Literatur
Schreibe einen Kommentar

Liv Strömquist »Ich fühl’s nicht«

Die Liebe in Zeiten von Leistungsgesellschaft, Marktwert und Selbstoptimierung

Wir Disney-Geschädigten Tinder-User*innen mit Angst vor Schmerz, Enttäuschung, Langeweile, vor WAS FESTEM, haben das DiCaprio-Syndrom, meint Liv Strömquist. Der gute Leo wechselt seine Freundinnen, allesamt Anfang 20-jährige Bikini-Models, wie seine Socken. Er fühlt nichts.

»Leonardo DiCaprio ist irgendwie wie eine lauwarme Herdplatte, die das Wasser nie richtig zum Kochen bringt.« (10)

An sich kann man natürlich kaum etwas dagegen einwenden, dass Autonomie, Freiheit und Wahlmöglichkeit gerade für Frauen seit den letzten hundert Jahren stark zugenommen haben. Niemand muss in der Regel mehr heiraten, um versorgt zu sein, niemand muss ungewollt schwanger werden und der Sozialstaat unterstützt Alleinerziehende. Aber wollen wir deshalb gleich ganz aufhören zu lieben?

 

»Wir sind alle DiCaprio« (12)

Das Gefühl sich zu verlieben ist laut Soziolog*innen und Philosoph*innen in der heutigen Zeit sehr selten geworden. Warum ist das so? Strömquist bietet eine Reihe von Erklärungsversuchen.

#1 – Der Spätkapitalismus hat uns zu gierigen, selbstbezogenen Narzisst*innen gemacht, die Menschen konsumieren, aber keine festen Bindungen mit Verantwortung eingehen wollen. Abwechslung, Abenteuer, Action ohne Gefühle – hat uns das versaut? Unsere Fähigkeit, exklusiv und innig zu lieben, erstickt? Anscheinend steckt unsere Generation seine libidinöse Energie lieber in die eigene Subjektivität: Diät, Sport, Weiterbildung, Shopping, Körperpflege – »Selbstoptimierung ist Masturbation« heißt es in ›Fight Club‹. Am wichtigsten ist uns, laut Byung-Chul Han, von anderen gemocht zu werden, um Selbstbestätigung zu erfahren. Durch das ständige Vergleichen von allem und jedem nivellieren wir die anderen zum Gleichen. Wir benutzen sie als austauschbare Spiegel für das eigene Ego.

»Man kann den anderen, dem die Andersheit genommen worden ist, nicht lieben, sondern nur konsumieren.« (22)

Perfektes Matching durch Algorithmen

#2 – Wir leben in einer so stark von Rationalität und Quantifizierung geprägten Zeit bzw. Kultur, dass emotionale, irrationale Handlungen geradezu verpönt sind. Die Wahlmöglichkeiten für potenzielle Partner*innen sind heute nahezu unbegrenzt, Internet sei Dank, und die Präsentation auf Social Media und Dating-Apps macht die Menschen noch viel besser vergleich- und bewertbar. Weder Klasse noch Geschlecht, Religion oder Ethnie setzten heute noch Grenzen in der Partnerwahl – alles ist möglich, jeder seines Glückes Schmied und hat die viel beschworene Qual der Wahl. Das nächste Date nur einen Swipe entfernt. Single, not sorry. Auf der anderen Seite gibt es weder die Erwartung noch die finanzielle Notwendigkeit, mit einer Person zusammenzubleiben.

»Man muss sich ganz einfach in viel höherem Maß mit dem Auswahlprozess selbst beschäftigen.« (24)

Bauchgefühl war gestern, jetzt ist Pro-Contra-, Kosten-Nutzen-Rationalität angesagt. Und der Fluch des ewigen Gefühls, dass da draußen noch etwas Besseres zu finden ist. Wer abwägt, verbalisiert, in Einzelteile zerlegt und diese bewertet, ist in der Konsequenz nicht mehr in der Lage, eine intuitive Emotionalität zu entwickeln, sagt Han. Oder man lässt gleich die Algorithmen der Dating-Apps für einen entscheiden. Die Menschen, die wir gezielt rational auswählen oder vermittelt bekommen, lassen uns kalt. Oder sagen wir: lauwarm. Sie werden zur Ware. Sich verlieben in Form von jemandem Verfallen als unerwartetes, lebensveränderndes Ereignis, das das eigene Ego gewissermaßen zusammenbrechen lässt, ist heute nicht nur rar, sondern sogar unerwünscht. Kein Fallen nirgends.

 

Goodbye Romantik

#3 – Sozialer Erfolg zeigt sich heute in viel gutem Sex, in seriellen sexuellen Kontakten. Alle wollen offene Beziehungen ohne Verpflichtungen, casual, gelegentlich, unexklusiv – keine Gefühle, keine Versprechen, kein Klammern, keine Fusion mit Freunden und Familie. Oberste Regel: immer bereits die nächste Option im Blick haben, bloß keine Abhängigkeit. Wenn man nie den Anspruch stellt, sich an jemanden zu binden, kann man auch niemanden verlieren.

