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Ein literarisches Meisterwerk! Berührendes Debüt »Heimkehren« von Yaa Gyasi

Wo liegt deine Heimat, wenn du überall ein Fremder bist?

Hier wird das Schicksal einer ghanaischen Familie, deren Geschichte über 7 Generationen und durch die ganze afroamerikanische Geschichte reicht, facettenreich und mit sehr viel Gefühl erzählt. Alles beginnt mit den Halbschwestern Effia und Esi, die im 18. Jahrhundert in Ghana aufwachsen. Die Familienverhältnisse könnten unterschiedlicher kaum sein – während Effia als Tochter des Fante-Stammes mit einem weißen Mann verheiratet wird und fortan in der Burg der britischen Kolonie lebt, weiß sie nichts von der Existenz ihrer Schwester Esi, die in ärmlichen Verhältnissen beim Asante-Stamm aufwuchs und gerade im Kerker der Burg gefangen gehalten und bald als Sklavin nach Amerika verkauft werden soll.

Dies bildet den Auftakt der großen Erzählung, die nun im Wechsel in Ghana und Amerika spielt. Besonders schön finde ich, dass sich jedes Kapitel auf einen Charakter konzentriert, der dann im Fokus steht. Nach je 2 Kapiteln beginnt eine neue Generation. Die daraus entstandene ungewöhnliche, aber schöne Struktur, wirft den Leser in verschiedene Schicksale, Ereignisse und Lebensabschnitte der Protagonisten. Gyasi schafft es dabei auf bemerkenswerte Weise, die Geschichten der Einzelnen miteinander zu verweben und gleichzeitig jenes Grauen zu thematisieren, das hunderttausende Schwarze durch den Sklavenhandel erleiden mussten.

Die Zeit, in der die Geschichte spielt, ist geprägt von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen zwei mächtigen Bevölkerungsgruppen, Sklavenhandel, Kolonisation durch die Briten, Plantagenarbeit, Amerikanischem Bürgerkrieg, der Großen Migration und dem Drogenrausch in Amerika. Die Last, die Effias und Esis Familie über Generationen tragen musste, spiegelt hier auch exemplarisch die Last einer ganzen Epoche wider.
Am Ende steht die Frage, ob es so etwas wie Heimat geben kann, in einer Gesellschaft, in der man immer noch nach seiner Hautfarbe beurteilt wird.  

Die Familie ist wie ein Wald: Wenn man davorsteht, scheint er undurchdringlich; steht man darin, sieht man, dass jeder Baum seinen Platz hat.

Akan-Sprichwort

Ein bewegender Roman über die Suche nach Heimat und Identität

Was Gyasi mit diesem Werk geschafft hat, ist unglaublich. In jeder einzelnen Lebensgeschichte steckt so viel Schmerz, der den Leser mit voller Wucht trifft und überwältigt. Man ist gefesselt von jedem Einzelschicksal, die alle durchzogen sind von Peitschenhieben, Verlustängsten, Leid und Armut und dabei so authentisch, eindringlich und vielschichtig wiedergegeben werden, dass sie als Summe einen Querschnitt des Zeitgeschehens vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart bilden.

»Heimkehren« hat mich so stark bewegt, wie schon lange kein Buch mehr. Ich fühlte mich nach jedem Kapitel fix und fertig, weil die beschriebene Härte, Brutalität und der Rassismus auf mich einprügelten und mich auf den Boden der Tatsachen bzw. der amerikanischen/ afrikanischen Geschichte brachten. Definitiv ein Buch, dass zum Nachdenken anregt! Zeitweise war ich von einer Flut von Eindrücken und Gefühlen niedergedrückt, weil die Geschichte sphärisch unglaublich dicht erzählt ist und dabei einen Sog entwickelt, dem man nicht mehr so leicht entkommt.

Das Unrecht, dass James, Abena, Akua und all den anderen Figuren des Romans widerfährt, scheint sich von Kapitel zu Kapitel, von Schicksal zu Schicksal, zu potenzieren.
Sobald ich dachte, schlimmer kann es nun nicht mehr werden, schlug im nächsten Kapitel Armut, Unglück und vor allem Ungerechtigkeit in zehnfacher Härte zu, sondass es kaum tragbar erschien. Gyasi schreibt offen und unverstellt über Missstände und Diskriminierung in einer Klassengesellschaft, nach der es nichts Schlimmeres gibt als schwarz zu sein.

»Weil sein Körper bereits wusste, was seine Gedanken noch nicht ganz zusammengesetzt hatten: dass du in Amerika nichts Schlimmeres sein konntest als ein schwarzer Mann. Das war schlimmer als tot, du warst ein lebender Toter.« Sonny, S.334.


Glück und Unglück liegen in dieser Geschichte so nah beieinander, dass es zu Tränen rührt

Zwischen all dem Leid der Versklavung der Schwarzen, dem Schmerz der Trennung vom Geliebten oder vom Kind, dem Hass und der Unsicherheit, taucht auch immer wieder Funken von Hoffnung, Liebe und Zuneigung auf. Mit schmerzender Zärtlichkeit wird vom Glück eines Liebespaares, einer jungen Familie oder tröstenden Gedanken, einem Wiedersehen berichtet.    
Die schönen, kleinen und zarten Momente des Glücks, der Zufriedenheit und des Innehaltens sind Balsam für die Seele, nachdem Gyasi es geschafft hat, so eindringlich von Leid, Folter, Krankheit und Demütigung zu erzählen, dass der Leser die Schmerzen der Handelnden fast selbst spüren konnte.

Ein sehr emotionales und hochaktuelles Buch!

Wenn Marjorie, ein schwarzes Mädchen, aufgewachsen in der Welt der Weißen (Amerika), in einen Identitätskonflikt gerät und schließlich auf der Suche nach ihren Wurzeln nach Ghana zurückkehrt und dort zum ersten Mal das Gefühl des Heimkehrens durchlebt, fühlt es sich auch für den Leser wie eine Erlösung und ein Heimkehren/ zur Ruhe kommen an. Was bleibt ist die Frage, was man unternehmen kann gegen all das Unrecht dieser Welt. Der von der Gesellschaft enttäuschte Sonny sagt aus seiner Ohnmacht heraus: 
»Sie können überhaupt gar nichts machen, stimmt’s?«

 

Erscheint auch als Hörbuch, fantastisch vertont von Der Audio Verlag, u.a. mit den Stimmen von Bibiana Beglau, Johann von Bülow, Bjarne Mädel, Stefan Kaminski, Max Mauff.  

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»Heimkehren« von Yaa Gyasi, Roman, 416 Seiten, 22€, erschienen bei Dumont am 22.08. 2017.

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