Literatur
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Anja Kampmann »Wie hoch die Wasser steigen«

»Das Meer spuckte aus, was es nicht mehr brauchte.« (S. 45)

Waclaw arbeitet seit zwölf Jahren auf verschiedenen Ölbohrplattformen auf hoher See, weit draußen im Niemandsland zwischen den Kontinenten. Seit zwölf Jahren hat er die Festlandwelt und dessen Bewohner hinter sich gelassen, wird diese immer bedeutungsloser und blasser. Sogar seine Mutter in diesem furchtbaren Heim und seine große Liebe Milena sind nichts als entfernte Erinnerungen. Doch als plötzlich sein bester Freund und Vertrauter Mátyás bei der Arbeit verunglückt, beginnt für Waclaw alles an Sinn zu verlieren. Er kehrt seinem Job den Rücken und irrt durch Europa auf der Suche nach Halt – zu müde, um ein neues Leben zu beginnen, aber auch in das alte lässt sich nicht zurückkehren.

»Einige schafften es, nach ein paar Jahren aufzuhören. Sie legten, was sie verdient hatten, beiseite. Bauten Häuser – kehrten zurück in diese Welten, die über Jahre die Innenwände ihrer Spinde ausgekleidet hatten (…) Andere trieben ab. Ohne zu wissen, wohin die Strömung sie trug. Ohne zu wissen. In all dem war Mátyás einer der wenigen, der aus sich selbst heraus zu schwimmen schien, eine Nadel, ein innerer Kompass.« (S. 234)

Kampmann stellt ein atemberaubendes Erzählgespür unter Beweis. Intensiv, dicht und poetisch wird erzählt, statt auf Narration, setzt der Roman auf das Eintauchen, die bedrückend aufwühlende Immersion in eine unbekannte Welt.

»der Körper holte sich zurück, was man ihm angetan hatte« (S. 53)

Waclaw kämpft mit einer ständigen Müdigkeit, die Körper und Geist lähmt. Zu lange schon hat er sich einer absurden Arbeit gewidmet, die gefährlich und körperlich aufreibend ist, ohne den Missbrauch gewisser Substanzen lassen sich die Schichten auf Dauer nicht schaffen. Zunehmend vereinsamende, aus der Welt gefallene Einzelgänger beherbergen jene Plattformen. Sie sind dem Versprechen des schnellen Geldes gefolgt, aber neben der ständigen Gefährdung und leiblichen Erschöpfung, haben die Arbeiter zunehmend auch mit der Eintönigkeit und Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit zu kämpfen. Sie alle sind ein kleines Rädchen in einer zerstörerischen Maschinerie der Ressourcenausbeutung. Die Macht des entwickelten Menschen trifft hier täglich auf das unbezähmbare Meer und Katastrophen wie die im Golf von Mexiko beweisen, wie die Mächteverhältnisse liegen. Auf den Plattformen ringen die Männer jeden Tag mit den unendlichen reizlosen Weiten des Meeres, das bis zuletzt einen Hauch seiner mythischen Sehnsucht beibehält; ein Horizont, der sich in das Auge einbrennt.

»Was siehst du? fragte er und deutete unbestimmt vor sich.
Dann zeichnete er den fernen Rand des Grases mit der Hand. Er sah sie nicht an.
Siehst du die Linie? Er zeichnete sie noch mal.
Sie geht nicht weg. Sie bleibt wie ein verdammter schwarzer Strich. Das ist die See.
Ein Strich, der dich trennt.

Presst sich einfach ins Auge und geht nicht mehr weg.« (S. 87)

 

Diese Ölbohrplattformen sind nicht nur unwirkliche Orte, abgeschieden und faszinierend unbekannt, sondern sie sind mehr oder weniger direkt mit der aktuellen Politik und Geschichtsschreibung verbunden. Wem gehört das Meer? Wer macht Geschäfte mit dem schwarzen Gold? Ganze Kriege werden um Öl(-vorkommen) geführt, während die Erde auf Verdacht hin durchlöchert und mit Chemikalien versetzt wird, wo häufig doch nur Schlamm und Steine zu finden sind.

Die Bohrinseln sind Anderwelten, benannt nach Kolossen und mythischen Monstern, die moderne Goldsucher anziehen – bis Waclaw selbst zur Insel wird, ohne feste Bindungen, isoliert und verloren. Von den vielen erwähnten Figuren erfährt man praktisch nichts, weil Waclaw nichts über sie weiß und sich auch nicht interessiert. Auch was ihn selbst angeht bleibt vieles unausgesprochen, aber – und das ist die Kunst – für den Leser nachspürbar, das Spiel mit den Lücken geht auf.

»Aber jetzt war der schmale Lichtspalt aus dem Kühlfach das einzige Licht, und da, wo es aufhörte, war lange kein Ufer, sie waren auf einem Floß und die Welt hatte sie vergessen. Sie waren keine Goldsucher, sie hatten nichts gefunden dort draußen. Sie trieben auf einem sehr breiten Strom, aber anders als die Helden in den Abenteuerbüchern seiner Kindheit konnten sie fallen, und diejenigen, die fielen, kamen nicht zurück.« (S. 99)

Die meisten Arbeiter sind Spieler, die kein Leben außerhalb der Bohrinseln haben. Entwurzelt, verschlossen und apathisch versaufen, vervögeln und verspielen sie ihr Geld während der kurzen Festlandsaufenthalte – »Was sie verspielten, rechtfertigte jede weitere Woche da draußen, ein Rhythmus aus Land und See« (S. 74f.). Das Warten auf Kommunikation mit dem Außen wird zu ihrem Lebensersatz.

