Alle Artikel mit dem Schlagwort: Deutsche Literatur

Mit Olivia Wenzel »1000 Serpentinen Angst« durchqueren

»Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich hätte in dem Automaten Unterschlupf gesucht, gleich als ich den Bahnsteig betrat. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich wäre sofort in diesen Automaten aus Blech eingezogen und hätte darin für ein paar Tage gewohnt. (…) Ich hätte durch die Scheibe nach draußen schauen und die Menschen auf dem Bahnsteig beobachten können. Ich hätte Grimassen schneiden und pathetische Lieder singen, hätte die Gespräche der Leute live synchronisieren können. Den Menschen, dir zu mir gekommen, wären, um sich einen Snack zu holen, hätte ich eindringliche Fragen stellen können. Oder Antworten geben. Ich hätte mich verlieben können. Ich hätte meine bisherigen Berufe, mein bisheriges Leben einfach so vergessen können.« (11) Es ist die Urszene ihrer Angst, die plötzlich alles zu beherrschen scheint. Der Bahnsteig, an dem sie sich immer wieder stehen sieht, ganz allein zwischen Fremden. Derselbe Bahnsteig, an dem ihr Zwillingsbruder sich mit 17 umgebracht hat. Und sie sich selbst überlassen hat, in einem Leben, das wirklich alles andere als einfach ist. Wer würde sich da nicht im Snackautomaten …

»Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«

»Das Wort Flâneuserie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es.« Diese Anthologie, herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring und Lea Sauer, erzählt davon, was Frauen* erleben, wenn sie in Städten unterwegs sind. Oder warum sie es nicht sind. Neben denen der Herausgeberinnen versammelt der Band Beiträge von 26 weiteren Autor*innen, darunter etablierte Namen wie Bettina Wilpert, Svenja Gräfen und Anke Stelling. Flexen, das klingt nach Heimwerkern und schwerem Handwerk. Das klingt hart, nach Schweiß und brechendem Widerstand und das klingt vor allem männlich. Nun hat das Wort Flexen neben der landläufig bekanntesten noch eine Reihe weiterer Bedeutungen: biegen, Sex haben, das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap, die Muskeln anspannen, seine Muskeln zur Schau stellen und die Flâneuserie. Und damit sind wir schon mittendrin. »Flexen« hat es sich zur Aufgabe gemacht, der starken literarischen Tradition des männlichen Flaneurs aus westlicher, weiß-männlicher Feder etwas entgegenzusetzen. Flexen, das ist aktiv. Ein neues Wort, ein nützliches. »Braucht es dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, …

Katja Lewina »Sie hat Bock«!

Ȇberraschung! Frauen wollen auch ficken.« (35) Katja Lewina ist Sex-Bloggerin, bisexuell und lebt in offener Ehe – vor allem aber schreibt sie sehr unterhaltsam über das Patriarchat, Sexismus und mögliche Lösungen. Sie beschäftigt sich mit Themen wie dem weiblichen Genital, Lust und Orgasmus, Schönheitsansprüchen, Rollenzuschreibungen, Single-, Fat-, Victim- und Slut-Shaming, Rape Culture, Prostitution, Porno und Unterwerfung, dem Ideal der Monogamie oder wie Laurie Penny es nennt »Alles mit Einem für immer«, #metoo, »Ja heißt Ja« und der Deutungshoheit über die Geschlechter. Dabei beweist sie nicht nur einen wachen Blick und eine fundierte Kenntnis der feministischen Literatur, sondern trumpft vor allem mit einem sehr persönlichen, energiegeladenen, frechen Sound auf. Auf angenehme Art flechtet sie zu jedem Unterthema eine Anekdote aus ihrer Vergangenheit ein und verleiht dem essayistischen Manifest so auch eine erzählerische Qualität. Wovon reden wir eigentlich? Bei der Benennung fängt das Schlamassel ja schon an. Für das weibliche Genital gibt es kein Wort, mit dem wir uns wirklich wohl fühlen würden. Muschi, Pussy, Mumu, Möse? Alles Käse. Eine Scheide, die dadurch definiert ist, ein Behältnis …

