Literatur
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Christoph Heins »Verwirrnis«

Nach »Glückskind mit Vater« und »Trutz« ist nun der neue Christoph Hein da! Der mit zahlreichen Preisen dekorierte große Gegenwartsautor wird einmal mehr zum eindrucksvollen Chronisten deutscher Geschichte. »Verwirrnis« erzählt bewegend von der verbotenen Liebe zwischen zwei Jungen aus dem katholischen Heiligenstadt in Thüringen während der 1950er Jahre. Ein Gay-Roman, der Coming-of-Age-Geschichte, Zeitportrait der zwei deutschen Staaten und Milieustudie verbindet, der Fragen der Religiosität, Moral, der menschlichen Natur, Scham und der unentrinnbaren Folgen von Erziehung und Elternhaus in den Blick nimmt, aber der vor allem die Kraft und Ohnmacht der Liebe bebildert.

Friedeward liebt Wolfgang

Friedls Kindheit in den 30er und 40er Jahren wird überschattet von seinem strengen, konservativen Vater Pius, der körperliche Züchtigung für sowohl angemessen als auch notwendig in der Erziehung hält. Das Familienoberhaupt hat wenig übrig für Anerkennung oder Lob, seine Liebe lässt er seine Familie nicht spüren, sodass sie diese ganz in Frage stellen. Von seinen Kindern und sogar von seiner Frau Hedwig wird Oberlehrer Pius gefürchtet und schließlich auch gehasst. Der Siebenstriemer, eine mit Lederschlaufen versehene Peitsche, sorgt seit Generationen für Zucht und Ordnung durch die väterliche Hand und wird schließlich zum Symbol für Erniedrigung, Ohnmacht und Hass. Während die beiden älteren Geschwister vor der grauenerregenden Vaterfigur fliehen und ihr Glück fernab der Familie suchen, gibt der ängstliche Friedl sich Todesphantasien hin und wird immer mehr zum seltsamen Einzelgänger.

Doch alles ändert sich schlagartig als der Kantorensohn Wolfgang im 11. Schuljahr in Friedewards Klasse kommt. Eine außergewöhnliche Freundschaft entwickelt sich zwischen den beiden gutaussehenden Jungen, die sich in ihrer intellektuellen, dandyhaften Rolle gefallen und alle Blicke auf sich ziehen. Im gemeinsamen Camping-Urlaub an der Ostsee entdecken die beiden Jünglinge ihre von der propagierten Norm abweichende sexuelle Neigung, geben sich unbedarft und neugierig dem anderen hin und müssen bereits jetzt feststellen, dass sie zusammen Missfallen und Argwohn bei Mitmenschen auslösen. Eine starke und verzweifelte Liebe entwickelt sich zwischen Friedl und Wölfchen, wie sich die beiden zärtlich nennen, doch ihnen ist klar, dass keiner je erfahren darf, dass sie mehr sind als nur beste Freunde. Zwar wird in der atheistischen DDR später der Sodomie-Paragraph, der den homosexuellen Verkehr unter Strafe stellt, abgeschafft, jedoch werden sich die Menschen um sie herum nicht so schnell ändern, die Zeit scheint nicht reif für Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung, das Tabu ist noch zu tief in der Gesellschaft verankert, die Moral gründet sich noch immer auf religiöse Vorstellungen von Natur und Sünde.

»›Es ist ein Gesetz‹, sagte sie, ›ein wunderbares Gesetz, aber Gesetze schaffen ein Tabu nicht aus der Welt. In diesem Fall ist der Gesetzgeber weiter und fortschrittlicher als die Gesellschaft. Glaubt bloß nicht, dass mit der Streichung dieses Paragraphen auch die Ächtung ein Ende hat.« (S. 199)

 

Sodomie und Gomorra

Vater Pius ist schuld an der ersten Trennung der beiden Liebenden, die sich einander Unzertrennlichkeit geschworen hatten. Nachdem er die beiden in einer kompromittierenden Situation erwischt hat, droht er, Wolfgang anzuzeigen und erpresst so dessen Schulwechsel und Kontaktabbruch zu seinem Sohn. Schwulsein gilt Pius nicht nur als Straftat, sondern auch als schwere psychische Störung, als Widerwertigkeit und Perversion gegen Gott, das eigene Seelenheil und den Ruf der Familie.