»Die Decke des Casinos war unerwartet niedrig. Dieses Spiel sollte sein wie ein Erbrechen, Trauer erbrechen, Liebe erbrechen, er wollte nicht gewinnen, er wollte, dass es stiller wurde, wollte sich verlieren (…).« (S. 74)

»Wie hoch die Wasser steigen« zieht einen in den Bann und nimmt einen mit – ist beeindruckend, ernüchternd, atmosphärisch, sinnlich. Allerdings machen es einem sowohl Anfang als auch Ende nicht ganz leicht, denn wenn anfangs das Eintauchen, die Immersion in die fiktionale Welt, ihre Zeit braucht, so zieht sich die Erzählung nach hinten raus unangenehm in die Länge. Beides verzeiht man dem Roman jedoch gerne.

 

Wohin wirst du jetzt gehen?

Was Anja Kampmann vorführt, ist ein Roadtrip von Nordwestafrika, über Malta, durch Italien, bis an die polnische Ostsee, aber um die typische Komponente der Freundschaft oder Liebe beraubt, denn Waclaw ist vor allem eines: allein. Der Weg auf der Suche nach sich selbst und im Umgang mit seiner Einsamkeit wird immer wieder von Flash Backs durchbrochen – es sind Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Mátyás, die Waclaws jetzige Verlassenheit noch deutlicher zu Tage treten lässt. Diese sprunghaft-assoziativen Einschübe kommen jedes Mal sehr unvermittelt und es ist nicht ganz leicht ihnen zu folgen.

Im provinziellen Ungarn überbringt er die schlechte Nachricht zusammen mit Mátyás Kleidern an dessen Familie, hier nimmt Waclaw Abschied von seinem einzigen Freund. Im Ruhrgebiet, seiner alten Heimat, nimmt er schließlich Abschied von der eigenen Vergangenheit, denn hier hat schon seine halbe Familie sich im Bergbau kaputtgeschuftet. Und doch gelingt es ihm nicht, die Zeit der Bohrinseln abzuschütteln. Wie bei Kugelfischen lässt die Einsamkeit Gift im Inneren entstehen und Waclaw sieht sich außer Stande, jemanden an sich heranzulassen. Onkel Alois mit seinen freiheitsliebenden Tauben stellt sich dabei als wichtigste Hilfe beim Weitermachen heraus.

»Du weißt vorher nie, was der Preis ist. Und vor allem weißt du nicht, was du zu zahlen bereit bist. Wir können uns diese Dinge nicht zurückholen.

Komm jetzt.« (S. 208)

 

»Sie hatten ein anderes Leben gehabt, dort draußen auf See.« (S. 90)

Was die modernen Goldgräber verbindet, ist die Flucht als Lebensmotiv, der Kampf gegen eine gefühlte Leere, der unbändige Wunsch, die eigene Heimat hinter sich lassen.

»Er war nicht anderswo, die Kirche war tot, die Arbeiter waren fort, aber niemand hatte eine neue Erzählung begonnen, niemand hatte die Seite umgeschlagen.« (S. 312)

Es geht in diesem Roman um das Sich-Verlieren in einer bodenlosen, alles umfassenden, lebensfeindlichen Arbeitswelt, um den Versuch, sich ins Leben zurück zu kämpfen, um das über allem schwebende Damoklesschwert der Sinn- und Sprachlosigkeit. Waclaw droht zu ertrinken, Wasser dringt in seine Welt ein und raubt ihm Sicht und Stimme. Das Zurück in ein altes Leben, eine alte Liebschaft, scheint unmöglich, denn nichts ist mehr wie es war, die Welt hat nicht stillgestanden. Waclaw ist zum Fremden geworden.

»Alois sagte, die Zeit werde nichts für einen erledigen und einem nichts abnehmen, sie sei ein blindes Tier und man könne sich nicht auf sie verlassen. Das einzige, worauf es ankomme, sei der Mensch, wie er da steht, und dass er Versprechen geben könne und der Welt eine Bedeutung, und das sei das Einzige, was über ihn herausreiche.« (S. 223)

 

Fazit: »Hast du niemanden, der auf dich wartet?« (S. 214)

»Wie hoch die Wasser steigen« ist ein überraschender Roman, sehr dicht und poetisch geschrieben, auf jeder Seite überzeugend und mit gut recherchierter Expertise. Es wird gemächlich und detailreich erzählt, die sprachlichen Bilder, Vergleiche und Beschreibungen sind gelungen und intensiv miterlebbar. Er ist sprachlich anspruchsvoll, aber zugänglich, nichts zum Schmökern, dafür aber zum Versenken.

Kampmann wartet mit inspirierenden, berührenden, poetischen Gedanken über Sinn, Möglichkeit, Zugehörigkeit, Zeit und Freundschaft auf. Eine Reise, die es wert ist, sie mit Waclaw gemeinsam anzutreten.

»Alois schwieg. Als würde er auf etwas anderes hören. Als würden die Sätze nicht einfach enden. Als würden sie sich verzweigen, weit unter dem, was gesagt worden war.« (S. 206)

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»Wie hoch die Wasser steigen« von Anja Kampmann umfasst 352 Seiten, erschein am 29.01.2018 beim Hanser Verlag und kostet im festen Einband 23,00 €.

 

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