Literatur
Schreibe einen Kommentar

Angela Lehner »Vater unser«

»Die Irrenanstalt als Naherholungsgebiet« (36)

»Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.« (25)

Was hat Eva Gruber angestellt, dass sie von der Polizei in die Irrenanstalt gebracht wird? Angela Lehners Debüt, das den Österreichischen Buchpreis 2019 gewinnt, erzählt vom Irrweg einer Familie aus der Sicht der Tochter – eine Geistesgestörte, die man in sein Herz schließt und der man bis zum Schluss nicht ganz trauen kann.

»Womit könnte man besser ausdrücken, dass man am Boden der Tatsachen angekommen ist, als mit Plastikboden?« (25)

Hat Eva tatsächlich, wie sie sagt, eine ganze Kindergartenklasse erschossen? Der Gedanke drängt sich auf, dass sie ihre Krankengeschichte frisiert, um in das Wiener Spital für psychisch Kranke aufgenommen zu werden, in dem auch ihr kleiner Bruder Bernhard wegen seiner Essstörung und Angstzustände lebt. Und was ist zwischen den beiden Geschwistern vorgefallen, dass Bernhard ihre Fürsorge und Nähe als Bedrohung betrachtet?

»Bernhard ist der einzige Mensch, dessen Furcht für mich schlimmer ist als meine eigene. (…) Ich lache meinen dummen Bruder aus, der vor allem Angst hat. Es ist leicht, die Mutige zu sein neben einem solchen Feigling. Als Kind wäre ich die erste gewesen, die Bernhard auf dem Schulhof verprügelt hätte, wäre er nicht mein Bruder gewesen.« (22)

»Die Eva lügt immer«, hieß es schon damals in der Schule. Ist es Lüge, Kalkül, Manipulation, Spaß oder verliert sich diese wechselhafte Protagonistin tatsächlich ungewollt immer mehr in einer Welt abseits der Realität?

»Morgen ist ein neuer Tag, den man zugrunde richten kann.« (38)

Was feststeht, ist, dass die Eva Spaß macht. Unterhaltsam parodiert sie therapeutische Klischees. Sie liefert sich frech-flapsige Dialoge mit ihrem Psychiater Korb, die einem Tanz, einem Spiel gleichen, wo (vorgetäuschte) Vergewaltigungen weggelacht (»Missbrauch ist ein ausgelutschtes Thema«) und unsichtbare Tschicks geraucht werden, und sich eine zarte Freundschaft anbahnt. Eva liefert am laufenden Band schlagfertige, unverschämte Sprüche, mit denen sie die Leute vor den Kopf stößt und besonders männlichen Autoritäten den Wind aus den Segeln nimmt. Denn die Regeln machen die Gesunden.

»Ich habe es wirklich satt, immer der Katalysator für die Passiv-Aggressiven zu sein. Sie kommen zu mir und reizen mich mit einem Stock – oder einem Fräulein, bis ich zubeiße. Oder eben schreie. Ich soll für sie ihre Wut ausleben, weil sie es sich selbst nicht trauen.« (169)

Sie zeigt sich als gehässiges Plappermaul mit sympathischem, österreichischem Dialekt – rabiat, zynisch, dreist, provozierend und saukomisch. Eine Protagonistin, an der man sich reibt. Und ganz nebenbei liefert die Gruber messerscharfe, mit Ironie durchzogene Gesellschaftsanalysen, legt den Finger mit ihrem unangepassten Verhalten genau in die Wunde. Völlig unbeeindruckt von ihrer Situation im Anstaltshaus stolziert sie herum und nimmt niemanden ernst, beginnt ihre Therapiestunde mit »Dann sag ich doch mal nix zum Ficken.« – doch hinter dieser Show erahnt man schnell, dass Abgründe und psychische Probleme in Eva schlummern. Korbs Diagnose: latent rassistisch, aggressive Tendenzen und vor allem widersprüchlich.

»Ich lächle Korb an, stehe auf und gehe zur Tür. Ich drücke die Klinke nach unten, aber die Tür bewegt sich nicht: abgesperrt. ›Korb‹, sage ich und drehe mich um, ›das wäre so ein cooler Abgang gewesen. Sie haben es mir versaut.‹ ›Frau Gruber‹, sagt er, ›das ist keine Show, das ist ihre Therapie.‹ ›Ja‹, sag ich und gehe zum Diwan zurück, ›wenn das meine Show wäre, würde es auch bessere Snacks geben.‹« (30)

Was genau da in der Familie Gruber vor sich gegangen ist, das zur Erosion und Spaltung führte, lässt sich nur erahnen. Die Hoffnung auf eine ‘Auflösung‘ der Vorgeschichte dieser kranken Familie stirbt dann spätestens zusammen mit dem Chefpsychiater Korb. Oder hat Eva sich seinen leblosen Körper in der Schlinge nur eingebildet?

                »Ein freier Tod ist eine Gnade, die einem die Gesellschaft nicht zugesteht.« (131)

»›Okay‹, sagt er, ›dann bringen wir ihn halt um.‹« (221)

Zunächst lassen sich die kleinen Tänzchen um das Vertrauen der beiden eingewiesenen Geschwister, um das Knacken ihrer errichteten Panzer, beobachten, dann kippt die Geschichte plötzlich und entwickelt sich zu einer blindwütigen Entführung Slash Flucht der beiden mit der Mission, den Vater umzubringen, weil er es verdient hat. – In ihm sehen sie das familiäre »Geschwür«, den Ursprung ihres Schmerzes: In dem feigen, lethargischen Familienoberhaupt, dass sich einfach eine neue Familie, ein neues Glück gesucht hat. Eine Irrfahrt durch die österreichische Provinz, eine katholisch-konservative Gesellschaft, beginnt.

»Im Dorf waren alle Augen, alle Vorhänge offen, und die Mutter wusste es. Sagte es dem Vater fast jeden Tag, sagte es mir immer wieder. Ironischerweise war es dann mein Bruder, der dem Ansehen der Mutter fast den Garaus gemacht hätte. Es war ein Jahrhundertereignis.« (121)

Fazit

Angela Lehner entwirft eine Protagonistin, die so noch nicht dagewesen ist. In Sekundenbruchteilen fällt die Narration von ironisch-salopp zu düster-dramatisch und findet in seiner vielschichtigen, anspielungsreichen Unklarheit die richtige Balance. Irrwitzige, flotte Dialoge, absurde Kommentare und gestörte Gedanken – die Leser*innen sind ganz nah bei Eva, gefangen in ihrer wahnhaften, mindestens unzuverlässigen Perspektive, und in ihrer Nicht-Greifbarkeit kommt sie einem doch unbeschreiblich nahe. Weil hier niemand über der Geschichte steht und keine Gewissheiten gehandreicht werden, weil sie alle im Recht sind und herrlich-tragisch irre – ein unfassbar energiegeladenes, mutiges und konsequentes Debüt!

»Jetzt schaue ich mir meine Angst an. Man muss sie hin und wieder beachten wie ein Kleinkind, sonst schreit sie im Hintergrund nur noch lauter, bis man irgendwann gar nichts anderes mehr hört.« (227)

 

Anzeige:

»Vater unser« von Angela Lehner umfasst 284 Seiten, erschien am 18.02.2019 bei Hanser Berlin und kostet im festen Einband 22,00 €.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert