sah ich in ihren Gesichtern den Verdruss darüber, dass auf uns derselbe Regen fiel wie auf sie selbst. Ich hatte Angst, brutal und immer. Vor Krieg, Krebs, Verachtung.« (S. 48)

Kurz nach Charlies zwölftem Geburtstag ziehen neue Nachbarn in den Bungalow gegenüber, die ihre Faszination wecken. Ein junges Schauspieler-Ehepaar, die anders sind als alle anderen und sich den Kategorien, die Charlie kennt, entziehen.

Um alles in der Welt will Charlie von den Nachbarn Maria und Georg wahrgenommen werden, will einen egal wie gearteten Einfluss auf ihr Leben haben. Dieser Wunsch, diese kindliche Sehnsucht, schlägt dann allerdings schnell in krankhafte Formen um: Charlie fängt an, die beiden zu stalken, sie läuft ihnen nach, klettert in ihren Garten und beobachtet sie beim Sex durch die Terrassenscheibe, gegen die sie im nächsten Moment springt und sie so zerstört. Diese sexuelle Komponente, die immer auch in den Wunsch hineinspielt, mit den beiden Schauspielern in Kontakt zu kommen, und die so schonungslos von der minderjährigen Erzählerin offenbart wird, wirkt einigermaßen erschreckend.

»Ich hielt mich für pervers. Inzwischen weiß ich, dass ich das nicht war, nicht perverser als die anderen jedenfalls. Vielleicht wollte ich einfach nur, dass meine Nachbarn, mit ihren Designersandalen und Taxifahrten und vollen Einkaufstüten, aus denen oben immer eine Stange Porree ragte, mitkriegten, dass was nicht stimmte mit mir. Und dass das nicht mit angeborener Idiotie zusammenhing, sondern mit brutaler Fremdeinwirkung.« (S. 125)

Charlies größter Kampf ist aber nicht ihre pubertäre Findungsphase und aufkommende Sexualität, sondern Vernachlässigung, Gefährdung und die Schamgefühle, die sie ihrer psychisch kranken Mutter gegenüber empfindet.

»Meine Mutter umklammerte ihr Kopfkissen, hielt die Blicke von Fernsehcharakteren für Prophezeiungen des Weltuntergangs, vergaß Wörter, zerbrach Schallplatten, schwor der Sprache ab, riss sich die Fingernägel aus den Betten und heulte sich mit unter ihren Armen vergrabenem Kopf am Küchentisch in den Schlaf.« (S. 68)

Der Versuch all das zu vertuschen, beherrscht Charlies Leben. Als sie dann ihren einzigen Vertrauten und Schulkamerad Iskender verliert, weil sich ihm der Wahnsinn ihrer Mutter bei einem Besuch enthüllt, steht Charlie mit ihren Problemen absolut allein da. Es scheint keine Hilfe von außen zu geben, obwohl Charlie die sich zuspitzende heimische Situation immer stärker anzusehen ist, alles, was ihr entgegengebracht wird, ist lediglich Spott in der Schule. Dieser schlechte Ruf in der Gesellschaft wegen ihrem Herausfallen aus gesetzten Normen und die fehlende Unterstützung ihres geschiedenen Vaters werden für Charlie zum Schlachtfeld ihrer kleinen Welt.

»Ich hätte als Reaktion ein paar Autos anzünden oder in irgendeinem Bereich überehrgeizig werden können, Biologie zum Beispiel oder Zeichnen oder Rechtsextremismus. Stattdessen entwickelte ich einen zerstörerischen Hass gegen mich selbst und meine Mutter.« (S. 57)

 

Radikale Entromantisierung

Diese aufwühlende Geschichte spielt sich in der Tristesse einer Wohnsiedlung ab, die Charlie täglich vor Augen führt, dass sie zu den unteren Gesellschaftsklassen gehört.

