Alle Artikel mit dem Schlagwort: feministisch

Katja Lewina begibt sich ins fremde Gehege – »Bock« erzählt Bettgeschichten aus Männersicht

Wann ist der Mann ein Mann? Nach »Sie hat Bock« jetzt schlicht und einfach »Bock«. Purer Animalismus. Was halten sie vom Sex und welchen haben sie, die Männers? Die Sexbloggerin ist zwar keiner, aber über Sex weiß sie eine ganze Menge, wie sie in ihrem ersten Buch bereits unter Beweis gestellt hat, besonders wenn es darum geht, wie Sex mit Macht, Patriarchat und Küchenarbeit zusammenhängt. Sie hat mit einigen Exemplaren gesprochen, mit Psychologen, Paartherapeuten, Urologen, Philosophen, trans-Männern, Orgasmus-Coaches und mit ganz durchschnittlichen Kerlen. Brauchen Männer Sex wirklich dringender und warum überhaupt diese Schwanzfixiertheit? Hat der Porno uns alle versaut? Und warum wird der Sex in einer Langzeitbeziehung unweigerlich weniger? Vom Baby bis zum Greis betrachtet Katja Lewina einen Prototyp-Mann und wirft einen kritischen – und manchmal auch versöhnlichen – Blick auf Männlichkeitsbilder. »Eine Sexualität, die dem:der Partner:in nicht gehört – von dieser Idee sind die meisten von uns so weit weg wie ein Leberwurstbrot vom Grill Royale.« (163)     Boys Don’t Cry Machismo, Kastrationsangst, toxische Männlichkeit, Alte Weiße Männer, Male Gaze, Homophobie, Misogynie, Rape …

Katharina Volckmer »Der Termin«

Ein Patientinnen-Monolog, der es in sich hat »Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, um davon anzufangen, Dr. Seligman, aber ich musste gerade daran denken, wie ich einmal geträumt habe, ich wäre Hitler.« (7) Schon der erste Satz dieses Debüts, das es auf die Hotlist 2021 geschafft hat, zielt mitten hinein ins Zentrum aus Tabu, Scham, Identität und Schuld einer Nation. »Der Termin« kommt stilistisch radikal als ein einziger Monolog daher. Der Redeschwall einer aus Deutschland ausgewanderten Patientin, die während einer Untenrum-Untersuchung ihrem englischen Arzt gegenüber alle Schutzwälle brechen lässt. Alle Scham und Ängste, der ganze Zorn, die Verunsicherung über ihren Körper und Geschlechtsidentität, intime Geschichten, Eskapaden und Fick-Abenteuer ergießen sich ungebremst über alle, die bereit sind, zuzuhören. Dabei legt die Ich-Erzählerin einen derben Witz an den Tag, sucht die Provokation geradezu und unterstreicht lakonisch mit einer klaren Bestimmtheit ihre gewonnenen Ãœberzeugungen bis hin zu einer gestärkten Selbstbestimmtheit. »Es war immer ausgeschlossen, dass wir mit einer derart miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können, es gibt einfach Grenzen, was man den …

Nina Kunz denkt »Ich denk, ich denk zu viel«

Habt ihr hier auch gleich den Song von Christian French im Ohr? So oder so spricht dieser Buchtitel wohl vielen aus der Seele. Alles nur in deinem Kopf »Mein Gehirn fühlt sich immer so an, als wären zehn Tabs gleichzeitig offen.« (57) Nina Kunz schreibt in »Ich denk, ich denk zu viel« aus der Perspektive einer mitteilungsbedürftigen, hypochondrischen Nerdin, dessen beste Freundin ihre Oma ist und mit der man sich augenblicklich gemein macht. Angenehm ist dabei, dass die Zürcherin nicht wie so viele vor ihr postwendend die nihilistische Generation, den neuen Zeitgeist der ausgebrannten Postmoderne ausruft. In kurzen, sehr persönlichen Anekdoten und Ãœberlegungen interessiert sie sich neben gesellschaftlichen Phänomenen auch für Sprachfeinheiten.   Weltschmerz: Die drei großen S »Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. (…) Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich doch all diese Privilegien hab. Ich schrieb über die Angst, das Leben online zu vergeuden, über die absurde Ãœberidentifizierung mit meinem Job, Identitätsfragen, die Suche nach meinem Vater, den …

Anne Weber »Annette, ein Heldinnenepos«

»Annette ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn / lieber Terroristin werden will.« (20) Träger des Deutschen Buchpreises 2020 Anne Weber hat die realhistorische Person Annette Beaumanoir tatsächlich kennengelernt und einige Gespräche mit ihr über ihr Leben geführt. Entstanden ist eine Geschichte über ein langes politisiertes Leben, über die Résistance und den Algerienkrieg, Gefängnis und Exil, über Gerechtigkeit und privates Glück, die richtigen Ziele und Gründe. Ist Annette Heldin oder Terroristin? Ein Niemand, eine Träumerin, eine Retterin? Nichts ist sicher. »Ja. So kann es sein. Die Wahrheit ist, dass wir / die Wahrheit gar nicht kennen, aber Grund haben / zu denken, dass sie einige Widersprüche und / mindestens zwei Fassungen umschließt.« (96)   »Einstweilen gilt leider: abwarten und radfahren.« (25) »Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. / Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf / diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch / Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs. / Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.« (5) Annette (sprich …

Ein Recherchejournal über das
Begehren: »Aus der Zuckerfabrik« von Dorothee Elmiger

Die europäische Lust auf das süße Leben »E. West, S. 67: ›2. Wenn ich merke, wie viel ich essen kann, erwacht in mir eine furchtbare Angst vor mir selbst. Eine Angst vor dem Tierischen in mir. Eine Angst vor etwas Uferlosem, in das ich zu versinken drohe.‹« (40) Die Schweizerin Dorothee Elmiger hat es mit ihrem neuen Buch – ob es sich dabei in meinen Augen tatsächlich um einen Roman handelt, wird noch zu klären sein – auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020 geschafft und war auch für den Schweizer Buchpreis nominiert, der an Anna Stern für »das alles hier, jetzt« ging. Stilistisch ist »Aus der Zuckerfabrik« hoch bemerkenswert: Hier wird ein Text bewusst am Rande aller Gattungen angelegt, als Grenzgänger und Gattungskreuzer zwischen Recherchebericht, Journal und hochkomplexem Roman, der durch Erzählsituationen und Modi springt, seine Poetologie vielfach metareflektiert und eine schwer greifbare Erzählerin einsetzt, die sich immer wieder ins Spiel bringt und gleichzeitig diskreditiert und entzieht. Zu allem Ãœberfluss ein Text über ein Thema, das so sehr assoziativ ausfranst, dass es allen Beteiligten …

Candice Carty-Williams »Queenie«

Drama-Queen Vorweg sei angemerkt, dass ich auch mit »Bridget Jones« und »Sex and the City« nicht viel anfangen kann, mich aber die Themenschwere, die Preise und der überwältigende Kritikerstimmenchor angelockt haben. Und man schicke außerdem vorweg: Liebes Verlagswesen, warum müssen alle, ALLE, Bücher mit feministischen Themen eigentlich grundsätzlich in einer Farbskala von Bonbonrosa bis Pink aufgemacht werden? Coversehgewohnheiten hin oder her, diese Farbgenderei ist wirklich nicht erträglich…   Adichie meets »Bridget Jones«, die zu viel »Sex and the City« geschaut hat Die Autorin Candice Carty-Williams, der großartige Blurbs entgegensprudeln, greift selbst zu den Schlagworten »Chick Lit« und »Bridget Jones« für ihr Debüt. Ob sich das einlöst? Queenie ist um die Dreißig und arbeitet im Kulturressort einer Zeitungsredaktion in London, aber eigentlich lässt sie gerade alles ziemlich schleifen, dabei würde sie gern über politischere Sachen wie Black Lives Matter schreiben, was allerdings nicht gerade gefragt ist bei dem auflagenstarken Blatt. Seit der Trennung von Tom – eigentlich ist es nur eine »Pause«, Queenie wartet ungeduldig darauf, dass ihr weißer Boyfriend wieder zur Vernunft kommt – trifft …

