Alle Artikel mit dem Schlagwort: Drama

Karen Duve »Fräulein Nettes kurzer Sommer«

Ein Biopic der anderen Art Es wurde schon vieles gesagt über diesen preisgekrönten Historienroman, der beweist, dass Karen Duve wirklich jedes Genre beherrscht. Sie wagt sich an niemand geringeres als Annette von Droste-Hülshoff, flächendeckende Schullektüre seit Jahrzehnten. Im Mittelpunkt dieses Biopics der gerade einmal Anfang zwanzigjährigen Dichterin steht eine unerhörte Begebenheit, wie sie für Novellen konstitutiv sind, nur das sich diese zu einem 600 Seiten schweren Roman auswächst, der fünf Jahre aus dem Leben der Nette beleuchtet und bei dem jede einzelne Seite vom großen Spaß der Autorin am Schreiben kündet. Diese zentrale Tragödie, die am Ende niemanden unbeschadet hervorgehen lässt, ist eingebettet in ein detailreiches und gnadenlos enthüllendes Sittengemälde, eine historisch genaue Epochenschau. »Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Bökerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln. Nur wenige Hinweise sind vorhanden.« (Vorwort, 7) Sehr gewissenhaft recherchiert Duve – sie vergleicht sich selbst mit einer Profilerin – aus einer schier unglaublichen Fülle an Archivmaterial, Briefen, Tagebüchern, Familienchroniken; im Anhang des Romans werden etwa 200 Referenztexte der Sekundärliteratur aufgelistet. Diese Recherche-Akkuratesse setzt sie gekonnt um, sodass …

Ocean Vuong »Auf Erden sind wir kurz grandios«

Nach seinem gefeierten Gedichtband »Nachthimmel mit Austrittswunden« erscheint nun das Romandebut des vietnamesisch-amerikanischen Dichters Ocean Vuong – ein Text, der genau wie sein Autor zwischen Prosa und Lyrik schwankt und eine kraftvolle Geschichte von Krieg und Gewalt, Flucht, Ausgrenzung, Liebe und Tod erzählt, und vom Versagen des ›Amerikanischen Traums‹. »Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.« (182) Dieser wohl autofiktionale Text nimmt die Gestalt eines Briefes an die Mutter an, eine Nagelstudioarbeiterin in Connecticut, die weder Englisch noch überhaupt Lesen kann. »Ich traue mich nur deshalb, dir zu erzählen, was jetzt kommt, weil die Chancen, dass dieser Brief dich findet, gering sind – nur der Umstand, dass es dir nicht möglich ist, all das zu lesen, macht es mir möglich, es zu erzählen.« (113) Seine Großmutter Lan, die damals vor ihrem ersten Mann weggelaufen war, hatte sich als Bauernmädchen in Vietnam während des Kriegs in einen US-Soldaten verliebt – die gesamte Familiengeschichte des Protagonisten wurzelt also im Krieg, ist die Saat der Gewalt. Aufgewachsen ist der Ich-Erzähler, …

Aynur ist »Nur eine Frau« – Filmkritik

Eine junge, lebenshungrige Deutsch-Türkin stellt sich gegen die Unterdrückung und muslimischen Traditionen ihrer Familie, um ein selbstbestimmtes, freies Leben zu führen. Ein Leben ohne ihren gewalttätigen Ehemann, der ihr Cousin ist und mit dem sie im Alter von 16 Jahren verheiratet wurde. Ein Leben ohne Kopftuch, weil sie nicht mehr versteht, was Allah gegen ihre Haare hat. Ein Leben ohne das Korsett von strengreligiösen Traditionen, die ihr ein Leben als demütige Hausfrau vorschreiben. Für ihren Mut, ihren westlichen Lebensstil und die „Schande“, die sie über die Familie damit brachte, musste sie büßen: Am 7. Februar 2005 wird die 23-jährige Aynur von ihrem jüngsten Bruder auf offener Straße erschossen. Mitten in Berlin, vor ihrer Wohnung, in der ihr fünfjähriger Sohn auf sie wartet. Das ist nicht nur eine Geschichte, sondern abscheuliche Realität: Der Ehrenmord an Hatun Sürücü (genannt Aynur) geschah in Berlin Tempelhof. Nach einer wahren Geschichte In diesem Film kommt die Tote zu Wort. Während Almila Bagriacik (bekannt aus 4 Blocks) Aynur verkörpert, ist ihre Stimme zugleich im Voice-Over zu hören. Kommentierend und wertend erzählt die …

Matthias Nawrat »Der traurige Gast«

Der Mann ohne Namen »Ich stand hier unten, die Türen des einfahrenden Zuges öffneten sich, ich stieg in die bunte Menge der nihilistischen Mörder und ihrer Opfer ein, ich setzte mich und dachte, dass es egal war – die Situation der Situationen wäre unumkehrbar.« (191) Der polnisch-deutsche Autor Matthias Nawrat führt in »Der traurige Gast« – nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 – einen namenlosen Protagonisten vor, der bis zum Schluss eher eine Art Hülle bleibt, die mit den Geschichten anderer gefüllt wird. Er ist zu Gast in den Leben anderer, bleibt aber lediglich ein Flaneur, ein Beobachter, der die Angebote, aktiv und tatsächlich Teil ihrer Leben zu werden, immer wieder ausschlägt. Warum es sich bei ihm um einen traurigen Gast handelt, obwohl sein Leben gut, unauffällig zu sein scheint, ist wohl auch dem Ich-Erzähler selbst nicht klar. Der Protagonist bewegt sich in der polnischen Gemeinde Berlins und trifft im Laufe des Romans mehrere Fremde, die bereit sind, ihm ihre Geschichten anzuvertrauen. Dabei prägen ihn besonders die Gespräche mit der polnischen Architektin Dorota …

Édouard Louis‘ Spurensuche: »Wer hat meinen Vater umgebracht«

Die Tragödie der sozial Abgehängten Das dritte Buch des jungen französischen Erfolgsschriftstellers Édouard Louis ist eine Art autobiografischer Essay. Wieder arbeitet er sich an der Figur seines Vaters ab, diesmal jedoch mit sehr viel wohlwollenderem Blick als in seinem Debut »Das Ende von Eddy«. Auf der Suche nach Schuldigen für das Elend im Leben seines Vaters, auf der Suche nach Gründen für die harte eigene Kindheit erzählt Louis Anekdoten wie aus dem Familienalbum gescheiterter Leben. Er scheint einer Antwort näher zu kommen, als er beginnt, in der persönlichen Tragödie die allgemeine zu suchen. »Die Welt war für das Elend verantwortlich, doch wie sollte man die Welt verurteilen, die Welt, die den Menschen um uns herum ein Leben auferlegte, das sie nur zu vergessen versuchen konnten – mit Alkohol, dank Alkohol. Es galt: vergessen oder sterben, oder vergessen und sterben.« (22) Der Titel erinnert derweil an Xavier Dolans Film »J’ai tué ma mère«, auf Deutsch »Ich habe meine Mutter getötet«, welchem Louis sein Buch auch widmet. Der frankokanadische Filmemacher und Louis sind etwa im selben Alter …

Sarah Kuttner kennt ‘nen »Kurt«

»Also habe ich jetzt ein Haus und zwei Kurts. Im Grunde wie Pippi Langstrumpf.« (S. 46) Sehr treffsicher legt die lässige TV-Moderatorin Sarah Kuttner mit »Kurt« eine tragische Familiengeschichte vor, die ins Herz trifft, ohne je Gefahr zu laufen, ins Feld des Kitsches abzurutschen. Zwar nimmt sie sich des schweren Themas der Trauerbewältigung nach dem plötzlichen Tod eines nahestehenden Familienmitglieds sehr einfühlsam an, dabei erzählt sie aber auch augenzwinkernd und leichtfüßig. Man verliebt sich während der Lektüre zwangsläufig in Kurt, den großen und den kleinen, und dann gleich in diese ganze Truppe aus coolen, albernen, herzenswarmen Oranienburgern, was die Tragödie umso schwerer macht. Ãœberwältigend und entwaffnend schön erzählt die Autorin so viel auf so kleinem Raum und vermeidet dabei gekonnt Kitsch und Pathetisches.   Alles Kurt! »Ich bin mit zwei Kurts zusammengezogen. Einem ganzen Kurt und einem Halbtags-Kurt. (…) Jana und Kurt haben sich entschieden, dass sie ihr Sorgerecht teilen, vor allem wenn Kurt schon extra aufs Land zieht. Und so pendelt das Kind nun wochenweise zwischen seinen beiden Oranienburger Zuhauses hin und her (…): …

Han Kang »Deine kalten Hände«

Nach »Menschenwerk« und »Die Vegetarierin« erscheint nun »Deine kalten Hände« von der international erfolgreichen südkoreanischen Autorin Han Kang – ein Künstlerroman über die Suche nach Wahrhaftigkeit, die fatalen gesellschaftlichen Folgen von Äußerlichkeiten und die grundsätzliche Einsamkeit der menschlichen Existenz. »Warum ist die Mitte meines Lebens so absolut hohl?« (S. 27) Der Bildhauer Jang Unhyong verschwindet eines Tages beinahe spurlos. Alles, was er zurücklässt, ist ein Tagebuch und eine Vielzahl von Gipsskulpturen, reale Abdrücke von Händen, Hüften, ganzen Körpern. Umrahmt werden diese Tagebuch-Notizen mit Szenen aus dem Leben der Schriftstellerin H., die die Aufzeichnungen des verschwundenen Künstlers für dessen kleine Schwester lesen soll, um bei der Suche und dem Verstehen zu helfen, doch eigentlich hat H. selber genug Probleme mit sich und ihrem Leben… Jang Unhyong ist ein unbekannter Bildhauer, einzelgängerisch, sonderbar und schweigsam kann er sich Menschen nur durch seine Kunst nähern. Schnell entwickelt er eine obsessive Leidenschaft für Lifecasting-Skulpturen – er nimmt Gipsabdrücke von menschlichen Modellen, anfangs bevorzugt von Händen, später auch von anderen Körperteilen oder, besonders wertvoll, von vollständigen Körpern. Die so entstehenden …