»Das Licht, das Schatten leert« – eine Graphic Novel von Tina Brenneisen

»Es ist hart, ein Leben im Konjunktiv führen zu müssen.« (26) Fritzemann und Tina hatten eine Totgeburt. Lasse hätte ihr erstes Kind mit Ende Dreißig sein sollen, und alles schien in bester Ordnung; die Werte stimmen und das Paar freut sich wahnsinnig auf die Familiengründung. Doch dann bringt ein unentdeckter Schwangerschaftsdiabetes den kleinen Lasse kurz vor der Geburt um. Ein Schock. Kaum zu begreifen und erst recht nicht zu ertragen.     »Einer Paranoikerin wäre das nie passiert.« (86) Besonders Tina fällt es schwer, sich zu vergeben. Sie fühlt sich von ihrem Körper betrogen, schuldig und unwürdig. Hätte man Lasses Tod verhindern können? Hätte sie als Mutter etwas spüren müssen? Auf noch mehr ärztliche Kontrollen bestehen sollen? Auch ohne gläubig zu sein, stellt sich ihr nach einem solchen Trauma die Theodizee-Frage: Warum wir? Welcher Gott lässt das zu? War sie zu emanzipiert und undankbar? Es fällt schwer, ein solches Ereignis nicht als persönliche Bestrafung zu empfinden.   »Niemand hat den Tod gern in seiner Nähe. Uns begleitet er von nun an jeden Tag.« (11) Zunächst …

Mariana Leky erahnt, »Was man von hier aus sehen kann«

Selma ist Luises Großmutter und wenn sie von einem Okapi träumt – dem unwahrscheinlichsten Tier der Welt, bei dem wirklich nichts zusammenpasst –, dann wissen alle im Dorf: Jemand wird in den nächsten 24 Stunden sterben. Ihre Verzweiflung über die Ungewissheit, wen von ihnen es treffen wird, entlockt vielen von ihnen lange zurückgehaltene Wahrheiten – Geheimnisse, die nicht ohne Grund gehütet wurden –, die den gemächlichen Trott ganz schön durcheinander bringen. Doch diesmal fällt Martin dieser totbringenden Weissagung zum Opfer. Der beste Freund von Luise, der für sein Leben gern Gewichtheber imitiert, um zu vergessen, dass sein trinksüchtiger Vater missgelaunt zu Hause wartet, fällt auf dem Weg zur Schule – genau während ihres Lieblingsspiels „Ich sag dir, was du siehst, mit verschlossenen Augen“: Weide, Weide, Weide, Busch – einfach durch eine nicht richtig verschlossene Zugtür und bringt die Welt aller Dorfbewohner aus den Fugen. Nichts ist mehr wie es war. Luises Vater bricht auf eine Weltreise auf, die ihn nicht mehr loslassen wird. Die Mutter fängt eine Affäre mit dem Eisdienlenbesitzer an. Martins Vater gibt …

Matthias Brandt »Blackbird«

In einer namenlosen Kleinstadt in den 70ern, zu Zeiten von Wehrpflicht, David Bowie und dem weißen Album der Beatles, gerät das Leben des 15-jährigen Morten, genannt Motte, durch gleich mehrere große Erschütterungen aus den Fugen. Ernsthaft jetzt?! Egal. Mir reicht das hier jetzt auch. Bei Mottes bestem Freund Bogi – eigentlich Manfred Schnellstieg, das sagt aber keiner, nicht mal seine Eltern – wurde eine Krankheit entdeckt, die ganz unwirklich klingt: ein Non-Hodgkin-Lymphom, was soll das sein? Was Motte weiß, ist, dass Bogi jetzt für längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss, dass er für alles, was Spaß macht, zu schwach ist und dass er plötzlich nicht mehr weiß, wie er mit seinem Freund reden soll. Ihr letztes richtiges Gespräch vor dem ganzen Krankenhaus-Behandlungs-Albtraum ging übers Fürze-Anzünden, ein Thema, über das Bogi eine Menge weiß, aber das jetzt kaum mehr angemessen scheint. »Jetzt hat sich gerade alles verändert, dachte ich. Ne, dachte ich nicht. Keine Ahnung, was ich wirklich dachte. Vielleicht fragte ich mich auch nur, ob auf dem Sitzsack immer noch mein Abdruck zu sehen war.« …

Angela Lehner »Vater unser«

»Die Irrenanstalt als Naherholungsgebiet« (36) »Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.« (25) Was hat Eva Gruber angestellt, dass sie von der Polizei in die Irrenanstalt gebracht wird? Angela Lehners Debüt, das den Österreichischen Buchpreis 2019 gewinnt, erzählt vom Irrweg einer Familie aus der Sicht der Tochter – eine Geistesgestörte, die man in sein Herz schließt und der man bis zum Schluss nicht ganz trauen kann. »Womit könnte man besser ausdrücken, dass man am Boden der Tatsachen angekommen ist, als mit Plastikboden?« (25) Hat Eva tatsächlich, wie sie sagt, eine ganze Kindergartenklasse erschossen? Der Gedanke drängt sich auf, dass sie ihre Krankengeschichte frisiert, um in das Wiener Spital für psychisch Kranke aufgenommen zu werden, in dem auch ihr kleiner Bruder Bernhard wegen seiner Essstörung und Angstzustände lebt. Und was ist zwischen den beiden Geschwistern vorgefallen, dass Bernhard ihre Fürsorge und Nähe als Bedrohung betrachtet? »Bernhard ist der einzige Mensch, dessen Furcht für …

