Literatur
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Hülle und Fülle: »Das Gedicht & sein Double«

Von Oberflächen und Innenwelten

»Das Gedicht & sein Double« ist ein ganz besonderer Fund: Als Portraitfotoband und Gedichtanthologie in einem bildet dieses Formathybrid die Breite und Heterogenität der deutschsprachigen Gegenwartslyrik ab. Alte, Junge, Etablierte und noch eher Unbekannte kommen gleichermaßen zu Wort, erhalten ein Gesicht und verleihen zugleich der lyrischen Gattung ein solches. Prominenteste Namen dürften da Jan Wagner, Nora Gomringer, Durs Grünbein, Lutz Seiler, Anne Dorn und Özlem Özgül Dündar sein. Ein Großteil der Gedichte entstand exklusiv für diesen Band.

100 Dichterinnen und Dichter werden durch Dirk Skibas sinnliche Schwarz-Weiß-Portraits als Charaktere ins Bild gesetzt – fotografiert mit Sinn für Details und Augenblicke, aber auch metaphorischer Bedeutungstiefe. Ein Großteil der Autoren lässt sich direkt in die Augen blicken, wobei man stets etwas anderes in ihnen zu erkennen glaubt, und schaut die Leser gleichzeitig unverwandt an.

»ich / gerinne nicht zu text.« (Aus: Carolin Callies »kleine grammatologie«)

Zu der fotografischen Portraitsammlung gesellt sich jeweils eine poetische Reaktion bzw. textuelle Selbsterkundung des abgebildeten Künstlers. Beide Spielarten des Portraits kokettieren so und stehen in Wechselwirkung miteinander. Beide Kunstformen für sich genommen sind schon aussagefreudig, in Relation gesetzt ergeben sich dann aber noch einmal weitere (Be-)Deutungsspielräume – ein Meta-Portrait nimmt Gestalt an, widersprüchlich, vielseitig und lebendig. Dabei ändern die Fotografien den eigenen Blick auf die Gedichte und vice versa. Bis zum Schluss bleibt vollkommen fraglich, wer hier eigentlich wen doubelt…

 

Dieser Anthologieband konfrontiert einen automatisch auch mit Fragen, die weit über das einzelne Poem oder Portrait hinausreichen: Wie wirkt ein Bild im Gegensatz zum Text? Was benennt das eine, was das andere verschweigt? Wo hört Sprache auf? Wie tief lässt eine menschliche Oberfläche blicken? Wie wichtig ist die Person des Künstlers für das Werk?

 

»was passiert
wenn wir vergessen
dass wir aliens sind?
und dann geht aber
irgendwann unsere

verkleidung kaputt?«

Aus: Stefan Schmitzer »wir sind nämlich in wirklichkeit aliens«

 

»Ich ist ein Irrtum« (S. 9)

Wir neigen dazu, dem flächig gebannten Foto-Ich noch weniger als dem Ich aus dem Spiegel zu trauen. Unsere Hülle, eine Scheinidentität, die uns nicht selten fremd vorkommt, steht gegen das Eigenleben unserer Abbilder. Kann man ein objektiviertes Bild von jemandem entwerfen, die äußere Entsprechung zu einer Vorstellung finden?

»aber lass dich nicht täuschen! Mir

ist nicht zu trauen oder wenn

dann immer nur zweimal. Dir

ist nicht zu helfen, kein einziges Mal

ich bin ein Teekesselchen auf zwei Beinen

und trage den schwarzen Talar

meines Vaters, seinen weißen Kragen

und die Mädchenräume meiner

Mutter trag ich auch mit mir herum

Wenn ich dich verlasse, dann

immer zweimal:«

Aus: Ulrike Almut Sandig »alles muss ich zweimal sagen, alles«

 

Eyes wide open

Jemandem direkt in die Augen zu blicken ist jedenfalls eine intime Angelegenheit. Skibas Fotos schaffen sofort eine starke Nähe und drängen mir Fragen wie folgende auf: Warum verlangt es uns so sehr nach einem Gesicht, einer Person hinter dem Text? Wer hat ein Anrecht auf diesen Einblick? Und wie vermessen ist es, eine Übereinstimmung zwischen Wesen und Erscheinung anzunehmen?

 

»Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie sich selbst niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst niemals erfahren. (Sonntag)« (S. 12)

Auf jeder Seite schwingt das Thema der Selbst- und Fremdwahrnehmung mit, des ewigen Irrens zwischen beiden, der Suche nach dem Ich, der Selbstversicherung, Erinnerung und Fragwürdigkeit der Abbildbarkeit von Wahrheit. Es geht um Polaritäten wie Geistigkeit und Körperlichkeit und nicht zuletzt wirft einen dieser Band immer auch auf sich selbst zurück, zwingt in die Konfrontation mit dem eigenem Ich. Und ganz nebenbei gibt es obendrauf noch wahnsinnig schöne, kluge und überraschende Gedichte.

 

»Sagen können:

Ich habe mich

durchgefragt.

Bis zu mir.«

Klaus Merz »Columbus«

 

Dichter und Dichterinnen bleiben aufgrund ihres mangelnden Kommerzpotenzials oft unsichtbar. Nun präsentiert sich uns gleich zweifach ein papierenes, sprechendes Ich aus der lyrischen Welt.

