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Tom Rachman: »Die Gesichter« des Bear Bavinsky

»›Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich das klarstelle, Charles, aber dein Vater ist ein wahres Ungeheuer‹, sagt Marsden anerkennend.« (S. 119)

Der neue Roman des britischen Autors Tom Rachman ist ein Künstlerroman, stark geknüpft an eine Familiengeschichte. Es geht um die Beziehung von Charles zu seinem Vater Bear, einem gefeierten Maler von Aktportraits. Es geht um das Leben im Schatten eines berühmten Mannes, das Streben nach Anerkennung, um den täglichen Kampf eines Künstlers, das Vatersein, die Suche nach der eigenen Bestimmung und Begabung und ganz nebenbei wird ein ungemein spannender Blick hinter die Kulissen der Kunstwelt gewährt.

Sehr nachdenklich stimmen einen die tragischen Bemühungen von Charles (auch Pinch genannt), der ein Leben lang versucht, seinem exzentrischen Vater gefallen zu wollen. Dieser ist selbst, wenn er liebevoll ist, noch egozentrisch, unempathisch, rücksichtslos, manipulativ und launisch. Bear Bavinsky ist ein Mann, der für seine Arbeit lebt, ein charmanter und leidenschaftlicher Lebemann mit ausschweifendem Privatleben, der immer wieder seinen jungen Modellen verfällt und insgesamt 17 Kinder und zahlreiche Ehen, teilweise sogar parallel, ins Leben ruft. Er ist ein wahres Monster.

Ich schätze Rachmans Stil sehr und nehme mir mal wieder vor, mehr von ihm zu lesen. Hier erwarten einen gelungene Sprachbilder, unglaublich lebendige Figuren, eine greifbare Atmosphäre und viel Gefühl. Rachman hat ein besonderes Händchen für Metaphern, Emotionen und Schönheit, immer wieder erschafft er sehr dichte, aufgeladene Situationen.

Der Roman gleicht einer Vernissage: fünf Gemälde in einem Ausstellungssaal, die von den einzelnen Lebensabschnitten von Charels Bavinsky erzählen. Die fünft Teile des Romans in fünf komplexe Gemälde gefasst. Jede Lebensstufe ist dabei gleichzeitig eingelassen in ein Stadtportrait – Rom, London, Toronto, New York und immer wieder Südfrankreich, das sind die Stationen, an denen sich Pinchs abwärts taumelndes Leben entlanghangelt.

Sie leben und sterben für die Kunst

Sein Leben lang ist Pinch ein etwas seltsamer Einzelgänger, unsicher und unbeliebt bis auf sehr wenige Freunde während des Kunstgeschichte-Studiums in Kanada. Und sein Leben lang führt Pinch neben diesem einsamen Leben auch das geheime zweite Leben eines Malers im Atelier seines Vaters in Südfrankreich. Verbissen übt er Techniken und Motive und verbrennt seine Werke anschließend wieder, bis zum Schluss weiß niemand von seinem Talent. Eine Ausnahme davon bilden nur seine Mutter, die selbst an ihren künstlerischen Ansprüchen und der Nichtbeachtung ihres Werks durch die Öffentlichkeit zerbricht und früh Suizid begeht, und sein Vater Bear.

»Ist das eine Tragödie? Dass die Höhepunkte meines Lebens in meinem Innern stattfanden?« (S. 377)

Die Einweihung seines großen Malervaters in dieses Geheimnis und der Versuch ihm nachzueifern und ihn stolz zu machen, ist gleichzeitig ein zentraler tragischer Wendepunkt in Pinchs Leben. Als er Bear mit fünfzehn das erste Mal bei dessen neuer Familie in einem Vorort von New York besucht, zerstört der Maler die Hoffnungen seines Lieblingssohns mit einer einzigen beiläufigen Bemerkung auf ewig. Sein ganzes Leben lang zahlt Pinch die Schuld seines Vergehens – »aus dir wird nie ein Maler werden« – ab. Alles was er macht, eine gescheiterte Wissenschaftskarriere und schließlich eine Lehrertätigkeit an einer bescheidenen Sprachschule, erscheint als einzige Enttäuschung, sein Leben vergeudet. Er hat sich verloren in den großen Fußstapfen seines berühmten Vaters. Als Leser ist man ziemlich deprimiert von Pinchs Abstieg, besonders da er sich zur Gänze aus einer einzigen bösartigen, und wie sich später herausstellt, berechnenden Bemerkung seines Vaters ergibt – und doch bleibt der Roman bis zum Schluss interessant, wartet immer wieder mit neuen Wendungen und Überraschungen auf. Zum Ende hin steigert sich Rachman noch und die Geschichte nimmt hoch emotionale und spannungsgeladene Krimi-Züge an.