Anika Decker & Katja Riemann »Wir von der anderen Seite«

Als Rahel, selbstständige Drehbuchautorin, auf der Intensivstation erwacht, hat sich alles geändert – sie sieht aus wie Mister Burns von »Den Simpsons«, abgemagert, mit gelblicher Haut, gebeugt und schwach – doch zum Glück hat sie ihren Humor nicht verloren. Und trotzdem lässt sich dieses Erlebnis nicht einfach vergessen. Wie soll man weitermachen, wenn Körper und Geist nur langsam gesunden und das alte Leben erschreckend weit weg scheint? Kann eine Liebe dieser Belastung standhalten? Anika Decker ist erfolgreiche Drehbuchautorin, bekannt geworden ist sie gleich mit ihrem Drehbuchdebüt »Keinohrhasen«. Ihr erster Roman umkreist nun in autobiografischer Anlehnung das Schicksal der jungen Rahel, deren Nierenstein an Weihnachten zu einer Blutvergiftung mit anschließendem Mulitorganversagen führte. Der einzige medizinische Ausweg: künstliches Koma. Drei Monate wird sie im Krankenhaus bleiben müssen, so stark geschwächt, dass Klo- und Spaziergänge zu epochalen Anstrengungen werden. Doch auch in der anschließenden Reha und der Rückkehr nach Hause wird es nicht einfacher. »Wir von der anderen Seite« erzählt von ihrem Versuch ins alte Leben zurückzukehren. Anika Decker schreibt schreiend komisch und herzzerreißend traurig vom schweren Weg …

Jackie Thomaes »Brüder« auf der Shortlist

Von Wahlbrüdern, Halbbrüdern und Stammesbrüdern, Brüdern im Geiste oder auf dem Papier, Bros, Komplizen und Vorbildern Ein ernsthafter Anwärter auf den Deutschen Buchpreis war Jackie Thomaes Roman wohl eher nicht. Die Geschichte um die zwei Halbbrüder Mick und Gabriel kommt ganz sympathisch daher, eine mal mehr mal weniger unterhaltsame Familiengeschichte, zwei große Lieben, unterm Strich keine phänomenale Idee. Der Text bringt uns zwei sehr unterschiedliche Brüder näher, gewährt flüchtige Blicke auf das (post-)geteilte Deutschland, thematisiert ein Leben als ‘gemischtrassige‘ Person of Colour ohne Kenntnis des eigenen senegalesischen Vaters und dessen Kultur, beleuchtet dabei verschiedene Facetten das Themas Hautfarbe – doch auch darum geht es nicht primär. Thomaes Roman entwirft recht detailreich zwei Individualeben, nicht einmal Schicksale, und lässt diese zwei dramaturgischen Fäden sich dann nicht einmal kreuzen. »Ja, die Jahre flossen ineinander. Doch das hieß nicht, dass dieses Fließen nicht auch seine Schönheit hatte. Eine irrlichternde, nichtkonservierbare Schönheit der Kategorie: Muss man dabei gewesen sein.« (7) »Brüder« kommt sehr plauderig daher, ist stellenweise auch komisch – darauf setzt die Autorin bei Lesungen auch klar ihren …

Carmen Buttjer »Levi«

In Carmen Buttjers Debütroman »Levi« ist der Name Programm. Es ist Hochsommer in Berlin und eine brüllende, flirrende Hitze bildet den Grundton einer Geschichte, die zwischen hitziger und lähmender Stimmung schwankt. Levi ist elf und auf der Flucht vor seinen Gefühlen. Er hat die Urne während der Beerdigung seiner Mutter – eine Pathologin, die anscheinend am Arbeitsplatz erstochen wurde – geklaut und versteckt sich nun vor seinem Vater in einem Zelt auf dem Dach ihres Wohnhochhauses. So weit, so aufregend. Nichtsdestotrotz ist »Levi« ein überwiegend leiser Roman. Eigenwillig erzählt, schnörkellos mit melancholischen, zarten Tönen und bizarr schönen Bildern entwickelt er eine erzählerische Energie, die beeindruckt.   »Es regnete in meinen Ohren.« (11) »Da waren die Geräusche von Tieren: Vögel und Tiger und es war unmöglich zu unterscheiden, ob sie nur in meiner Vorstellung oder wirklich da waren. Ich rannte ihnen entgegen, draußen schien der Mond so hell, dass er ein Loch in mein T-Shirt gebrannt hätte, wenn ich stehen geblieben wäre. Ein Teil von mir blieb in der Pathologie sitzen. Ich wusste, ich würde ihn …