Das Studium der Germanistik wird für Friedl schließlich zur Befreiung und Leipzig offenbart sich als künstlerisches und liberales Zentrum. Hier taucht das wiedervereinte Liebespaar ins geistige Leben der Stadt ein und genießt, dass in Künstler-Kreisen und dem Milieu der Intellektuellen andere moralische Maßstäbe angelegt werden und eine tolerante Aufgeklärtheit vorherrscht. Nur allzu leicht lässt sich in dieser Umgebung vergessen, dass die restliche Welt noch immer engstirnig, konservativ und prüde ist.

»›Sodomie? Wo hast du denn so ein Wort her? Das ist wohl aus der Bibel oder aus dem vorherigen Jahrhundert.‹
›Das heißt aber so.‹
›Nein, so heißt das nicht. Das heißt homosexuell oder schwul, aber Sodomie, das ist, wenn man sich mit Tieren abgibt.‹
›Es ist strafbar.‹
›Ja, mein Gott, es ist strafbar. Es ist aber auch strafbar, bei Rot über die Straße zu laufen, und das haben wir gerade gemacht.‹« (S. 131)

Die beiden Heiligenstädter freunden sich mit der Theaterstudentin Jacqueline und ihrer heimlichen Geliebten, der deutlich älteren Dozentin Herlinde an – beide Paare sind dazu verdammt, öffentlich den Schein zu wahren, in der Verborgenheit und Verstellung zu leben und ihre strahlende Liebe in die Heimlichkeit zu verbannen. Mit der Zeit reift in den vier Freunden der Plan heran, dass eine Schein-Beziehung oder sogar -Ehe die perfekte Tarnung wäre, um Verdächte zu zerstreuen und allen voran Pius zu besänftigen.

»Die beiden Paare lebten ihre Liebe im Verborgenen. (…) Sie achteten streng darauf, sich nicht zu verraten, kontrollierten sich unablässig, jede Geste, jede leichthin gemachte Bemerkung konnte Verdacht erregen. Wenn sie unter sich waren, fiel die Anspannung von ihnen ab, sie gingen freimütig miteinander um, neckten sich gegenseitig liebevoll, und scherzten gar darüber, wie sehr sie sich verbiegen mussten, um ihre Mitmenschen nicht zu verstören. Doch so leicht und locker, wie sie in ihren vier Wänden auch über sich selber zu scherzen vermochten, so war es, wenn sie ihre Wohnungen, ihre Studentenbehausungen verließen, geboten, sich in einen Mantel von Gutbürgerlichkeit zu hüllen. Der Staat drohte mit Strafe, die Universität konnte eine Abweichung nicht hinnehmen, die Straße, die Kneipe, die Nachbarn, die ganze Stadt würde sie nicht weiter dulden.« (S. 147)

 

Zwei Staaten stehen sich nahe

Es dauert nicht lange und das Schicksal trennt Friedl und Wolfgang erneut und mit dem Bau der Mauer wird klar, dass diese Trennung endgültig sein wird. Zwar sind beide nun in den unterschiedlichen deutschen Staaten gefangen und vom eisernen Vorhang getrennt, in Hinsicht aufgeklärte Toleranz nehmen sich die beiden Staaten aber lange Zeit nichts und beide jungen Männer haben wegen ihrer sexuellen Orientierung mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.

Friedl bleibt an seiner Uni in Leipzig und schlägt eine akademische Laufbahn ein, allerdings treten Einflussnahme, Kontrolle und Repressalien des DDR-Regimes immer deutlicher zutage. Studenten werden in speziellen Einführungskursen, die uniintern abschätzig »Rotlichtbestrahlung« genannt werden, auf den staatsideologischen Kurs geeicht, Friedl muss die systemische Hinterfragung seiner Publikationen erdulden, willkürlich werden ihm Ausreiseverbote erteilt und auch seine fehlende Parteizugehörigkeit, die Voraussetzung für beruflichen Erfolg ist, wird ihm zum Verhängnis. Als die berühmten Montagsdemos beginnen, hagelt es bereits Verhaftungen und Entlassungen. Doch auch nach der ersehnten Wende stehen die Zeichen nicht gut und Friedl wird fälschlicherweise als IM eingestuft, was ihn seinen Job und jeglichen Lebensmut kostet. Plötzlich laufen alle Fäden in seiner Lebenslüge zusammen und Friedl steht vor der Entscheidung seines Lebens: Eine schriftliche Erklärung seines Coming-outs könnte seinen Ruf gleichermaßen rehabilitieren und zerstören, ist die einzige Rettung seiner Existenz, doch für Friedl weiterhin undenkbar. Die Situation spitzt sich zu…

