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I.J. Kay träumt sich »Nördlich der Mondberge«

Ein schneidend kalter Wind bahnt sich durch die Wohnung. Technobässe kommen von unten und lassen die frisch gestrichene Wand erzittern, auf der das Wort »Fotze« immer noch erkennbar ist. In der erschwindelten Resozialisierungswohnung fehlt jegliche Einrichtung und Strom gibt es auch keinen, da das Sozialhilfegeld auf sich warten lässt. Hier versucht Louise nach ihrer zehnjährigen Haftstrafe einen Neuanfang. Sie hat einen miesen Job in einer Donutfabrik bekommen, mit dem sie sich mehr schlecht als recht über Wasser hält, um sich ein normales Leben aufzubauen. Doch schon bald wird sie feststellen müssen, dass sich im Leben nicht Tabula rasa machen lässt und dass ihre Vergangenheit sie immer wieder einholen wird.

Das ist die Rahmengeschichte in »Nördlich der Mondberge«, dem Debutroman der zurückgezogen lebenden britischen Autorin I.J. Kay, über die der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt ist. Nicht einmal ihr richtiger Name, denn I.J. Kay ist ein Pseudonym – frech dem Alphabet entnommen und genauso aussagekräftig wie ASDF oder XYZ.

Louise, als Kind noch Lulu, hatte es nicht leicht. Ihre narzisstisch-neurotische Mutter Joan, die sich als verhinderte Bühnen-Diva versteht, hat den Psychoterror perfektioniert und ihr Stiefvater Bryce macht mit seinen Prügelattacken vor niemandem halt. So vereint sich in ihrem Elternhaus auf grausamste Weise physische und seelische Gewaltausübung mit Vernachlässigung. Und das hinterlässt Spuren: »Mama weiß nicht, wieso sie so ’n stammelndes Wrack zum Kind hat.« Lulu macht grammatikalische und orthografische Sprachfehler – so ist sie zum Beispiel »übergerascht« und »grimst«, wenn ihr Großvater ihr ein Buch über Afrika »mitgebrungen« hat. Das liegt aber nicht nur daran, dass es Lulu verboten wurde, die Schule zu besuchen, sondern an ihrer kreativen Aneignung von Sprache durch den wortschöpferischen, eigensinnigen Umgang mit Ausdrücken, Bildern, Lautlichkeit und Satzbau. »›Bloß, weil’s geht‹«, weil es »Kraft spart«, weil Lulu »spezial sein« will. Zwar glättet sich ihr Sprachbild mit der Zeit, aber gewisse Eigenheiten bleiben dennoch immer erhalten.

 

Mosaik oder Scherbenhaufen?

Die Geschichte wird in fünf größeren Erzählsträngen entwickelt, die unterschiedliche Phasen in Louises Leben abbilden. Allerdings werden diese zerstückelt und stakkatoartig präsentiert, ohne dass sich aus den unterschiedlichen Zeitebenen ein glattes, passgenaues Bild wie ein Mosaik ergeben würde. Einige Erzähllücken schließen sich auch bis zum Schluss nicht und es fällt schwer, alle Plotelemente und Nebenhandlungen zu erfassen und chronologisch zu ordnen. Auch werden beileibe nicht alle Fragen geklärt und Andeutungen aufgelöst, aber so ist das nun mal mit dem Gedächtnis, es trügt, und das Leben fügt sich selten in Formen der Stringenz und Kohärenz. Die zerklüftete Erzählstruktur korrespondiert mit dem traumatisierten und versehrten Geist der Ich-Erzählerin. Unvermittelt wird zwischen den verschiedenen Zeitebenen und -kontexten gesprungen, doch die altersspezifischen Spracheigenheiten helfen beim Einordnen der Binnengeschichten: Spricht das Kleinkind, das in seinem Elternhaus mehr und mehr in eine Fantasiewelt flüchtet? Spricht das junge Mädchen, das auf seiner Flucht vor Eltern und Jugendstrafanstalt in einem halb zerfallenen Sanatorium für Wohlhabende unterkriecht? Spricht die Anfang Zwanzigjährige, die mit Gwen, der »walisischen Schlampe«, zusammenwohnt und sich im Kasino zum Croupier ausbilden lässt? Oder die Einunddreißigjährige, die zehn Jahre für einen danebengegangenen Pistolenschuss im Gefängnis abgesessen und gleich noch fünf weitere Todesfälle gebeichtet hat, an denen sie möglicherweise nicht ganz unbeteiligt war?