»Das Viertel, in dem ich zur Jahrtausendwende geboren wurde und aufwuchs, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt und Mitte der Fünfziger als Demonstrationsobjekt für die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus wiederaufgebaut worden, es war zerrissen und hässlich und lag am Ende der Welt.« (S. 47)

Mit erbarmungslosem Blick erzählt sie von ihrer Mutter, die das Einkaufsgeld versäuft und mit (auto-)aggressiven Schüben zu kämpfen hat. Eine Mutter, die schon weit abgedriftet ist, in ihrer Welt aus Martyrium und Delirium. Die schizophrene Erkrankung lässt sie zwischen Aggression und Apathie schwanken, wobei immer auch eine depressive Veranlagung mitschwingt. Diese Schilderungen sind im Roman besonders stark und nehmen einen besonders mit, wo sie die Auswirkungen auf Charlie erschreckend und glaubwürdig zeigen. Diese taumelt zuweilen in Blackout-Momente, in denen ihr eigenes Leben ernstlich zu entgleisen droht.

»Jeder, der einen Säufer zu Hause sitzen hat oder selber einer ist, kann sich denken, dass aus den Vorkommnissen dieser Nacht keine Konsequenzen gezogen worden sind, weder von mir noch von meiner Mutter noch von Gott oder dem Jugendamt oder von sonst irgendwem, es ging weiter wie immer. Wir redeten nicht darüber, dass wir uns gegenseitig abstechen wollten. Wir redeten auch nicht darüber, dass ich während meines ersten Vollrauschs fast erfroren war. (S. 174)

Woran Charlie uns teilhaben lässt, ist nicht nur die Geschichte eines verhaltensauffälligen Teenagers, sondern das Portrait einer durchweg kranken Gesellschaft. Der Wahnsinn erhält Einzug in diesen Text. Was dessen Ich-Erzählerin angeht, so bietet sich uns eine eigentümliche Mischung aus zerbrechlichem, beschützungsbedürftigem, verstörtem, dauernd heulendem Kind und abgebrühter, brutaler Psychopathin.

»(…), mit jedem weiteren komme ich wieder zu mir, entwickle mich vom herumgeisternden Zombie zurück zu jemandem, der vernünftig genug ist, um zu ahnen, dass die letzte Nacht, der Morgen, all das jetzt und hier, die endgültige Grenzüberschreitung in die irreversible Geistesgestörtheit gewesen sein muss. Das, was ich da getan habe, dafür kommen erwachsene Männer ins Gefängnis, denke ich, und weiß nicht, ob es die Sache schlimmer oder besser macht, dass ich kein erwachsener Mann bin, sondern das Gegenteil.« (S. 225)

Teilweise wird in »Bungalow« assoziativ-sprunghaft bis wahnhaft erzählt, dann folgen wieder klar formulierte, lakonisch hervorgebrachte Weltweisheiten und ironische Feststellungen im Teenie-Slang (»fucking-…«) und mit Obszönitäten gespickt. Sprache und Reflexionsgrad der Erzählerin erscheinen nicht altersgerecht, was natürlich auch daran liegt, dass das erzählende Ich älter ist als das erlebende Ich (die 17-jährige Charlie berichtet von sich als zwölf- bzw. 13-Jährige), was Brüche erzeugt, die Komik und manchmal auch eine poetische Schönheit mit sich bringen.

Anti-Kitsch

»Sie wollten keinen Ersatz für das Kind, das sie nicht rechtzeitig gekriegt hatten. Echt nicht. Sie wollten auch nicht meine Seele, fällt mir gerade auf. So eine Seele ist viel zu belanglos. Sie wollten jemanden, der besser spielte als sie selbst. Der noch brutaler war. Und ich glaube, das war ich. Noch brutaler. Aber nicht von Geburt an.« (S. 8)

Die beiden Nachbarn Maria und Georg üben eine elektrisierende Anziehungskraft auf Charlie aus, mit ihrem Lebenskosmos aus Glamour, Chaos, Affären und Drogen. Man könnte sagen, dass sie zu Charlies erster großen Liebe werden, irgendwo zwischen Stalkingobjekt, Elternersatz und Sexfantasie. Fraglich bleibt für mich allerdings, welche viel anzitierte Gefahr von ihnen ausgeht.

