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Sarah Kuttner kennt ‘nen »Kurt«

»Also habe ich jetzt ein Haus und zwei Kurts. Im Grunde wie Pippi Langstrumpf.« (S. 46)

Sehr treffsicher legt die lässige TV-Moderatorin Sarah Kuttner mit »Kurt« eine tragische Familiengeschichte vor, die ins Herz trifft, ohne je Gefahr zu laufen, ins Feld des Kitsches abzurutschen. Zwar nimmt sie sich des schweren Themas der Trauerbewältigung nach dem plötzlichen Tod eines nahestehenden Familienmitglieds sehr einfühlsam an, dabei erzählt sie aber auch augenzwinkernd und leichtfüßig.

Man verliebt sich während der Lektüre zwangsläufig in Kurt, den großen und den kleinen, und dann gleich in diese ganze Truppe aus coolen, albernen, herzenswarmen Oranienburgern, was die Tragödie umso schwerer macht.

Überwältigend und entwaffnend schön erzählt die Autorin so viel auf so kleinem Raum und vermeidet dabei gekonnt Kitsch und Pathetisches.

 

Alles Kurt!

»Ich bin mit zwei Kurts zusammengezogen. Einem ganzen Kurt und einem Halbtags-Kurt. (…) Jana und Kurt haben sich entschieden, dass sie ihr Sorgerecht teilen, vor allem wenn Kurt schon extra aufs Land zieht. Und so pendelt das Kind nun wochenweise zwischen seinen beiden Oranienburger Zuhauses hin und her (…): zwei Häuser, zwei Kinderzimmer, unterschiedliche Regeln und alle Menschen, die er liebt. Und dann bin da noch ich.« (S. 45f.)

Die größte Herausforderung scheint für Lena das Haus in Brandenburg zu sein, dass sie zusammen mit ihrem Freund Kurt gekauft hat, und die neuen Familienverhältnisse, die sich daraus ergeben. Nicht nur, dass sie dem Hauptstadtleben und ihren Freunden den Rücken kehren, ab sofort wohnt das Paar auch mit dem kleinen Sohn von Kurt zusammen – ebenfalls ein Kurt –, zumindest wochenweise. Nun gilt es die Beziehung gegen Alltagsstreitigkeiten und -müdigkeiten zu verteidigen, das Haus auf Vordermann zu bringen und sich in die WG-Situation mit einem 6-Jährigen einzugrooven. Aber wie verhält man sich als die neue Freundin nach einer Scheidung? Was sind Rechte, Pflichten und Grenzen einer Nicht-wirklich-Stiefmama? Ja, was ist Lena eigentlich für den kleinen Kurti? Wie sehr darf sie mitreden, miterziehen, mitbestimmen? Überall lauern Unsicherheiten und Probleme einer ganz normalen, komplizierten, modernen Familie.

»(…) und plötzlich fühle ich mich, als würde ich nicht dazugehören. Als würde ich die Kurt-Party stören.«        (S. 13)

Lena entdeckt den Garten für sich als Ersatzfeld für Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Schönheit, Arbeit und Kontrolle – in diesem Aushängeschild für das Provinzielle kann sie aufgehen und gestalten, Baumarktbesuche inklusive.

»Oranienburg war also keine Wahl, sondern eine notwendige Entscheidung. Für Kurt. Den kleinen. Der große hatte anderthalb Jahre versucht, aus Berlin heraus eine vernünftige Vater-Sohn-Beziehung weiterhin möglich zu machen, aber spätestens, als Kurt letzten Sommer hier eingeschult wurde, plötzlich so richtige Erwachsenenverpflichtungen hatte, war diese Fernbeziehung nicht mehr entspannt und ohne emotionale Verluste machbar. Also haben wir ein Haus gekauft. Es fühlte sich nicht gänzlich falsch an. Sinnvoll sogar (…).« (S. 43)

Doch dann passiert das Unvorstellbare: Der kleine Kurt stirbt bei einem Sturz vom Klettergerüst und lässt drei Erwachsene zurück, die komplett aus dem Gleichgewicht geraten.

