Literatur
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Sascha Marianna Salzmann gerät
»Außer sich«

In Selbst-Auflösung begriffen

»Außer sich« ist der Debutroman der Dramatikerin und Redakteurin Sascha Marianna Salzmann, der es gleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 geschafft hat. Die Familiengeschichte führt uns aus dem postsowjetischen Russland, in ein Asylantenheim in Westdeutschland und schließlich in das durch politische Unruhen geprägte, gegenwärtige Istanbul, das die Antwort auf eine Frage, das Ziel einer langen Suche sein könnte…

This is what it’s all about: Identität

Inwiefern nimmt die Geschichte unserer Vorfahren auf unser eigenes Leben Einfluss? Gibt es einen Ort, an den man gehör? Wer ist man, wenn Geschlechtergrenzen durchlässig werden?

»Mein Name fängt mit dem ersten Buchstaben des Alphabets an und ist ein Schrei, ein Stocken, ein Fallen, ein Versprechen auf ein B und ein C, die es nicht geben kann in der Kausalitätslosigkeit der Geschichte.« (S. 274)

Ali (Alissa) und Anton sind Zwillinge und bauen sich um sich herum ihre eigene Welt auf. So ertragen sie das Geschrei ihrer Eltern und die angsteinflößende Ausreise aus dem Land, dass ihre Heimat war. Es ist eine ungewöhnlich enge, ja intime, spezielle und sehr direkte Verbindung der beiden Geschwister, die sich gegenseitig die Welt bedeuten. Gemeinsam streifen sie umher und gehen ihren eigenen Geheimnissen auf den Grund. Wissen nicht, wohin, was anfangen mit dem Leben, den Umständen, die einem gegeben werden. Abgebrochenes Studium, schnell wechselnde Verhältnisse und Liebschaften – und dann verschwindet Anton plötzlich spurlos.

Eine unbeschriebene Postkarte aus Istanbul lässt Ali auf eine existenzielle Suche nach ihrem Bruder, ihren Wurzeln und ihrem wahren Ich aufbrechen…

In Istanbul schläft sie auf Onkel Cemals Sofa, das gefräßige Wanzen beherbergt, trinkt Gin Tonic in der Bar, in der Katho tanzt, verfolgt geheimnisvolle Vogelhändler, in der Hoffnung, einmal das bezaubernde Trillern aus einem der Käfige zu vernehmen und verliert in den fantasierten Geschichten ihrer Vorfahren ihren eigenen Weg aus den Augen. Zusammen in einer ungewöhnlichen und unkonventionellen Beziehung mit Katho alias Katharina, sucht und definiert Ali sich neu und wird mithilfe regelmäßiger Testosteron-Spritzen eine andere – ein anderer.

 

Sascha Marianna Salzmann schafft einen erquickend eigenen bzw. eigensinnigen Ton und Charaktere. Statt einer Plot orientierten Handlung liefert sie Augenblicke, Details, Episoden, Anekdoten, Gedankenfetzen. Ein buntes Mosaik aus dem Leben einer Familie über vier Generationen, wo jedes Teil seinen Einfluss auf das Ganze hat, aber dennoch nichts so recht zusammenpassen will. Statt einem folgerichtigen Gebilde, einem stimmigen Überblick, entstehen Widersprüche, werden Vermutungen und Behauptungen erzählt, stehen die unverbundenen, anachronistisch erzählten Einzelteile für sich und entfalten ihre eigene Dynamik und Tiefe.

 

Beurteilung

Die lockere, durch Erzählsprünge geprägte Dramaturgie, die Vielfalt an Figuren und verwendeten Namen und Zeitebenen macht es manchmal etwas unübersichtlich und anstrengend bis überfordernd, der Geschichte zu folgen, aber sie ist gleichzeitig auch überraschend und abwechslungsreich. Der Text ist in jeglicher Hinsicht erfrischend unschematisch. Die aufgegriffenen Themenfelder erscheinen allerdings manchmal zu plakativ. Wie ein roter Faden ziehen sie sich durch die Familiengeschichte und bilden die Hauptbestandteile der meisten Episoden: Alkoholismus, häusliche Gewalt, Existenzängste, Migration, Prostitution, Diebeszüge… Auf der am intensivsten erzählten Ebene, der Gegenwartsebene in Istanbul, wiederholen sich bekannte Motive: Ali streift ziellos durch die Stadt, hängt in Bars ab, schläft in besetzten Häusern, klaut Essen, hat erotische Beziehungen zu Außenseiterfiguren und verlorenen Seelen, sie raucht, kifft, trinkt. Die Autorin schafft es trotzdem, vielschichte und interessante Figuren vorzuführen und bleibt nicht in Genreklischees verhaftet. Unzählige Details machen die Charaktere lebendig, mehrdimensional und liebenswert.