Lucy Fricke schafft ein Monument für uns »Töchter«

Kann man seine Vergangenheit ablegen und hinter sich lassen? »›Ich wollte zum Grab meines Vaters.‹ ›Dein Vater ist tot?‹ ›Nicht der. Der andere.‹ ›Du hast so viele Väter, dass ich nie weiß, von welchem du sprichst.‹ Martha übertrieb. Es gab im Wesentlichen nur drei. Den guten, auch genannt Der Posaunist, den bösen, auch genannt Das Schwein, und den leiblichen, genannt Der Jochen.« (S. 18) Betty ist 40 und in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten. Enttäuscht von den Männern ist sie, seit ihre zahlreichen Väter alle immer nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind. Auch als Schriftstellerin ist sie in eine Schaffenskrise geraten und verdient sich im teuren, hippen Berlin-Friedrichshain durch Untermieter etwas Geld dazu, während sie in Auslandsreisen vor ihrer Lebensmisere davonzulaufen versucht. »Wir wohnten durcheinander, wohnten unten und oben bei den Nachbarn, schliefen auf den Sofas, während in unserer eigenen Wohnung die Partytouristen aufs Parkett pinkelten. / Ich finanzierte mich, indem ich aus der Stadt verschwand. Brauchte ich Geld, fuhr ich weg, in Gegenden, die billiger waren als diese, und davon gab es jede …

Anja Kampmann »Wie hoch die Wasser steigen«

»Das Meer spuckte aus, was es nicht mehr brauchte.« (S. 45) Waclaw arbeitet seit zwölf Jahren auf verschiedenen Ölbohrplattformen auf hoher See, weit draußen im Niemandsland zwischen den Kontinenten. Seit zwölf Jahren hat er die Festlandwelt und dessen Bewohner hinter sich gelassen, wird diese immer bedeutungsloser und blasser. Sogar seine Mutter in diesem furchtbaren Heim und seine große Liebe Milena sind nichts als entfernte Erinnerungen. Doch als plötzlich sein bester Freund und Vertrauter Mátyás bei der Arbeit verunglückt, beginnt für Waclaw alles an Sinn zu verlieren. Er kehrt seinem Job den Rücken und irrt durch Europa auf der Suche nach Halt – zu müde, um ein neues Leben zu beginnen, aber auch in das alte lässt sich nicht zurückkehren. »Einige schafften es, nach ein paar Jahren aufzuhören. Sie legten, was sie verdient hatten, beiseite. Bauten Häuser – kehrten zurück in diese Welten, die über Jahre die Innenwände ihrer Spinde ausgekleidet hatten (…) Andere trieben ab. Ohne zu wissen, wohin die Strömung sie trug. Ohne zu wissen. In all dem war Mátyás einer der wenigen, der …

Helene Hegemann schaut auf Bungalows

»›Die Welt existiert nur dann, wenn sie auf der Kippe steht.‹« (S. 44) In »Bungalow« beschreibt Helene Hegemann die radikalen Selbstfindungsversuche der jungen Charlie, die zwangsläufig mit Selbstzerstörung und -verlust Hand in Hand gehen. Der Roman berührt durch seine beinahe zerstörerische Kraft, erzählt pessimistisch, schonungslos und bitterböse aus der Sicht der 17-jährigen Charlie von ihrer gestörten Kindheit. Denn ihr Leben als gebrandmarktes Kind durch die psychisch kranke, alkoholsüchtige Mutter ist geprägt von Angst und Scham gegenüber der überforderten Erziehungsberechtigten. Außerdem strotzt es vor Zerstörungswut, Panikattacken, voyeuristischen Streifzügen, Sexfantasien und Eskapaden bei einem nach Identifikation suchenden Schwanken zwischen den Extremen. Charlie wächst in einer tristen, immer apokalyptischer werdenden Welt auf und kämpft mit der Vernachlässigung und Gefährdung, die von ihrer unberechenbaren Mutter ausgeht. Verwahrlosung, Hungerleiden und Gewaltattacken – zu ihren ganz konkreten Ängsten fantasiert Charlie sich noch eine Hand voll fiktiver dazu. »Ich erkannte meine Mutter auch nicht wieder. Die Intensität meiner Ängste stieg proportional zur Abnahme ihrer Zurechnungsfähigkeit. Jede Nacht wurde zu einem Zustand ungezügelter Panik, ich halluzinierte Asteroideneinschläge und mit vergifteten Dolchen bewaffnete Einbrecher.« …