Ȇberraschenderweise hinterlässt einen der Tod erst mal gar nicht nur traurig, sondern vor allem fassungslos. Er wirft eine dicke, undurchlässige Decke aus lähmendem Entsetzen über Hinterbliebene und versucht, sie darunter zu ersticken. (…) Ich kann Kurts Decke nicht heben. Ich habe es versucht. Wir liegen nicht unter derselben.« (S. 91)

Was passiert, wenn das Zentrum einer Patchworkfamilie plötzlich aus dem Leben gerissen wird? Alle driften chaotisch auseinander, geraten aus den Fugen, kreisen um sich selbst, verletzen sich gegenseitig, verlieren einander, verstummen, verhärten, lösen sich auf, wenden sich ab und sind schließlich doch gezwungen, die Dinge neu zu ordnen, zu kitten und weiterzumachen. »Kurt« erzählt von Trauerarbeit, Zusammenhalt und dem Wachsen an Tragödien.

»Vielleicht möchte Kurt deswegen keinen Trost. (…) Weil im Grunde natürlich allesallesalles weitergeht. Die Welt bleibt nicht für eine beschissene Sekunde stehen. Sie zögert nicht einmal.« (S. 105)

 

Fazit: Wo getrauert wird, fallen auch Späne

»›Wie geht es dir?‹, frage ich.

›O.k.‹, sagt Kurt schulterzuckend und dreht die Musik lauter. Wie viele dieser geschlossenen Türen ich wohl noch ertragen kann?« (S. 133)

Im Grunde geht es immer wieder um das Russisch Roulette der Nähe, schon vor, aber vor allem nach dem Verlust eines Kindes. Wann ist Nähe, Trost, Körperlichkeit oder Zuspruch die richtige Wahl, wann braucht es Zeit, Ruhe und Freiraum? Was darf, muss, soll…? Sarah Kuttner erzählt von der Suche nach Familie, Geborgenheit und einem Heim, und davon, dass nichts von dem wirklich planbar ist.

»Ich bekomme Heimweh. Oder nur Weh, ich kann es dieser Tage nicht mehr so richtig unterscheiden.« (S. 146)

Sie erzählt vom Tod eines Kindes, dem Vorher und dem Nachher, dem Trost einer Hollywoodschaukel und der Hoffnung, dass sich alles wieder findet.

»Und es wird nie ganz aufhören, weißt du? Es ist nicht wie Liebeskummer. Es wird nie ganz vorbei sein. Auch in zehn Jahren wird Kurt seinen Sohn vermissen und um ihn trauern. Es wird nicht wieder so wie vorher. Es wird wieder leichter irgendwann, da bin ich ganz sicher. Aber es wird nie nicht passiert sein.« (S. 171)

Der Autorin gelingt es, den Eindruck der Echtheit zu erzeugen. Die Geschichte wirkt aus dem Leben gegriffen, die Figuren authentisch, liebenswürdig und neben der schrecklicher Trauer wird auch von Alltag, Sex und Wursteinkauf erzählt, was den Roman tragikomisch werden lässt und seinen Reiz ausmacht.

Sarah Kuttner beglückt ihre Leser*innen mit einer ganzen Bannbreite erzählerischer Nuancen: Ihr Roman erzählt zart und sensibel, gleichzeitig aber auch unaufgeregt von einem schrecklichen Verlust. Direkt, einfach, tiefsinnig, kraftvoll, aber genauso leichtfüßig, kurzweilig, witzig und berlinernd bedient sie sich einer klaren eigenen Handschrift. Sie schildert extrem sympathische, normal verrückte Figuren bei ihrem Kampf um Trauer und Kraft, stellt Fragen, auf die es keine Antworten gibt und bleibt dabei stets lässig, pointiert und lebensnah.

»Die Wärme seines Hoodies, der Geruch seiner Haut. Ich fühle mich getröstet. Nicht so sehr von Kurt, eher vom Leben. Und ein bisschen von Brandenburg.«

»Kurt« ist ein ganz starkes, einnehmendes Buch und jetzt schon ein klares Lesehighlight des Jahres. Der schmale Roman haut einen um und füllt einen mit Emotionen ab, Freude, Liebe, Leid, macht dabei aber immer Spaß und ist auf keiner Seite langweilig. Eine ganze Weile trägt man den kleinen Kurti noch mit sich herum, seelisch.

Trotz des brockenschweren, ernsten Themas ist der Roman ein wahrer Genuss und schließlich ein Fest der Lebensfreude und Hoffnung und ein Plädoyer dafür, sich etwas Kindlichkeit bis zum Schluss zu bewahren.

»Vielleicht mache ich mir gleich vor lauter Gefühl ein bisschen in die Hose.« (S. 240)

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»Kurt« von Sarah Kuttner umfasst 240 Seiten, erschien am 13.03.2019 beim S. Fischer Verlag und kostet gebunden 20,00 €.

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