Strömquist führt vor Augen, wie sich der männliche Status bis ins 19. Jahrhundert in den Bereichen der Arbeit, der Familie und in Männerbünden und öffentlichen Räumen konstituiert hat. In diese Bereiche haben heute aber wie selbstverständlich Frauen ihren Einzug erhalten – yippijayei, Schweinebacken – und die Zurschaustellung des männlichen Status wurde so auf einen anderen Bereich verdrängt: den der Körperlichkeit.
Strömquist konstatiert, dass lediglich in der Sphäre der Sexualität der moderne Mann noch seine Autorität und Autonomie ausleben kann. Und emotionale Verweigerung ist hier Ass. Statt Familie, Nachkommen, Verbreitung der Gene und des Namens sind psychologische Autonomie und ökonomischer Erfolg jetzt die Life Goals. Für die moderne Frau dagegen tickt weiterhin die ›biologische Uhr‹ und sie bedrücken Single Shaming und Disney-Erwartungen vom einzig wahren Prince Charming Slash Leonardo DiCaprio. Außerdem gehört das Muttersein kulturell immer noch unbedingt zur erfolgreichen Weiblichkeit dazu – man vergleiche nur die Klatschblatt-Beiträge zu Leonardo DiCaprio und zu Cameron Diaz oder Jennifer Aniston…

»Ach so, ihr seid also voll damit beschäftigt, nicht auf unsere SMS zu antworten – aber wenn wir das auch so machen würden – wie sollen dann überhaupt noch Kinder geboren werden?« (48)

Dazu kommt erschwerend, dass von Frauen heute kulturell überwiegend Homo- oder Hypergamie zur Paarbildung erwartet wird, das heißt, dass sie sich in der Regel jemanden mit gleichem oder höherem Sozialprestige und Alter suchen. Dadurch, dass aber immer mehr Frauen immer höher gebildet sind, bleibt ihnen nur ein kleiner Pool an Potenziellen: »Frauen, deren Status, Kapital und Alter sich erhöht, werden für Männer IMMER WENIGER ATTRAKTIV (grobe Verallgemeinerung, ich weiß! Sorry!)« (51) Frauen sind nach Eva Illouz also auch in der Liebe »strukturell benachteiligt«  – WTF.

»Es ist seitens der Männer eine neue Form emotionaler Herrschaft entstanden – die sich darin äußert, dass Frauen emotional verfügbar sind – während Männer sich nicht binden wollen – da sich die Bedingungen der Wahl verändert haben.« (54)

 

No Love, Baby, don’t hurt me!

#4 – Da männlich codierte Verhaltensmuster tendenziell einen höheren sozialen Status genießen, haben sich Frauen dieses Mittel der Macht angeeignet und die serielle, emotional distanzierte Sexualität der Männer imitiert. Als Konsequenz entstand eine Flut von Tipps und Ratgeberliteratur, die Frauen davor bewahren sollen, dennoch zu klammern, weil emotionale Zugänglichkeit scheinbar so unattraktiv geworden ist:

»Die einzige angemessene Reaktion auf Distanziertheit ist größere Distanziertheit.« (56)

Und schon stecken wir mittendrin im Wettbewerb um die coolste Sau – egal wie man das nun werten will, das Ergebnis ist: NO LOVE.

Schon Erich Fromm war sich in den 1950ern sicher, dass wir superschlecht lieben können, weil wir in erster Linie versuchen, geliebt zu werden, statt selbst zu lieben: »Die Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt.« (86), genau wie es der ›Kleine Prinz‹ gepredigt hat. Wir sind also alle völlig besessen davon, erfolgreich und schön zu sein, um geliebt zu werden, was aber keineswegs auch dazu führt, weil alle dabei vollkommen auf jeweils ihre eigene Person fixiert sind. Ironie des Schicksals, haha. Schnief. Dafür profitieren Bekleidungs-, Kosmetikbranche und Schönheitschirurgie.

 


Queen Lou

Ganz nebenbei setzt Liv Strömquist der Philosophin, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé augenzwinkernd ein Denkmal – von der man wirklich eine Menge über die Liebe, ein »wunderseltsames Märchen«, lernen kann – dafür, dass sie Friedrich Nietzsche psychisch »völlig erledigt« hat, »den selbstbewusstesten Mann der Weltgeschichte« (27).

Sie weiß, die Liebe ist absolut, sie setzt Opferbereitschaft und die Preisgabe des Selbst voraus, den Verlust von Kontrolle und Unabhängigkeit, eine endgültige Entscheidung. Etwas, das heute anscheinend keiner mehr will. Da bleiben wir lieber allein und häufen nach Art kapitalistischer Ökonomie wie wild lockere Begegnungen an…

Risk it! Alles kann, nix muss.

Die schwedische Comic-Autorin schreibt in »Ich fühl’s nicht« zwar ungewohnt viel im Stil von ›Männer sind so, Frauen so‹, aber auch in ihrem aktuellen Buch überzeugt sie wieder mit einer übergroßen Lust an schalkhaftem Witz, empowernder Aufklärung und versöhnender Vermittlung. Sie liefert eine großartige Rundschau zum Thema Liebe von der Antike bis heute und so viele Stellen, wo man wie wild mit dem Kopf nickt, denn sie spricht einem direkt aus dem Herzen.

Unangefochtener Höhepunkt des Buches: der Vergleich vom Verliebtsein mit einem Dönerspieß.

»Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen wie ein Dönerfleisch, das sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht, zu nichts fähig, außer gegrillt zu werden.« (114)

Das ist nicht nur beispiellos sympathisch, sondern auch der beste Aufruf für den Mut zu lieben und zu scheitern, wieder mehr Kitsch in unsere Leben einziehen zu lassen, und zwar nicht nur in Form von RomComs. Ein witziges, warmherziges und kluges Plädoyer für eine von der Logik und den Zwängen des Spätkapitalismus befreiten Liebe, einer Neuen Romantik!

Also bevor wir vor lauter Selbstschutz alle liebesunfähig werden: Tinder löschen, ausgehen, fallenlassen. Dönerspieß sein. Jamm!

 

Anzeige:

Die Graphic Novel »Ich fühl’s nicht« von Liv Strömquist, übersetzt aus dem Schwedischen von Katharina Erben, umfasst 176 Seiten, erschien im März 2020 beim Avant-Verlag und kostet als Softcover 20,00 €.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert