Literatur
Schreibe einen Kommentar

Sophia Fritz lässt »Steine schmeißen«, um das letzte Jahr loszuwerden

»Silvester, sagt er, ist der einzige Glaube, den wir noch haben, das sind diese zehn Sekunden Ehrfurcht im Jahr, von denen alle immer träumen.« (161)

Es ist Silvester und Anna unter ihren Freunden, sie sind um die Mitte 20, leben in Wien und das Leben könnte so leicht sein. Fede ist extra aus Frankfurt gekommen, früher mal Annas beste Freundin und jetzt ihr bester Freund, und Jara ist da, keinem anderen Menschen ist Anna emotional bisher so nah gekommen, denn sie hat Jara aufgefangen, als die sich für eine Abtreibung entschied, während Jaras Freund Lukas sich eine Auszeit genommen hat. Allerdings ist auch Samir da, mit dem Anna seit zwei Jahren eine Affäre hat. Und einer ist ganz offensichtlich nicht da, und das ist Alex, mit dem Anna seit der Schule zusammen ist, sieben Jahre schon.

»Ich glaube, man bekommt immer, was man verdient, sage ich, aber man kann sich meistens heimlich mehr nehmen.« (60)

Mit Alex ist Schluss, das weiß nur noch keiner und Anna möchte es am liebsten auch nicht wahrhaben. Also erscheint es ihr so viel einfacher, über sein Fortbleiben zu schwindeln. Vielleicht kommt ja wirklich alles wieder in Ordnung, warum also jetzt alle verrückt machen…

 

»Aber gerade ist nicht normalerweise« (191)

Was mit einer kleinen Notlüge beginnt, tritt bald eine ganze Lawine an Ereignissen los. Anna verstrickt sich immer mehr in ihr Lügengebilde und als dann auch noch Lukas mit einem Spiel um die Ecke kommt, wo sie alle etwas, was sie loswerden möchten, auf einen Stein schreiben müssen, der anschließend im Fluss versenkt werden soll, gerät der Abend außer Kontrolle. Ein Geheimnis jagt das nächste und die Enthüllungen erschüttern die kleine fragile Gemeinschaft bis ins Mark, bis sich feine Risse auftun. Kennt eigentlich irgendwer hier irgendwen oder spielen sich alle die meiste Zeit etwas vor? Als dann auch noch das mit Joni rauskommt, winkt die Eskalation. Steine geraten ins Rollen, ins Fliegen geradezu – und das hat immer Konsequenzen.

»Das Leben überrascht mich immer wieder, es sagt mir hier, hier, hier bin ich, so bin ich, und ich sage, okay, lass uns drüber reden, aber das Leben will gar nicht drüber reden. Das Leben macht schon weiter, während ich noch nachdenke, das Leben ist kein Zuhörer, das Leben ist ein Schlagabtausch.« (154)

 

Steinig, kantig, gut

»Meine Mutter hat Baumwollbrüste und ein Herz wie ein Sitzsack. Meine Mutter möchte Blumen mit Dornen, dahinter eine Höhle aus Spannbettlaken und einen Lieferdienst.« (127)

»Steine schmeißen« ist ein straff komponiertes Stück, es umfasst lediglich wenige Stunden eines Silvesterabends und Sophia Fritz beherrscht die Klaviatur der Eskalationsstufen. Gekonnt entblättert sie einen dunklen Abgrund nach dem nächsten, die in uns allen klaffen und nur darauf gewartet zu haben scheinen, endlich ins Licht gerückt zu werden. Vor allem aber gelingt es der Autorin, eine Eigentümlichkeit lebendig werden zu lassen. Es ist ein eigensinniger steiniger Sound, der sich immer wieder Bahn bricht, die Art, wie ungewöhnliche Betrachtungen angestellt werden, neuartige Bilder und schiefe Vergleiche, die der Protagonistin ganz natürlich entschlüpfen und den Text schillern lassen. Dabei bleibt der Roman kantig und folgt nicht den typischen Reza-haft anmutenden Eskalationswellen, den Fernsehfilm-erprobten Plotstufen, sondern ruckelt zwar etwas, aber stottert dafür auf eben ganz eigene Weise Richtung Neujahr. Eine eigensinnige Erfahrung, die sich lohnt.

»Wie schmeckt dein Wein, frage ich Marie. Ich finde, er schmeckt irgendwie hinterlistig, sage ich, Marie schaut schon wieder zu Samir und Fede, wie ein trockener Weißwein, der sich als süßer Rosé verkleidet, wie ein Rachefeldzug, auf dem man sich die Lippen rot anmalt, weil man weiß, man wird heute die neue Freundin des Ex-Partners treffen, und man weiß, man wird sie auf beide Wangen küssen und ihr Outfit loben und sie wird es erwidern und irritiert sein von der ganzen Freundlichkeit, der Gelassenheit und dem warmen Empfang, bis man sich entschuldigt und wieder ins Auto steigt und dem glücklichen Paar winkt und die Sitzheizung auf drei stellt und denkt, die Herzenswärme, die ist eigentlich Fieber.
Man, Anna, unterbricht mich Marie, kannst du nicht einfach sagen, der Rosé ist dir zu süß?« (61)

 

Anzeige:

»Steine schmeißen« von Sophia Fritz umfasst 231 Seiten, erschien am 01.09.2021 im Kanon-Verlag und kostet fest gebunden 22,00 €.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert