Alle Artikel mit dem Schlagwort: Coming-of-Age

Matthias Brandt »Blackbird«

In einer namenlosen Kleinstadt in den 70ern, zu Zeiten von Wehrpflicht, David Bowie und dem weißen Album der Beatles, gerät das Leben des 15-jährigen Morten, genannt Motte, durch gleich mehrere große Erschütterungen aus den Fugen. Ernsthaft jetzt?! Egal. Mir reicht das hier jetzt auch. Bei Mottes bestem Freund Bogi – eigentlich Manfred Schnellstieg, das sagt aber keiner, nicht mal seine Eltern – wurde eine Krankheit entdeckt, die ganz unwirklich klingt: ein Non-Hodgkin-Lymphom, was soll das sein? Was Motte weiß, ist, dass Bogi jetzt für längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss, dass er für alles, was Spaß macht, zu schwach ist und dass er plötzlich nicht mehr weiß, wie er mit seinem Freund reden soll. Ihr letztes richtiges Gespräch vor dem ganzen Krankenhaus-Behandlungs-Albtraum ging übers Fürze-Anzünden, ein Thema, über das Bogi eine Menge weiß, aber das jetzt kaum mehr angemessen scheint. »Jetzt hat sich gerade alles verändert, dachte ich. Ne, dachte ich nicht. Keine Ahnung, was ich wirklich dachte. Vielleicht fragte ich mich auch nur, ob auf dem Sitzsack immer noch mein Abdruck zu sehen war.« …

Carmen Buttjer »Levi«

In Carmen Buttjers Debütroman »Levi« ist der Name Programm. Es ist Hochsommer in Berlin und eine brüllende, flirrende Hitze bildet den Grundton einer Geschichte, die zwischen hitziger und lähmender Stimmung schwankt. Levi ist elf und auf der Flucht vor seinen Gefühlen. Er hat die Urne während der Beerdigung seiner Mutter – eine Pathologin, die anscheinend am Arbeitsplatz erstochen wurde – geklaut und versteckt sich nun vor seinem Vater in einem Zelt auf dem Dach ihres Wohnhochhauses. So weit, so aufregend. Nichtsdestotrotz ist »Levi« ein überwiegend leiser Roman. Eigenwillig erzählt, schnörkellos mit melancholischen, zarten Tönen und bizarr schönen Bildern entwickelt er eine erzählerische Energie, die beeindruckt.   »Es regnete in meinen Ohren.« (11) »Da waren die Geräusche von Tieren: Vögel und Tiger und es war unmöglich zu unterscheiden, ob sie nur in meiner Vorstellung oder wirklich da waren. Ich rannte ihnen entgegen, draußen schien der Mond so hell, dass er ein Loch in mein T-Shirt gebrannt hätte, wenn ich stehen geblieben wäre. Ein Teil von mir blieb in der Pathologie sitzen. Ich wusste, ich würde ihn …

Kristin Höller – Hier ist es »Schöner als überall«

Dieses Autorinnendebut ist die Coming-of-Age-Geschichte zweier Anfang Zwanziger, deren Lebensentwürfe und Freundschaft in eine Krise geraten und die nach Antworten suchen in ihrem Heimatort. »Es ist eine komische Gegend hier. Wir sind nicht auf dem Land, dafür ist zu viel Beton überall, wir sind nicht in der Stadt, denn hier ist ja nichts, wir sind irgendwo dazwischen, wo man nirgends hinkommt ohne Auto, eine Zwischengegend. Hier wohnen Menschen, die in der Stadt arbeiten und im Grünen leben wollen, aber weit genug rausgetraut haben sie sich nicht. So grün ist es nämlich gar nicht, dafür alles verkehrsberuhigt und flach, und man kann von überall aus sehr weit sehen.« (23) Auslöser ist ein Speer, genauer gesagt der bronzene Speer der Athene-Statue vom Münchner Königsplatz, der zur Trophäe einer übermütigen Partynacht wird, zum Beweis ihrer Jugend, Wildheit und Lebendigkeit. Doch allzu schnell merken die beiden Freunde Martin und Noah, dass das keine gute Idee war. Dass das Diebesgut verschwinden muss. Ohne Plan sitzen die zwei auf der Flucht in einem Miettransporter und finden sich schließlich an dem Ort …

Ocean Vuong »Auf Erden sind wir kurz grandios«

Nach seinem gefeierten Gedichtband »Nachthimmel mit Austrittswunden« erscheint nun das Romandebut des vietnamesisch-amerikanischen Dichters Ocean Vuong – ein Text, der genau wie sein Autor zwischen Prosa und Lyrik schwankt und eine kraftvolle Geschichte von Krieg und Gewalt, Flucht, Ausgrenzung, Liebe und Tod erzählt, und vom Versagen des ›Amerikanischen Traums‹. »Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.« (182) Dieser wohl autofiktionale Text nimmt die Gestalt eines Briefes an die Mutter an, eine Nagelstudioarbeiterin in Connecticut, die weder Englisch noch überhaupt Lesen kann. »Ich traue mich nur deshalb, dir zu erzählen, was jetzt kommt, weil die Chancen, dass dieser Brief dich findet, gering sind – nur der Umstand, dass es dir nicht möglich ist, all das zu lesen, macht es mir möglich, es zu erzählen.« (113) Seine Großmutter Lan, die damals vor ihrem ersten Mann weggelaufen war, hatte sich als Bauernmädchen in Vietnam während des Kriegs in einen US-Soldaten verliebt – die gesamte Familiengeschichte des Protagonisten wurzelt also im Krieg, ist die Saat der Gewalt. Aufgewachsen ist der Ich-Erzähler, …

Friedemann Karig im »Dschungel« der Erinnerung

Zwei Teenager auf einer Klippe – den einen fasziniert der Abgrund und der Gedanke an den Sprung, der andere lernt das Fürchten vor diesem, seinem besten Freund. »›Es gibt keine Höhenangst, Herr Doktor‹, erklärt er mir. Seine Arme flattern wie zwei Flügel durch die Luft. ›Es gibt nur Fallsucht. Das ist keine Furcht. Sondern Lust! Der Sog der Tiefe. Der Reiz des letzten Schrittes.‹« (12) Was ihn daran reizt, ist der Mut. Zu wissen, dass man mutig genug für diesen letzten Schritt wäre. Der Mut, der dein Leben maximal zu vereinfachen vermag und Spaß erst möglich macht.   »›Eine Freundschaft wiegt nur so schwer wie die in ihr behüteten Geheimnisse.‹« (157) Felix ist der aller beste und einzige Freund des namenlosen Protagonisten. Jemand, zu dem er aufguckt, den er nicht enttäuschen will. Jemand, der seiner eigenen Existenz erst einen Sinn gibt. Eine Freundschaft, die über ein natürliches Maß an Abhängigkeit weit hinaus geht. Ins Pathologische hineinreicht. Mittlerweile sind die beiden erwachsen und unser Protagonist entscheidet sich zum ersten Mal gegen Felix, als dieser ihn bittet, …

Yannic Han Biao Federer »Und alles wie aus Pappmaché«

»Aber so ist es nicht gekommen, weil es anders gekommen ist« (S. 10) Dieser Debutroman erzählt von dem Versuch mehrerer junger Menschen, sich und einen Platz in der Welt zu finden und will dabei einiges über die Zeit erzählen, in der wir leben. Der junge Autor macht dabei eine Zeitspanne von 15 Jahren auf. Beginnend im Jahr 2001 in der Badischen Provinz reicht die Erzählung fast bis in die aktuellste Gegenwart und springt immer wieder zwischen den Figuren und in der Zeit. Schlaglichtartig werden Blicke auf die Menschen einer lose zusammenhängenden Gruppe gewährt, wobei durch massenhaft Realitätspartikel ordentlich 00er-Jahre-Nostalgie aufkommt. Dabei ist schwer zu sagen, worum es eigentlich geht. Der Roman gleicht eher einem atemlosen Geplapper ohne wirklichen Plot, das inhaltlich an Telenovelen erinnert. Es geht um Bettgeschichten, Drogen, Wahnsinn und jede Menge Tratsch. Die ursprünglichen Klassenkameraden haben sich irgendwann alle aus den Augen verloren, doch Ich-Erzähler Jian arbeitet sich daran ab, was ihre gemeinsame Geschichte sein könnte. Bis alle Erzählstränge in ein unfreiwilliges Klassentreffen auf einer Beerdigung münden… Der Text kokettiert mit einer sehr zerstreuten …

Helene Hegemann schaut auf Bungalows

»›Die Welt existiert nur dann, wenn sie auf der Kippe steht.‹« (S. 44) In »Bungalow« beschreibt Helene Hegemann die radikalen Selbstfindungsversuche der jungen Charlie, die zwangsläufig mit Selbstzerstörung und -verlust Hand in Hand gehen. Der Roman berührt durch seine beinahe zerstörerische Kraft, erzählt pessimistisch, schonungslos und bitterböse aus der Sicht der 17-jährigen Charlie von ihrer gestörten Kindheit. Denn ihr Leben als gebrandmarktes Kind durch die psychisch kranke, alkoholsüchtige Mutter ist geprägt von Angst und Scham gegenüber der überforderten Erziehungsberechtigten. Außerdem strotzt es vor Zerstörungswut, Panikattacken, voyeuristischen Streifzügen, Sexfantasien und Eskapaden bei einem nach Identifikation suchenden Schwanken zwischen den Extremen. Charlie wächst in einer tristen, immer apokalyptischer werdenden Welt auf und kämpft mit der Vernachlässigung und Gefährdung, die von ihrer unberechenbaren Mutter ausgeht. Verwahrlosung, Hungerleiden und Gewaltattacken – zu ihren ganz konkreten Ängsten fantasiert Charlie sich noch eine Hand voll fiktiver dazu. »Ich erkannte meine Mutter auch nicht wieder. Die Intensität meiner Ängste stieg proportional zur Abnahme ihrer Zurechnungsfähigkeit. Jede Nacht wurde zu einem Zustand ungezügelter Panik, ich halluzinierte Asteroideneinschläge und mit vergifteten Dolchen bewaffnete Einbrecher.« …