Liv Strömquist »Ich fühl’s nicht«

Die Liebe in Zeiten von Leistungsgesellschaft, Marktwert und Selbstoptimierung Wir Disney-Geschädigten Tinder-User*innen mit Angst vor Schmerz, Enttäuschung, Langeweile, vor WAS FESTEM, haben das DiCaprio-Syndrom, meint Liv Strömquist. Der gute Leo wechselt seine Freundinnen, allesamt Anfang 20-jährige Bikini-Models, wie seine Socken. Er fühlt nichts. »Leonardo DiCaprio ist irgendwie wie eine lauwarme Herdplatte, die das Wasser nie richtig zum Kochen bringt.« (10) An sich kann man natürlich kaum etwas dagegen einwenden, dass Autonomie, Freiheit und Wahlmöglichkeit gerade für Frauen seit den letzten hundert Jahren stark zugenommen haben. Niemand muss in der Regel mehr heiraten, um versorgt zu sein, niemand muss ungewollt schwanger werden und der Sozialstaat unterstützt Alleinerziehende. Aber wollen wir deshalb gleich ganz aufhören zu lieben?   »Wir sind alle DiCaprio« (12) Das Gefühl sich zu verlieben ist laut Soziolog*innen und Philosoph*innen in der heutigen Zeit sehr selten geworden. Warum ist das so? Strömquist bietet eine Reihe von Erklärungsversuchen. #1 – Der Spätkapitalismus hat uns zu gierigen, selbstbezogenen Narzisst*innen gemacht, die Menschen konsumieren, aber keine festen Bindungen mit Verantwortung eingehen wollen. Abwechslung, Abenteuer, Action ohne Gefühle …

Brotjob essen Seele auf: »Fehlstart« von Marion Messina

»Ein Nullpunkt des Leidens, die B-Seite des Lebens« (76) »Fehlstart« erinnert von Thema und Anliegen an Despentes‘ »Subutex«, eine gnadenlose Milieustudie im heutigen Frankreich, ein illusionsloser Blick auf die Verlierer des Systems, dabei wählen die beiden Autorinnen interessanterweise aber zwei komplett unterschiedliche Wege. Von vielen wurde sie auch mit Houellebecq verglichen – nur dass Messina keine Midlife-kriselnden, sexistischen Macho-Depressiven erschafft, sondern eine kluge, aufrichtige, zur großen Liebe fähige Feministin. Messinas Debüt führt einem vor Augen, wie die untere Mittelschicht ins Prekariat abrutscht, wie die Provinzmäuse auf der Suche nach Arbeit in Paris stranden und überrollt werden, sie erzählt von den Steinen, die Migranten in den Weg gelegt werden, und bietet einen hellsichtigen Blick auf ihre Generation der totalen Flexibilität in einer Zeit nach der Vollbeschäftigung. »Als Garant für sofortige Befriedigung und als sozialer Marker war Sex zum Lebensmotto geworden. Ich ficke, also bin ich.« (125) Ihre aufmerksamen Schilderungen von Paris lassen sich auf die meisten Großstädte übertragen und machen einen allgemeinen Trend sichtbar. Sie zeigt, was ein neoliberaler, globalisierter Kapitalismus mit unserer Umgebung, den Strukturen, …

Moa Romanova erschafft ein »Identikid«

Die Graphic Novel »Identikid« ist Moa Romanovas autobiografisch geprägtes Debüt. Im augenfällig eigenwilligen Look präsentiert sie uns Moa, eine junge schwedische Künstlerin mitten im Leben, umsorgt, sozialisiert, talentiert und doch zerfressen von Panikattacken. Techno = Ecstasy = Psychose = uncool. Mit ihren Freundinnen geht sie auf Techno-Partys, drogenumnebelt lässt sich das Leben feiern. Doch jetzt versucht Moa sich in Abstinenz, straight edge, oder zumindest crooked edge, denn sie vermutet, dass das Spice schuld ist an ihren psychischen Problemen. Das rät ihr auch die Therapeutin. Aber leicht wird das nicht. Lethargisch lässt Moa ihre Wohnung vermüllen, das Geld wird knapp, ereignislose Tage drücken auf das Gemüt, genau wie die Sinnlosigkeit, die sie plötzlich von überall anstarrt. Wegen ihrer Wut- und Angstanfälle ist Moa seit Monaten krankgeschrieben, bekommt Medikamente – nimmt sie widerwillig – und verliert zunehmend die Geduld: Wie lange soll das noch so weitergehen? Was ist mit ihr? Und wann wird es endlich besser? Normalerweise telefoniert sie mit ihrer Mutter, wenn es ganz schlimm ist. Doch neulich hat Moa einen TV-Promi auf Tinder kennengelernt, der …