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Samanta Schweblin »Hundert Augen« – mehr »Black Mirror« als Orwell

Anonym durch fremde Leben spazieren

In »Hundert Augen« nimmt uns die argentinische Autorin mit in eine alternative Welt, die stark von einer neuen technischen Erfindung geprägt ist: Kentukis sind niedliche Kuscheltiere in verschiedenen Formen, die sich auf Rollen bewegen können. Hinter ihren Augen ist eine Kamera installiert, die eine*n anonym bleibende*n User*in mit Bildmaterial aus der Umgebung des Kentukis versorgt und diese*r User*in kann über ein technisches Device den Kentuki steuern, der sich durch das Leben seiner*s Käufer*in bewegt. Es wird eine Verbindung zwischen zwei zufällig gematchten Menschen erschaffen: User*in und Käufer*in.

So entstehen ganz ähnliche Netzwerke wie diejenigen, die auch unsere reale Gegenwart prägen. Und was noch frappierender ist: Es entstehen massenweise neue, anonyme Mitbürger (bzw. zweite Identitäten), für die keine klare Rechtslage existiert. Diese Kentuki-Spieler*innen haben keine eigenen Rechte, sie sind aber auch nicht strafmündig.

Samanta Schweblin erzählt von der Technikfaszination und der Innovationslust des Menschen, aber auch davon, dass die Menschen nicht in der Lage sind, die Auswirkungen ihrer Technologien einzuschätzen und verantwortungsbewusst damit umzugehen. Sie erzählt episodisch von diesen Menschen, wobei sich in die sehr unterschiedlichen Geschichten ziemlich bald dystopische Züge einschleichen, bis jeder einzelne Erzählstrang zu einem bösen Ende geführt wird. Regelrecht ein »Friedhof der Kuscheltiere«!

Was man dem Roman zugutehalten muss, ist, dass die Lektüre zu einer geradezu körperlichen Erfahrung wird. Am Ende ist es, als wäre man aus einem schlechten Traum erwacht, der einen noch für eine Weile gelähmt und überfordert zurück in die Realität entlässt. – Dennoch konnte mich das Buch sprachlich nicht überzeugen.

 

Haben oder Sein?

Eine technische Erfindung, die die Welt erobert: Jede*r will einen Kentuki. Sie sind wie lebendige, eigenwillige Kuscheltiere. Dass es sich dabei aber keinesfalls um ein Haustier und auch um keinen Haushaltsroboter handelt, vergessen die meisten nur allzu schnell, denn in dem Kuscheltier steckt eine Kamera und gesteuert wird das niedliche Spielzeug von einer realen Person irgendwo auf der Welt. Die Verbindung zwischen den beiden User*innen entsteht zufällig und bleibt semi-transparent. Der Kentuki lässt sich nicht ausschalten, lediglich der*die Steuernde kann die Verbindung trennen.

»Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, dass man sich heute, wenn man ein neues Gerät für den Haushalt kaufte, nicht nur die Anleitung durchlesen, sondern auch noch überlegen musste, ob es für diesen Gegenstand erstrebenswert war, mit einem zu leben oder nicht. Wer überlegte sich vor einem Supermarktregal schon, ob der Ventilator, den er mit nach Hause nehmen wollte, wohl damit einverstanden wäre, einem alten, in Windeln fernsehenden Vater Luft zuzufächeln?« (51)

Bleibt nur die Frage, ob man lieber eins besitzen oder eines fernsteuern möchte. Ein Kentuki haben oder sein? Und was das über jemanden aussagt…

Schweblin erschafft durch die vielen Erzählstränge eine umfassende Bandbreite von Figuren, die auf dem ganzen Globus verstreut sind: Ein Kentuki kann ein aufregendes Mutspielel-Element für Teenager sein (die es auch geschafft haben, den Gebrauch von »Chat Roulette« zu pervertieren), ein Kentuki kann als Aufsicht und Begleiter*in für Rentner*innen dienen, als Geschäftsidee für einen Arbeiterklassejungen, als Material für einen Performancekünstler, als Spielzeug für Kinder von Worcaholics und Seniorenheimbewohner*innen, als vom Psychologen verschriebene*r Freund*in eines Scheidungskindes oder als Haustier und Unterhalter*in für gelangweilte Upper Classler. Aber wer steckt hinter der Plüschfassade? Ein schwänzender Teenager? Eine einsame Rentnerin? Ein Pädophiler?