Rache, Wiedergutmachung und Aussöhnung mit dem Vater

»Ein Mund, der Modelle bezirzt hat, Pablo Picasso wütend machte, der Töchter aufklärte und Söhne vernichtete.« (S. 300)

Der große Bear Bavinsky bildet das schillernde Zentrum der Geschichte und ist faszinierend und abstoßend zu gleichen Teilen. Noch in hohem Alter ist er ein genießerischer Lebemann und ausgefuxter Verführer, der keine moralischen Bedenken kennt. So vereinnahmend charmant, interessant, und auf gewisse Weise liebevoll Bear aber auch sein kann, fängt man trotzdem an ihn immer mehr zu hassen. Er scheint mit Menschen lediglich zu spielen und zerstört unbemerkt ganze Existenzen. Er behauptet sich selbst, indem er andere systematisch kleinhält. Umso tragischer, dass Pinch ihn immer wieder in Schutz nimmt, sich selbst schlecht macht und stattdessen mit seinem Vater angibt, als wäre er das Beste an Pinch. Er vergöttert den Maler regelrecht, will ihm bis zum Schluss alles recht machen und ein Denkmal setzen, egal wie oft sein Vater ihn auch enttäuscht. Als Leser entwickelt man den immer drängenderen Wunsch, dass Pinch endlich einmal wütend wird und sich frei machen kann von der Herrschaft Bears. Stellvertretend dafür steht Pinchs Besessenheit von Caravaggio, dem er auch seine Doktorarbeit gewidmet hat, und all das nur zu Ehren seines Vaters und einer flüchtigen Bemerkung, die dieser mal zum Altmeister Caravaggio gemacht, und die dieser jetzt nicht mal mehr erinnert und längst revidiert hat. Pinchs Gefallsucht und alle Versuche bleiben einer tragischen Vergeblichkeit verhaftet. Diese Unzufriedenheit eskaliert in der Todesnacht seines Vaters, als dieser ihm offenbart, dass er Pinch von all seinen Kindern ausgewählt hat, um ihm zu dienen. Er brauchte seinen Lieblingssohn als Dolmetscher, Assistent und Archivar für seinen Nachlass, ganz und gar nicht gebrauchen konnte er ihn allerdings als talentierten Künstler, als den er ihn schon mit fünfzehn erkannte, und letztlich als Konkurrenz um den wenigen Platz an den Wänden der Galerien und Museen. Es entspinnt sich ein absurder Feldzug gegen die eigene Familie, ein Kampf um die Nachwelt und seinen Platz in der Literaturgeschichte, und das auch noch über Bears Tod hinaus…

»›Weil Dad es nicht böse meint. Er ist einfach so. Wie ein riesiges Schiff, das stetig vorwärtsdampft und das niemand aufhalten kann.‹« (S. 155)

»Es gibt einfach nicht genug Beat Bavinsky für alle.« (S. 223)

Mit Bears mysteriösem Ableben beginnt ein irrwitziger Wettlauf. Seine zahlreichen Ex-Frauen und Kinder, »die Ratten«, wollen endlich ihren Teil vom Kuchen abhaben. Sie zetteln einen hässlichen Erbstreit, eine von Anwälten ausgetragene Schlammschlacht, an und machen Bear zur knappen, wertvollen Ressource. Pinch kommt dabei als auserwähltes Lieblingskind und Erbverwalter eine Schlüsselrolle zu: Er errecht die Versöhnung innerhalb des Bavinsky-Klans durch den Verkauf eines gefälschten Nachlasses, eine wahnwitzige Idee, mit der er glaubt, es allen Beteiligten recht machen zu können. Er selbst aber lebt von nun an in ständiger Angst der Enthüllung. Schließlich geht Pinch noch einen Schritt weiter und stellt eigene Arbeiten, ein angebliches Spätwerk, im Namen seines Vaters her – die titelgebenden »Gesichter«, die die Portraits von Bear immer vorenthalten haben, stehen hier im Fokus und sie zeigen alle seine Kinder. Pinch rehabilitiert so das Andenken seines egozentrischen Vaters und bringt sich selbst Erlösung als Künstler. Die moralische Frage hinter dieser Fälschungsgeschichte klingt zwar an, aber wird von Erleichterung hinweggespült.