Man kann die narrative Strategie von »Nördlich der Mondberge« als das Gegenteil von synchronoptischem Erzählen verstehen, welches horizontal angelegt ist und die Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten darstellen will, wie das zum Beispiel Florian Illies in »1913« prototypisch tut. Kay dagegen denkt vertikal. Sie erzählt von Louises Leben zu unterschiedlichen Zeitpunkten, verwebt diese Ungleichzeitigkeiten aber so stark miteinander, als würden sie sich annähernd parallel abspielen, und zwar im Innern der Protagonistin, die nicht nur die Chronologie, sondern Zeitlichkeit an sich aufhebt. In ihr brodeln Erinnerungen, Ereignisse und Eindrücke durcheinander und erzeugen einen wilden Trommelwirbel.

Wir haben es in »Nördlich der Mondberge« mit einer Protagonistin zu tun, die sich nicht nur auf außergewöhnliche Weise ausdrückt, sondern sich auch durch eine spezielle Wahrnehmung auszeichnet. Beobachtungsstärke trifft hier auf eine unerschöpfliche Fantasie, die Eindrücke in eigenwillige Bilder gießt.

»Eine alte Dame im Nachthemd kommt auf mich zu, Arme hoch, falls sie wegschwebt. Nehm ich mal an, hier gibt’s nicht viel Schwerkraft. Kein Sprechen oder Leutegeräusch, wie wenn alle staunen wegen der Sonne und die Wörter ihnen am Kinn runtergetropft sind. Frag mich, ob das hier ein tauber Ort ist.«

 

»Rien ne va plus«

Wenn man glaubt, dass nichts mehr geht, dass Louise im Trauma ihrer Kindheit gefangen ist und Gewaltausbrüche und begangene Verbrechen sie an den Rand der Gesellschaft verbannen, taucht doch noch ein Hoffnungsschimmer auf. Louise bekommt eine unverhoffte Entschädigungszahlung für einen Jahre zurückliegenden Arbeitsunfall und kann sich den lang gehegten Traum einer Afrika-Reise erfüllen. Im englischen Brachland gleich hinter dem Autobahnkreuz hat Lulu für sich schon als Kind die Mondberge aus Uganda und die Steppe der Massai Mara heraufbeschworen. Hier hat sie als Zulu-Kriegerin Büffel gejagt und ist mit den Antilopen um die Wette gelaufen. Afrika war für sie Flucht und Sehnsuchtsort. Eine Projektionsfläche, die allerdings auf ihrer einjährigen Rundreise entzaubert wird. Erlebnisse der Demütigung und Ungerechtigkeit, der Wut und schweren Krankheit reihen sich in atemberaubende Naturerlebnisse ein und Louise begreift schnell: »Himmel und Hölle sind derselbe Ort«. Und doch bedeutet Afrika auch die Versöhnung mit ihrer Vergangenheit durch einen entscheidenden Besuch und zum ersten Mal entdeckt Louise die Kraft wahrer Freundschaft.

Immer wieder sind es Figuren, mit denen die Vergangenheit erneut in ihr Leben hereinbricht. Im Laufe des Romans grenzen sich dabei die unterschiedlichen Zeitebenen zunehmend weniger voneinander ab. Immer häufiger durchbrechen kurze, unmarkierte Flashbacks die Erzählgegenwart. Kay komponiert ein buntes Potpourri von seelischen Wracks und gefallenen Engeln. Eine wichtige Rolle spielt hierbei immer wieder Sexualität, die als mysteriöses, düsteres Schmerzerlebnis erscheint, und die stets präsente Ahnung von Pädophilie, die Missklänge erzeugt. Da ist zum Beispiel der Sandwichmann, ein hilfsbereiter Nachbar, der Lulu das Angstspiel gelehrt hat, und der »samtiche Gentleman«, mit dem sie heimlich ihre Nachmittage im Bett verbringt. Die Grundhaltung der tragisch-traurigen Erzählung ist dennoch von einer distanzierten Kälte geprägt und wird erstaunlich häufig – verhalten zwar – humoristisch gebrochen. Ohne Distanzierungs- und Abgrenzungsstrategien hätte Louise ihre Kindheit nicht überstehen können. So zuckt man als Leser auch nicht jedes Mal zusammen, wenn eine der Figuren aufgrund eines unnatürlichen Todes aus dem Theaterarsenal ausscheidet, was wahrlich keine Seltenheit ist. Stattdessen gewöhnt man sich das trockene »Hm-hm« von Louise an.

 

Der Schmerz der Tage

Die Protagonistin ist eine eigenwillige, berührende, starke Frauenfigur, die sich Erwartungen entzieht und genauso oft Opfer wie auch Täter ist. Louise schwankt konstant zwischen den beiden Polen der Lebensmüdigkeit und Lebensgier. Doch schließlich gilt bis zuletzt: »We haven’t come all this way to die out in the ordinary.« Als Figur wird sie nie vollständig greifbar und verschwindet hinter diversen Namen: Als Catherine Clark, Kim Hunter, Beverly Woods, Jackie Birch oder eben Louise Alder erfindet sie sich immer wieder neue Identitäten und erhält neue Chancen. Und doch kann sie nicht vor sich selbst davonlaufen. Immer wenn die Trommeln lauter werden, gerät Lulu in einen regelrechten Rausch der Selbstzerstörung.