Was ist, was war, was sein könnte…

»Ich reihe meine Vielleichts aneinander, Kügelchen für Kügelchen, ungeschliffene Murmeln, die für keine vorzeigbare Kette reichen.« (S. 86)

Der Realitätsstatus des Erzählten muss hierbei immer wieder angezweifelt werden. Was sich erst liest wie Tatsachenberichte, entpuppt sich schließlich als Gedankenspiel: Ali erfindet Episoden aus den Leben ihrer Vorfahren und malt sich Antons Zeit in Istanbul aus, um sich eine eigene Geschichte zu schaffen. Die Autorin treibt dieses Spiel so weit, dass wir zum Schluss nicht mal sicher sein können, ob es Anton überhaupt gibt. Die Grenze zwischen den Zwillingen wird systematisch ausradiert und schließlich ist es sogar möglich, Ali und Anton als die feminine und die maskuline Seite einer Person zu lesen. Ali geht in Istanbul auf. Die geschilderten Turbulenzen in der Stadt, die Putsche und Revolten spiegeln Alis auflehnende Haltung wider; eine Stadt zwischen den Kontinenten, die für Alis Suchbewegung und das unentschiedene Dazwischen steht, das sie charakterisiert.

»Ich erdenke mir neue Personen, wie ich mir alte zusammensetze. Stelle mir das Leben meines Bruders vor, stelle mir vor, er würde all das tun, wozu ich nicht in der Lage gewesen bin, sehe ihn als einen, der hinauszieht in die Welt, weil er den Mut besitzt, der mir immer gefehlt hat, und ich vermisse ihn. / Und was habe ich getan, als ich gedacht habe, er ruft mich? Ich bekam diesen Wink, ich missdeutete die Ziechen und zögerte, tippelte vorsichtig, tat alles, um meine Anspannung zu betäuben, sie in mir zu vergraben, legte mich auf ein Sofa, das mich auffressen sollte, bewegte mich kaum und wartete, denn was ist Warten sonst als eine Hoffnung,« (S. 275)

 

Ein ungewöhnlich starkes, stilsicheres Debut

Salzmann schafft poetische, beglückend eigenwillige Szenen, Motive und Bilder und erzählt ganz nebenbei ein Stück neuere bzw. neueste postsowjetische und türkische Geschichte, für die man allerdings einiges an Vorwissen benötigt, da sie nur unkommentiert gelassene Hintergründe der Figurenleben bleiben. Der Roman führt uns auf beeindruckende Art Identitätsprobleme und verschiedene Lebensentwürfe vor Augen.

Die Autorin setzt den unfreien, am Leben gescheiterten, resignativen Vorfahren Alis auf der Gegenwartsebene rebellische Andersdenker entgegen. Erzählt wird von Außenseitern und Lebenskünstlern, die geltende Konventionen in den Wind schlagen, die stehlen, anschaffen gehen, sich in zwielichtigen Bars herumtreiben, in der Halbwelt untertauchen, in die fast Obdachlosigkeit geraten, entwurzelt werden und ihren Platz und Sinn in einer Welt suchen, die sie mit wahlweise idealistischem oder nihilistischem Blick betrachten. Salzmann findet dafür zarte, schöne, ungewöhnliche und unverbrauchte Motive und führt eine bedingungslose Grenzenlosigkeit in den Figurenbeziehungen vor, die die Grenzen von Normen, Geschmack und Ekel ausradieren.

»Außer sich« wartet mit einem sehr starken Cover auf – formensprengend, in Auflösung begriffen, davon strebende Vögel, genauso gelungen und vielversprechend wie der Titel, der sich vieldeutig und abstrakt gibt. Zwei kleine Worte, die vieles in einem aufrufen: Das Außer-sich-Sein im Sinne eines rebellischen, aufwieglerischen, wütenden Verhaltens, aber auch ein aus seiner ursprünglichen Form Geraten und verloren neben sich Stehen.

 

Fazit

»Außer sich« ist ein starker, sprachgewaltiger, tiefgehender Roman, der einen lohnenden Blick wirft auf Themen wie Familie, Identität, Migration, Selbstzweifel und einen Hunger auf die große Suche, die wir unser Leben nennen. Salzmann findet ganz eigene Worte, Bilder und einen Klang, der berührt und uns die verschrobenen, gefallenen, quer-schlagenden, zweifelnden, wunderschönen Figuren nahekommen lässt. Sie präsentiert ein Mosaik aus Eindrücken, dass sich immer mehr zusammenzufügen scheint, bis es uns plötzlich doch vor einem Haufen aus splitternden Einzelteilen zurücklässt.

Salzmann erzählt davon, wie es ist, nicht zu wissen, wo man herkommt – nicht nur bezogen auf ein Land, sondern die eigene Geschichte. Ein Roman, der mutig daherkommt, lebendig und eigen. Das macht Hoffnung und Lust auf mehr von der jungen, am Maxim Gorki Theater Berlin inszenierenden Autorin.

»Außer sich« ist Sascha Marianna Salzmanns Debutroman, umfasst 366 Seiten und erschien im September 2017 bei Suhrkamp. Im HC kostet der Roman 22 Euro.

 

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https://www.suhrkamp.de/sasha-marianna-salzmann/ausser-sich_1462.html

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