Da sind Emilia, Alina, Marvin, Enzo, Grigor und Cheng Shi-Xu, in Peru, Norwegen, Hongkong. Auf der ganzen Welt entwickelt sich erst der Gebrauch und schließlich der Missbrauch von Kentukis rasant. Deshalb entsteht schon bald eine Befreiungsbewegung und ihre Forderung auf einen Rechtekatalog.

Kentukis sind Zeitfresser und Datensammler, Unterhaltung und Eskapismus, sie sollen die Menschen verbinden, aber stürzen sie auch in Konflikte und Chaos. Sie verändern die erzählte Welt von Grund auf und sind eigentlich doch schon Teil unserer Gegenwarts-wirklichkeit. Menschen erschaffen Technologien, denen sie eigentlich nicht gewachsen sind, (juristische) Regularien entwickeln sich immer erst reaktiv und deshalb viel zu spät, denn bis dahin hat die Medienneuheit bereits das Schlimmste im Menschen hervorgekehrt, einen neuen Wirtschaftsmarkt erzeugt und einen unumkehrbaren Wandel eingeleitet, einen weiteren Point-of-no-Return überschritten. So ist es auch in »Hundert Augen«. Es kommt zu Erpressungen und Mobbing, sexueller Belästigung, Gewalttätigkeit, Sklaverei, Manipulation, Einschüchterung und Quälerei; Kentukis werden zu Maskottchen, Prostituierten oder Gladiatoren gemacht. Immer wieder kommt das menschlichste aller Spiele in Gang: Es geht um Macht und wie man sie nutzt.

Ustopie. Mit Hilfe einer automatischen Übersetzungssoftware wird die Babel’sche Sprachbarriere überwunden. Kentukis bringen Menschen über Ländergrenzen und Klassenunterschiede hinweg zusammen, weshalb in ihnen auch ein stark utopisches Potenzial liegt – die Technologie kann Verständigung, Austausch und Verständnis fördern, doch dieses Potenzial kann nur allzu schnell ins Dystopische kippen.

»Man könne ja wohl kaum auf die Vernunft der Menschen bauen, und einen Kentuki zu haben, der frei bei einem herumlief, war, als würde man einem Fremden seine Hausschlüssel geben.« (44)

 

Second Life

Kleine, süße Spionage-Tierchen, die man bereitwillig in sein Privatleben lässt – das klingt nach einem Orwell‘schen Überwachungsdrama. Hundert Augen überall. Kamera- und Lauschangriff im Kaninchenfell. Samanta Schweblin geht es mit den Kentukis dann aber gar nicht so sehr um eine panoptische Instanz, die hineinsieht, mithört und Daten sammelt, sondern eher um fatale Verbindungen zwischen zwei zufällig Verkuppelten, um die zerstörerischen Dynamiken in einem Spiel des Ungleichgewichts: Der*die Spieler*in wird pausenlos beobachtet – der*die Spielzeug-Steuerer*in bleibt dagegen anonym, Kentuki-Besitzer*innen sind autonom – User*innen dagegen sind stumm und handlungseingeschränkt. Diese Schieflage der Grundsituation führt zu einer in den meisten Fällen abgründigen Entwicklung des gemeinsamen Spiels und zu Machtkämpfen; Misstrauen und Vorurteile werden geschürt und erzeugen extreme Reaktionen, auf der einen oder anderen Seite entsteht Zerstörungswut aus einem paranoiden Selbstschutzgefühl heraus.

»Rührend war, dass er nicht redete. Ein ›Herr‹ will nicht wissen, was seine Haustiere denken. Sie hatte sofort begriffen, dass das eine Falle war.« (29)

Schweblins Gruselgeschichten zielen also nicht so sehr auf Spionage, Überwachungsstaat und Big Data-Geschäfte, so wie man es von Dystopien gewohnt ist und was unsere Lebensrealität mehr denn je treffend kommentiert, sondern sie ist eher interessiert an psychologischen Dynamiken und menschlichen Abgründen. Die Kentukis kehren in den meisten Fällen das Schlechteste im Menschen hervor, der*die in direkter, aber anonymer und deshalb enthemmter Verbindung zu einer*m Fremden steht. Die Transparenz, die auf Seiten der User*innen existiert, dient dagegen in einigen Fällen auch dem Guten, der Zivilcourage und investigativen Arbeit, auch wenn der träge Systemapparat auf diese Interventionen nicht ernsthaft zu reagieren in der Lage ist.

Menschlichkeit und Terror treffen in den Episoden aufeinander. Die durch Kentukis geschaffene Verbindung eines Spieler*innenpaares kann zu Vertrauen, Liebe und Hilfsbereitschaft führen oder aber ins Tyrannische und Traumatisierende. Das ganze Spektrum des Menschseins.

Exemplarisch steht hierfür die Entwicklung der unscheinbaren, gelangweilten, missgünstigen Alina an der Seite des dänischen Künstlers Sven. Anfangs weigert sie sich, überhaupt mit ihrem Kentuki zu sprechen, weil ihr die Nähe und das Eindringen in ihre Privatsphäre unangenehm ist, schließlich lässt sie ihr Spielzeug auf ziemlich krankhafte Art immer mehr für ihre eigene Unzufriedenheit und ihr Minderwertigkeitsgefühl bezahlen. Sie exhibitioniert sich vor dem Wesen, zwingt es, Pornos zu schauen und beginnt, es immer mehr zu verändern: Alina rasiert ihrem Kentuki ein Hakenkreuz auf die Stirn, schneidet ihm einige Extremitäten ab, hängt es verkehrtherum an einem Seil auf, fesselt es an einen Stuhl oder kokelt sein Plüschfell an – sie wird immer sadistischer in ihrem Einfallsreichtum, bis diese Grausamkeiten öffentlich werden und ihr Leben an einen Abgrund treiben.

 

Böses Erwachen

Für die voyeuristischen Einblicke, die einem*r Kentuki-Player*in zugutekommen, muss der*diejenige bereit sein, in seiner*ihrer digitalen Identität Entmündigungen und Freiheitsberaubungen zu ertragen. Die dramaturgische Abwärtsspirale, die den Geschichten zugrunde liegt, führt zu einer Kette von Eskalationen, die die meisten Kuscheltiere auf dem Friedhof enden lässt.

Die Dynamik der Kentuki-Paare triggert aber nicht nur ein Macht-, sondern auch ein Identitätsspiel: Der*Die Fremde auf der anderen Seite ist nie so, wie er*sie vom anderen imaginiert wird und die Figuren kommen anders rüber, als sie selbst vielleicht denken.

Samanta Schweblin schreibt keinen modernisierten Orwell oder Huxley, aber sie führt vor Augen, wie sehr die Grenzen überschreitende Konsumentenlogik in alle Bereiche unseres Lebens vorgedrungen ist. Alles ist verkäuflich. Außerdem fasst sie die Problematik von Anonymität und Digitalität ins Auge, die eine Herausforderung für Moral, Humanität und geltendes Recht darstellen. So werden längst überfällige Fragen angestoßen, was Definition des Menschlichen und seine Erscheinungszustände angeht. Wir vervielfältigen uns bzw. Teile von uns seit der Erfindung des Internets und nehmen verschiedene Rollen in technischen und virtuellen Repräsentationen an. Wie damit zwischenmenschlich und juristisch umzugehen ist, liegt noch im Dunklen.

»Hundert Augen« verwebt mehrere verstörende, wuchernde Parallelplots, die dem Dystopischen und Horrorgenre nahekommen. Sprachlich sind die episodenhaften Geschichten eher simpel bis plump gehalten, mit einer gewissen filmischen Qualität.

Die Lektüre von Samanta Schweblins Buch hat mir nicht gerade gefallen und trotzdem ist es wichtig und aussagenstark, eine Art Versuchsanordnung, ein Gleichnis auf unsere digital vernetzte Gegenwart.

 

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»Hundert Augen« von Samanta Schweblin, aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Marianne Gareis, umfasst 252 Seiten, erschien am 17.08.2020 bei Suhrkamp und kostet fest gebunden 22,00 €.

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