»Ich krieg das Trommeln und fang zu laufen an, bis die Seitenstiche mich umbringen. Komm schon. (…) Das Bett ist quer durch den Raum gewackelt. Wir haben gekämpft. Ich krieg die Augen nicht richtig auf, fühlt sich nach dicker Lippe und ausgerissenen Haaren an. (…) Ich fass mich vorsichtig an den Kopf. Hm-hm.«

Solche Momente der Autoaggression bleiben nicht in ihrem Gedächtnis hängen. Wie eine aus Träumen Erwachende muss Louise ihren Körper untersuchen, um das Geschehene zu rekonstruieren. Die Ich-Erzählerin hat nicht nur mit Gedächtnislücken zu kämpfen. Auch Halluzinationen, einbrechende Fantasiewelten, Lügengebilde, Flashbacks und mutwillige Auslassungen prägen die Erzählhaltung. Eine einerseits kluge und aufmerksame Beobachterin, die andererseits oft solange nicht weiß, ob etwas real ist, bis es sich bewegt. Louise berichtet so unzuverlässig wie nur möglich. Eine Ich-Erzählerin, die sich selbst nicht versteht: »Das Mädchen im Spiegel kennt mich nicht«. Und die sich auch nicht erklären will: »Kann ich nicht sagen. Geheimnis.« Das macht es den Lesern allerdings nicht einfach und fordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Ausdauer und Kombinationsgabe. Was hier und da auf Kosten der leichten Verständlichkeit geht, erschafft dafür im Großen eine beeindruckende Tiefe und lässt einen in kraftvolle, atmosphärisch dichte Welten eintauchen: Die Welt des Glücksspiels und der afrikanischen Berge, der Sozialwohnung mitten im Abschaum der Gesellschaft und des glamourösen Sanatoriums werden gehaltvoll und bisweilen magisch-märchenhaft bebildert und erlebbar gemacht.

»Das Licht geht an und es regnet. Es schüttet Perlenketten. Das Licht geht aus; die Perlen verwandeln sich in schlanke Ranken. Spektrallichter gehen an und aus, suchen sich ihren Weg durch blutunterlaufene Schwärze. Es regnet in der Blässe. Es regnet Zellophan. Es regnet Reis und kleine Nägel. Es regnet, schüttet tiefgekühlte Erbsen.«

Mit ihrem sprachlichen Stil bringt einen die Autorin gleichermaßen zum Verzücken und Verzweifeln. Entscheidende Informationen werden künstlich bis zum Romanende zurückgehalten, sodass man viele Fäden und Schnipsel des Handlungsmosaiks auf der Strecke dahin verliert. Der Plot bleibt sehr nebulös und so gleicht die Geschichte einer narrativen Kreisbewegung, die ihren eigenen Dreh- und Angelpunkt unablässig umkreist, einkreist und dem Kern Stück für Stück näherkommt.

 

Will der Roman zu viel?

Den Lesern wird ein enorm hoher Grad an Komplexität zugemutet. Und das nicht nur auf Ebene der Erzählstruktur und des Ausdrucks, auch die haarsträubende Mammut-Geschichte, gefiltert und zerstückelt von einer unzuverlässig-fantastischen Ich-Erzählerin, ist ein gewaltiges Unterfangen. Und das ist noch immer nicht alles: Kay versucht sich an der Zeichnung von Psychogrammen, Gesellschaftsanalysen, Metaebenen. Und am Ende wissen wir dann trotzdem noch nicht, was eigentlich auf der Flucht vom Elternhaus geschieht und an dem Abend, für den Louise ins Gefängnis kommt. »›Wir werden wohl nie genau erfahren, wie das passiert ist.‹« Oder wann. Und was genau.

Was lässt sich am Schluss also festhalten?

I.J. Kay macht es sich und uns mit ihrem Debutroman nicht leicht. Trotzdem lohnt es sich, durchzuhalten und aufmerksam dabeizubleiben, denn es gibt eine Menge zu entdecken. Auch wenn nicht jede Frage beantwortet wird, sind die temporeichen rund 450 Seiten doch genügend angereichert und die Spannung trägt einen bis zum Schluss. Kays Sprache und die aufwendige kompositorische Struktur, die sie ihrem hochgradig komplexen Roman gibt, bilden das bemerkenswerte Kernstück ihres Debuts und übersetzen inhaltliche Motive konsequent. So begegnen wir der traumatisierten Protagonistin – aggressiv, versehrt, eigenwillig wie sie sich uns darstellt – auf vielfältige Weise.

 

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»Nördlich der Mondberge« von I.J. Kay ist im Jahr 2015 erschienen. Kiepenheuer & Witsch gibt die 464 Seiten heraus, die im Hardcover für 22,99 € zu kaufen sind.

 

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