»Ich liebte beide. Mit einer Bedingungslosigkeit, deren Grund mir bis heute nicht ganz klar ist und pervers vorkommt. Sie sahen gut aus, waren schlau, ja, kann einen alles irgendwie fertigmachen, trotzdem muss es eine Übereinstimmung gegeben haben, die über Faszination hinausging. Sie waren mein größter Einfluss. Meine größten Feinde. Sie waren der Grund, weshalb ich nach bestimmten Nächten nie sicher war, ob ich im Internet was zu essen oder schon mal meine eigene Keramik-Urne bestellen sollte.« (S. 36)

Diese erste Liebe, die hier vorgeführt wird, ist eine radikal entkitschte, die eher in der Kategorie erster Fick rangiert.

»(…), ich war verknallt in diese Leute, endlich checkte ich das. Ich wollte nicht adoptiert werden von denen. Echt nicht. Ich wollte die ficken.« (S. 218)

Sehr provokativ eröffnet der Roman gleich mit einem Kapitel, das den Gruppensex der 17-jährigen Charlie mit dem Schauspielerpaar beschreibt, wobei man das Alter der Ich-Erzählerin zunächst auf noch jünger schätzt. Worum es im Grunde bei diesen Begegnungen geht, erfährt man erst viel später, nämlich um den Schmerz der Liebe und des Lebens, den Charlie durch deren Umkehrung überwinden will:

»Ich musste die beiden besitzen, verachten und wegschmeißen. Ich war dreizehn Jahre alt. Ich fiel fast in Ohnmacht.« (S. 45)

Es enthüllt sich eine durch und durch entromantisierte Welt, in der sich die auffallend hohe latente Gewaltbereitschaft in der Umgebung wiederspiegelt, in Form von Explosionen, Schüssen, Stürmen und Ähnlichem mehr. Nach und nach schreibt sich eine groteske Selbstmordserie in den Roman ein, die an eine nahende Apokalypse erinnert, und schließlich endet alles mit einem angedeuteten, ominösen Krieg, der uns in die Sphäre der Zukunftsdystopien katapultiert.

»Unsere Zeilenbauten lagen vor mir wie eine senkrechte Welle. Sie würde über mir zusammenbrechen, mich entweder töten oder mitreißen. Irgendwo anders hin.« (S. 167)

 

Fazit: it goes down and down

Der Roman wird von einem Gefühl der Vergeblichkeit beherrscht. Sehr schonungslos wird von dem Kampf eines Mädchens in einer verdorbenen, kranken Gesellschaft mit apokalyptischen Zügen erzählt. Hegemann gelingt es, sehr einnehmend und überzeugend von den Lebensumständen eines verwahrlosten Alkoholikerinnenkindes zu berichten, die unter anderen Abgehängten, den Verlierern des Systems, lebt.

Wir werden in eine Welt voller Ungerechtigkeit, Hässlichkeit, Langeweile, Zerstörungswut, Depressionen, Suiziden und der Kompensation durch (imaginierte) amouröse Abenteuer geführt, dabei wird immer den Menschen eine besondere Faszination entgegengebracht, die aus der Norm fallen. Sprachlich frech, sehr explizit und atmosphärisch bedrückend, mit gelegentlich bitterbösem zynischem Witz – auch, wenn die Autorin es manchmal etwas zu weit treibt und dann gewollt oder grotesk wirkt.

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»Bungalow« von Helene Hegemann umfasst 288 Seiten, erschien am 20.08.2018 bei Hanser Berlin und kostet gebunden 23,00 €.

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