Jennifer Clement »Gun Love«

»Wusstest du, dass für jeden Menschen auf der Welt zwei Kugeln existieren?« (S. 152) Der neue Roman der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement spürt einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung irgendwo im Hinterland von Florida nach, die durch einen Mann und seine Pistolen gefährdet wird. Das Setting erinnert sehr an Sean Bakers Kinofilm »The Florida Project«. »Ich? Ich wuchs in einem Auto auf, und wenn man in einem Auto lebt, hat man keine Angst vor Blitz und Donner, das Einzige, wovor man Angst hat, ist der Abschleppwagen.« Die kleine Pearl lebt seit der Geburt mit ihrer Mutter in einem Auto am Rande eines Trailerparks in einer Wohnwagensiedlung. Auch wenn sie in prekären Verhältnissen aufwächst, mit der ständigen Angst an das Jugendamt verraten zu werden, lebt sie mit ihrer Mutter doch im Hier und Jetzt einer zauberhaft verträumten, heilen Welt. Im Inneren des Ford Mercury wirken andere Kräfte als in der irrsinnigen Welt da draußen voller Waffennarren, Gefahr, Gewalt und Hass. Die Erzählung ist besonders geprägt durch den traumwandlerischen Blick der beiden, durchzogen von Passagen aus Lovesongs und in einer …

I.J. Kay träumt sich »Nördlich der Mondberge«

Ein schneidend kalter Wind bahnt sich durch die Wohnung. Technobässe kommen von unten und lassen die frisch gestrichene Wand erzittern, auf der das Wort »Fotze« immer noch erkennbar ist. In der erschwindelten Resozialisierungswohnung fehlt jegliche Einrichtung und Strom gibt es auch keinen, da das Sozialhilfegeld auf sich warten lässt. Hier versucht Louise nach ihrer zehnjährigen Haftstrafe einen Neuanfang. Sie hat einen miesen Job in einer Donutfabrik bekommen, mit dem sie sich mehr schlecht als recht über Wasser hält, um sich ein normales Leben aufzubauen. Doch schon bald wird sie feststellen müssen, dass sich im Leben nicht Tabula rasa machen lässt und dass ihre Vergangenheit sie immer wieder einholen wird. Das ist die Rahmengeschichte in »Nördlich der Mondberge«, dem Debutroman der zurückgezogen lebenden britischen Autorin I.J. Kay, über die der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt ist. Nicht einmal ihr richtiger Name, denn I.J. Kay ist ein Pseudonym – frech dem Alphabet entnommen und genauso aussagekräftig wie ASDF oder XYZ. Louise, als Kind noch Lulu, hatte es nicht leicht. Ihre narzisstisch-neurotische Mutter Joan, die sich als verhinderte Bühnen-Diva …

Christoph Heins »Verwirrnis«

Nach »Glückskind mit Vater« und »Trutz« ist nun der neue Christoph Hein da! Der mit zahlreichen Preisen dekorierte große Gegenwartsautor wird einmal mehr zum eindrucksvollen Chronisten deutscher Geschichte. »Verwirrnis« erzählt bewegend von der verbotenen Liebe zwischen zwei Jungen aus dem katholischen Heiligenstadt in Thüringen während der 1950er Jahre. Ein Gay-Roman, der Coming-of-Age-Geschichte, Zeitportrait der zwei deutschen Staaten und Milieustudie verbindet, der Fragen der Religiosität, Moral, der menschlichen Natur, Scham und der unentrinnbaren Folgen von Erziehung und Elternhaus in den Blick nimmt, aber der vor allem die Kraft und Ohnmacht der Liebe bebildert. Friedeward liebt Wolfgang Friedls Kindheit in den 30er und 40er Jahren wird überschattet von seinem strengen, konservativen Vater Pius, der körperliche Züchtigung für sowohl angemessen als auch notwendig in der Erziehung hält. Das Familienoberhaupt hat wenig übrig für Anerkennung oder Lob, seine Liebe lässt er seine Familie nicht spüren, sodass sie diese ganz in Frage stellen. Von seinen Kindern und sogar von seiner Frau Hedwig wird Oberlehrer Pius gefürchtet und schließlich auch gehasst. Der Siebenstriemer, eine mit Lederschlaufen versehene Peitsche, sorgt seit Generationen …