»Wörter und ich
wir sind wie Oktopusse riesig passen doch

durch ein millimeterkleines Loch

(…)

es pulsieren die Punkte es kotzen die Frösche

ihre Mägen aus und essen sie wieder so

übersetzt sich alles noch
in sich selbst denkt

das Kind in mir immer:«

Aus: Sophie Reyer »: Utopie«

 

»Der Autor ist tot, lang lebe der Autor.« (S. 10)

Die Leichtigkeit des Gedichts, dazu bildhaft angereichert, ermöglicht eine Vielzahl von Rezeptionshaltungen: Es macht Spaß, einfach durch den Band zu blättern oder den Dichtern und Dichterinnen minutenlang in die Augen zu sehen, sich Unmengen Zeit für eine kurze Lektüre zu nehmen. Jede Doppelseite eröffnet einen neuen Kosmos, eine andere Facette der zeitgenössischen Lyrikszene. Sowohl Poem als auch Foto stehen für sich und funktionieren autark, treten aber auch in Dialog miteinander und reanimieren die Figur des Autors und des Fotografen.

»Mich beherrscht ein eignes Wesen
Heiter macht es mich und trüber
Davon kann ich nicht genesen
Von kleinauf war es mir über.
Meine Freiheit, meine Engnis
Unter dem Geschirr entspringen
So vollbring ich mein Verhängnis

Und erleide mein Gelingen.«

Volker Braun »Dämon«

 

Dirk Skiba ist Sinologe und Germanist an der Uni Jena, der über die Leidenschaft zur Literatur zur Autorenfotografie fand. Dieses aufmerksame, ehrliche Interesse merkt man seinen Portraits an, im Unterschied zu beauftragten Fotografen, die Bilder ausschließlich zu Marketingzwecken produzieren. Die Portraits wirken deutlich weniger gestellt. Skiba besucht die Autoren zu Hause oder sie erkunden spazierend zusammen Orte – der Auslöser wird erst gedrückt, wenn der Moment stimmt und der Anlass des Treffens fast vergessen ist. So entstehen Bilder, die nicht clean sind: Hier verirren sich Strähnen ins Gesicht oder verrutscht die Mimik, was diese Momentaufnahmen umso interessanter macht. Am stärksten beeindrucken jene Portraits, die mittlerweile Verstorbene zeigen.

 

»Alle sehen zu. Wie Erinnerung Gewalt ist, im Innern.«

Aus: Rike Scheffler »Diese Zartheit«

 

 

 

Im Vorwort wird der Wunsch artikuliert, »dass aus Bildbetrachtern Gedichtleser werden«.

Der intime Voyeurblick der Fotokamera – »Ich hielt das Fotografieren immer für etwas Unanständiges« – und das Unwohlsein des Fotoobjekts, stehen gegen das inszenierte Albumfoto, das seinen Sinn im Vorzeigen und als Erinnerungsanweisung an den eigenen Geist findet. 9 x 13 lautet die Formel, mit der alles Glück gebannt wird.

»ich ähnele mit meinen ausgestreck-
ten armen einem ritter, dem die knappen
in seine rüstung helfen, stück um stück,

erst helm, dann harnisch, arme, beine, nacken,

bis er sich kaum noch rühren kann, nicht läuft,
nur schimmernd dasteht, nur mit ein paar winden
hinter dem glanz, ein bißchen alter luft,

und wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden.«

Aus: Jan Wagner »selbstportrait mit bienenschwarm«

 

Fazit: Komm in den totgesagten Park und schau…

Diese Lyrikanthologie ist mal wirklich was Neues! Der großformatige Foto- und Gedichtband widmet sich dem Thema Autorenportrait von zwei Warten aus: Dirk Skibas sinnliche Schwarz-Weiß-Fotografien stehen jeweils einem Gedicht des abgebildeten Autors gegenüber, welches sich nicht selten auch mit der eigenen Person und dessen Ebenbildern beschäftigt. Abgebildet wird so die Breite und Heterogenität der deutschsprachigen Gegenwartslyrik und junge, alte, etablierte wie unbekannte Schriftsteller kommen zu Wort. Beide Spielarten des Portraits stehen gleichberechtigt nebeneinander, kokettieren miteinander und befinden sich in gegenseitiger Wechselwirkung.

 

»Mach dich gefaßt auf deine
leisesten Innengeräusche.
Mach dich gefaßt auf deine

Dämlichsten Binnengeräusche,«

Aus: Marcel Beyer »Mach«

 

Die lyrischen Selbsterkundungen nehmen Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung in den Blick, des ewigen Umherirrens zwischen diesen beiden Polen auf der Suche nach dem wahren Ich. Diese Doppelbewegung ermöglicht eine sowohl leichtfüßige als auch tiefgründige Lektüre. Es macht riesigen Spaß, sich quer durch die gut ausgewählten und wohl dosiert vorgebrachten Facetten der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrikszene zu blättern. Man kann den Dichterinnen und Dichtern minutenlang in die Augen sehen oder in ihrem Äußeren nach Spuren aus ihren Gedichten und Biografien suchen oder sich zu imaginierten Anekdoten inspiriert sehen und wird immer wieder auch auf sich selbst zurückgeworfen.

 

»Lohnt nicht zu malen, dieses Allerweltsgesicht,
das flüchtig bleibt, nur heimlich aufgelöst im Weinen.
Privates brennt darauf, die Spur der Nächte, Stöße,
die keiner sieht: was an den Schläfen pocht, von innen.

Das Fleisch kaschiert, es gibt sich keine Blöße.«

Aus: Durs Grünbein »Selbstbildnis vor violettem Hintergrund«

 

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»Das Gedicht & sein Double. Die zeitgenössische Lyrikszene im Portrait« mit 100 Fotografien von Dirk Skiba und Texten von Jan Wagner, Nora Gomringer, Durs Grünbein, Volker Braun u.v.a., herausgegeben von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt, erschien am 08.10.2018 bei Edition Azur, umfasst 224 Seiten und kostet als Hardcover 34,90 €.

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