 

»›Ständig dreht sich alles nur um seine Kunst‹, klagt Birdie. ›Er interessiert sich kaum für seine eigentlichen Schöpfungen.‹« (S. 49)

Die Kunst verlangt Hingabe und Opferbereitschaft genau wie die Elternschaft – (wie) lässt sich beides vereinen? Diese Frage scheint hinter der Geschichte um Bear und Pinch Bavinsky auf und es ist eine unbeantwortbare Frage, die nachdenklich stimmt.

»›Für einen Künstler bist du eindeutig nicht verkommen genug‹, erklärt Marsden. (…) ›Du leidest an dem fatalen Manko, ziemlich nett zu sein, Charles. Jeder große Künstler aber muss in der Hölle enden. (…)‹« (S. 120)

Bear war ein katastrophal unfähiger Vater, der Menschen ins Unglück gestürzt hat und keine Reue kannte. Aber vielleicht war er gerade deswegen ein so genialer Künstler? Pinch dagegen ist aufopferungsvoll um andere bedacht, fühlt sich in der Passivität zu Hause und hatte nie die Ausstrahlung, um eine Künstlerpersönlichkeit zu werden. Er ist in vielerlei Hinsicht die Gegenfigur seines Vaters. Erst der Name Bears als Maskerade ermöglicht es ihm, sein eigenes Werk einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auch wenn er so auf die Ehre des Schöpfers verzichten muss.

»Ich werde nie wie mein Vater, weil ich schon immer wie meine Mutter war.« (S. 148)

 

 

Kunst ist Krieg

»All die Jahre, die zahllosen tyrannischen Zweifel, und das nur in der armseligen Hoffnung, fremde Leute bleiben eines Tages vor ihrem Werk stehen, um es zu betrachten, vermutlich nur für wenige Sekunden. Allein dafür haben sie gekämpft. Was für getriebene Leben!« (S. 392)

Jeder Künstler schlägt sich wohl mit dem eigenen Anspruch, Selbstzweifeln, der Frage nach dem guten Geschmack, nach Sinn und Unsinn von Kultur und dem Druck des Marktes und Trends herum – eine quälende und kraftraubende Schlacht, die jeden Tag aufs neue ausgefochten werden will. Sowohl Bear als auch Pinch, die zu einer Zeit, als sich eine provokante postmoderne Kunst etabliert, noch fest den Altmeistern und den klassischen Techniken verhaftet sind, werden immer wieder mit den Fragen konfrontiert, was Kunst ist, was dann wiederum gute Kunst ist und wem die wichtige Kunst gehören sollte. Ihre Argumente müssen sich harten Prüfungen unterziehen…

»›Mein wahres Leben findet statt, wenn ich arbeite. Ganz und gar. Der Rest – alles andere – ist bloß Schwindel. Und das ist eine Tragödie, denn was genau tue ich? Farbe auf Leinwand schmieren? (…)‹« (S. 87)

 

Fazit: Stummer Schrei nach Liebe

Tom Rachman beleuchtet in »Die Gesichter« das menschliche Streben nach Anerkennung in all seinen Facetten, ausgetragen auf der faszinierenden Bühne der Kunstwelt. Der Kunstroman mit dem so umwerfend schönen Cover, der eigentlich eine Familientragödie ist, macht seine Leser abwechselnd traurig, wütend und nachdenklich. Er ist spannend und klug, die meiste Zeit eher gemächlich erzählt, zwischendurch etwas schleppend, aber niemals ermüdend, und wartet dafür mit einem fulminanten Schlussteil mit Wumms auf. Rachman nimmt sich die Zeit, um eine komplexe Geschichte zu erzählen und seinen Figuren gegenüber gebührend viel Material und Sinn fürs Detail aufzubringen.

Sprachlich konnte Rachman mich absolut für sich einnehmen. Mir gefällt sein schlichter Stil, die aufgeladenen Bilder, authentischen Figuren und erregten Dialoge. Figuren und Situationen werden so gezeichnet, dass sie einem einiges zwischen den Zeilen zu erzählen haben.

Ihr seid meine Zeugen: Ich möchte mehr von Rachman lesen, unbedingt!

Nach diesem Roman werdet ihr jedenfalls mit anderen Augen durch die nächste Kunstausstellung gehen, die nächste Künstlerbiografie lesen, vielleicht sogar eure Eltern ansehen und euer Leben planen…

»›Ich nehme doch nicht seinen Platz ein‹, antwortet er brüsk.

›O doch, das hast du längst‹, erwidert sie und zwinkert ihm zu. ›Die Frage lautet nur: Was wird jetzt aus Ihnen, Mr. Bavinsky?‹« (S. 308)

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»Die Gesichter« von Tom Rachman umfasst 416 Seiten, erschien am 31.08.2018 bei dtv und kostet gebunden 22,00 €.

 

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