Literatur
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Mariana Leky erahnt, »Was man von hier aus sehen kann«

Selma ist Luises Großmutter und wenn sie von einem Okapi träumt – dem unwahrscheinlichsten Tier der Welt, bei dem wirklich nichts zusammenpasst –, dann wissen alle im Dorf: Jemand wird in den nächsten 24 Stunden sterben. Ihre Verzweiflung über die Ungewissheit, wen von ihnen es treffen wird, entlockt vielen von ihnen lange zurückgehaltene Wahrheiten – Geheimnisse, die nicht ohne Grund gehütet wurden –, die den gemächlichen Trott ganz schön durcheinander bringen.

Doch diesmal fällt Martin dieser totbringenden Weissagung zum Opfer. Der beste Freund von Luise, der für sein Leben gern Gewichtheber imitiert, um zu vergessen, dass sein trinksüchtiger Vater missgelaunt zu Hause wartet, fällt auf dem Weg zur Schule – genau während ihres Lieblingsspiels „Ich sag dir, was du siehst, mit verschlossenen Augen“: Weide, Weide, Weide, Busch – einfach durch eine nicht richtig verschlossene Zugtür und bringt die Welt aller Dorfbewohner aus den Fugen.

Nichts ist mehr wie es war. Luises Vater bricht auf eine Weltreise auf, die ihn nicht mehr loslassen wird. Die Mutter fängt eine Affäre mit dem Eisdienlenbesitzer an. Martins Vater gibt in seiner Einsamkeit das Trinken und Sprechen auf und findet zu Gott. Und der Optiker, der beste Freund von Selma, der schon immer auch heimlich in sie verliebt war, wird zusammen mit Selma und dem Riesenhund Alaska Luises Familie, Refugium und Hoffnung. Eine selbstgewählte Kernfamilie, die enger nicht zusammenrutschen könnte, während sie den Launen der Zeit trotzen. Auch als Luise eine Ausbildung beim Buchhändler anfängt und sich in einen japanischen Buddhistenmönch verliebt, sind der Optiker und Selma diejenigen, die ihre Verstockung vertreiben und sie in die richtige Richtung stupsen.

Mariana Leky entwirft ihre Figuren mit einer Detailverliebtheit und mütterlichen Zärtlichkeit, die mir noch nicht untergekommen ist. So plagen den Optiker eine ganze Bande Stimmen, besonders laut ab 21 Uhr, die ihm die Bösartigkeit der Welt und Unzulänglichkeit seiner selbst einreden wollen, und die Nachbarin Elsbeth versucht das Laub vom Baum zu föhnen, um den Herbst vorzuziehen und die Trauerzeit zu beschleunigen, wenn sie nicht gerade von einem Aufhocker besprungen wird – derjenigen fiesen Kreatur, die die Nackenverspannungen hervorruft. Sie alle bilden die schillernden Einzelteile dieser herrlich schrägen Welt, in der auf wundersame Weise alles zusammenhängt und von der man gar nicht genug kriegen kann.

Leky kleidet ihre skurrilen Szenen und liebenswürdigen Chaoten in eine zauberhafte Sprache. Unendlich einfallsreich und herzerwärmend – zurecht das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen aus dem vorletzten Jahr! Und so erfrischend anders, ich kenne nichts Vergleichbares.

 

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»Was man von hier aus sehen kann« von Mariana Leky umfasst 320 Seiten, erschien am 18.07.2017 bei DuMont und kostet im Hardcover 20,00 € und als Taschenbuch 12,00 €.

Eingelesen von der fantastischen Sandra Hüller, erschien der Roman ungekürzt auch als Hörbuch bei RoofMusic (6 CDs, 8 Std., 20,00 €).

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