Bemerkenswert ist, wie gekonnt der Autor ein Gut-Schlecht-Schema bei der kontrastiven Darstellung von Friedls und Wolfgangs Leben in West- und Ostdeutschland vermeidet und sich um ein ganzheitliches, komplexes Bild des geteilten Deutschlands bemüht. So werden beispielsweise auch Unrecht und Missstände in Westdeutschland und nach der Wende nicht verschwiegen.

 

»›Mein Gott, Jackie, wir fliegen‹« (S. 304)

So aufwühlend und berührend die Geschichte von Friedl und Wölfchen ist, so groß ist meine Enttäuschung darüber, dass ihre Liebe so bald und unspektakulär scheitert, als die beiden auseinandergehen, getrennt durch eine Ländergrenze und bald schon auch durch emotionale Distanz. Die heimlichen Helden dieser Erzählung sind dagegen das lesbische Paar Jacqueline und Herlinde, deren Liebe bis zum Schluss Bestand hat und die letztendlich als einzige bereit und mutig genug sind, den Schritt zu gehen und ihre Liebe frei und öffentlich zu leben. Eine Selbstermächtigung, die die bereits recht betagten Frauen eine nie gekannte Leichtigkeit erfahren lässt. »Wir fliegen« – Schlusswort und Ausdruck dieser neugewonnenen Leichtigkeit – kommt zwar als »Titanic«-Zitat reichlich kitschig daher, und doch hat mir dieser so immerhin zu einem halben Happy End abgerundete Schluss gefallen.

Zwar könnte auch Friedl mittlerweile frei leben, doch kann er nicht anders, als sich zu verstecken und bis zum Schluss an seiner Lebenslüge festzuhalten. Auch wenn enge Bekannte sein Geheimnis längst erahnen. Im Gegensatz zu Wolfgang, der immer schon unbedarfter war und seinen Vater schließlich aufgeklärt hat und nun seine Neigung relativ ungeniert auslebt, allerdings immer mal wieder Arbeitsstelle und Wohnort wechseln muss, wenn er aufgeflogen ist, steht sich Friedl selbst im Weg. Zu sehr hängt er an seinem makellosen Ansehen in der Uni, an seinen altmodischen Werten, zu tief geprägt hat ihn die strenge Erziehung, unüberwindbar sein Glaube an die Sündhaftigkeit seiner Liebe.

»Er konnte seinen Eltern nicht, so wie Wolfgang, offen gestehen, dass ihn Frauen nicht interessierten und er sich mehr von Männern angezogen fühlte. Sein Vater hatte ihm mit dem Siebenstriemer eingebläut, dass seine Art, zu begehren, eine Sünde sei, eine himmelschreiende Sünde, vor Gott wie vor den Menschen ruchlos und unentschuldbar, eine frevelhafte Neigung, eine dämonische, satanische Lust. (…) Und ebenso hatte sich ihm seit seiner Kindheit eingebrannt, dass man nicht sündigen durfte, dass es Dinge gab, die nicht sein durften, die wider jede Moral waren. Wenn auch der Paragraph getilgt war, so lastete doch das Wissen um die eigene Sündhaftigkeit schwer auf ihm. (…) Und seine Liebe, sein Begehren war Unrecht, war gegen die Natur, beschämte und beschmutzte ihn.« (S. 218f.)

Letztendlich sind sie alle gefangen in ihrer Haut und ihrem Elternhaus, gefangen in den gelebten Konventionen der Gesellschaft. Auch Vater Pius scheint mir eine im Grunde tragische Figur zu sein, auch er ist gefangen in Angst, Hass und seinem Glauben an die Unverzichtbarkeit der körperlichen Züchtigung, wie sie seit Generationen mit dem Siebenstriemer in der Familie weitergegeben wird. Pius ist invalide, traumatisiert und im Grunde seines Wesens unglücklich seit den beiden Weltkriegen. Er ist streng, jedoch am strengsten zu sich selbst, tiefgläubig katholisch, was auch eine Bürde sein kann, und so stirbt Vater Pius sehr aufschlussreich und ganz metaphorisch an den Spätfolgen seiner Kriegsvergiftung.

Einschätzung

Die Lebensgeschichte von Friedeward wird ab den 50ern bis ins Jahr 1993 erzählt und liest sich überwiegend spannend, jedoch verliert Hein seinen Fokus für meinen Geschmack manchmal ein wenig zu sehr aus den Augen und gibt den Schilderungen der DDR-Verhältnisse und Uni-Politik viel Raum zulasten der Problematik sexueller Orientierung, unglücklicher Liebe und Scheinehe. Das ist auch der Grund, warum sich für mich die Jugend Friedls spannender liest als das Alter.

Achtung SPOILER: Auch das Ende hat mich nicht so recht überzeugt. Finde ich die Entscheidung des Autors, dass die Verhältnisse Friedl in den Suizid treiben, zwar richtig, so entfaltet dieser jedoch nicht sein ganzes dramatisches Potenzial, weil er unverständlich bleibt. Längst ist Homosexualität nicht mehr strafbar und wird in der breiten Gesellschaft auch nicht mehr so sehr und konsequenzenreich tabuisiert. Außerdem ist Friedl bereits 60 und könnte einem ruhigen Lebensabend entgegenblicken. Einen so Betagten die Verzweiflungstat der hitzigen Jugend begehen zu lassen, erscheint widersinnig oder zumindest nicht recht stimmig.

Stilistisch erweist sich Hein einmal mehr als routinierter und talentierter Erzähler, teilweise erscheint mir der Bericht aber etwas gestelzt oder so distanziert und umständlich in indirekter Rede geschildert, dass er beinahe klinische Züge annimmt.

 

Fazit

Christoph Hein erzählt in »Verwirrnis« von großen Gefühlen, tut das aber auf eine eher nüchterne Art, trotzdem ist Friedewards Geschichte sehr berührend und die Wendungen spannend. Hein erlaubt sich keine Gefühlsduselei, bis auf das leider etwas zu pathetische Ende.

Insgesamt präsentiert Hein eine interessante und gelungene Geschichte, die einen mitnimmt, aber noch um einiges kraftvoller hätte sein können. Streckenweise wirkt die Erzählung in meinen Augen zu stark distanziert, berichtet krampfhaft in indirekter Rede, was sehr gestelzt wirkt und nicht zum Thema passen will. Teilweise sind mir die Erzählerkommentare und Erzählhaltung zu abrupt, zu knapp, zu kühl, lakonisch, klinisch berichtet, stellenweise überwiegen Benennung und Aufzählung deutlich vor Bilder erschaffender Beschreibung – das fällt mir besonders an den Stellen auf, die ihr Kraftpotenzial voll ausschöpfen.

Die enorm starke Fotografie bildet ein fantastisches Buchcover zusammen mit einem Buchtitel, der in meinen Augen ein unheimlich guter, kaum merkbarer Neologismus ist, der mir sehr gefällt, aber den Kern der Geschichte nicht so recht zu treffen scheint.

Kurz gesagt: »Verwirrnis« ist nicht so umwerfend und emotional mitreißend wie zum Beispiel die Schwulengeschichte »Call me by your name«, beleuchtet dafür aber viel genauer die gesellschaftlichen Umstände der Zeit. Christoph Hein wählt einen toll gesetzten, sehr interessanten Themenkomplex, den er ausführlich beleuchtet, ohne je langweilig oder ausschweifend zu werden, sprachlich gelungen, gerät der Roman aber teilweise zu kühl und weckt das Gefühl, dass die Geschichte vielleicht noch mehr hergeben würde.

 

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»Verwirrnis« von Christoph Hein umfasst 303 Seiten, erschien am 13.08.2018 bei Suhrkamp und kostet im HC 22,00 €.

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