Alle Artikel mit dem Schlagwort: Humor

Liebeserklärung von Katja Oskamp: »Marzahn, mon amour«

»Heldinnen des Alltags« (91) Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an den oft belächelten Plattenbau-Kiez am östlichen Rand von Berlin, ein Buch über das Leben und Altern jenseits der Ringbahn; darüber, was unsere Füße über uns erzählen können – ein Buch, genauso lustig und tragisch und schräg wie das Leben. Erzählt wird von Katja Oskamp, einer Schriftstellerin, deren Erfolg und Elan mit Mitte Vierzig verebben – das Leben gerät ins Stocken, wird fad, die Enttäuschungen häufen sich und etwas Neues ist nicht mehr in Sicht. Der Mann ist schwer krank, die Kinder aus dem Haus, und was eine solide und banale Midlife-Crisis sein könnte, nimmt sie als Gelegenheit. Was von außen nach Scheitern aussieht, ist für Katja Oskamp ein neues Leben und Quelle der Inspiration: Sie wird Fußpflegerin in einem kleinen Studio in Berlin-Marzahn, ein Arbeiterkiez voller Rentner:innen aus der ehemaligen DDR.   »Vielleicht stammt aus jener Zeit die Einsicht, dass das Leben ein Verlustgeschäft ist.« (88) Hier kommen die Geschichten zu ihr, manchmal in Form von ritualisierten Gesprächen mit Stammkundinnen, die ihre Vergangenheiten mit sich …

Katja Lewina begibt sich ins fremde Gehege – »Bock« erzählt Bettgeschichten aus Männersicht

Wann ist der Mann ein Mann? Nach »Sie hat Bock« jetzt schlicht und einfach »Bock«. Purer Animalismus. Was halten sie vom Sex und welchen haben sie, die Männers? Die Sexbloggerin ist zwar keiner, aber über Sex weiß sie eine ganze Menge, wie sie in ihrem ersten Buch bereits unter Beweis gestellt hat, besonders wenn es darum geht, wie Sex mit Macht, Patriarchat und Küchenarbeit zusammenhängt. Sie hat mit einigen Exemplaren gesprochen, mit Psychologen, Paartherapeuten, Urologen, Philosophen, trans-Männern, Orgasmus-Coaches und mit ganz durchschnittlichen Kerlen. Brauchen Männer Sex wirklich dringender und warum überhaupt diese Schwanzfixiertheit? Hat der Porno uns alle versaut? Und warum wird der Sex in einer Langzeitbeziehung unweigerlich weniger? Vom Baby bis zum Greis betrachtet Katja Lewina einen Prototyp-Mann und wirft einen kritischen – und manchmal auch versöhnlichen – Blick auf Männlichkeitsbilder. »Eine Sexualität, die dem:der Partner:in nicht gehört – von dieser Idee sind die meisten von uns so weit weg wie ein Leberwurstbrot vom Grill Royale.« (163)     Boys Don’t Cry Machismo, Kastrationsangst, toxische Männlichkeit, Alte Weiße Männer, Male Gaze, Homophobie, Misogynie, Rape …

Katharina Volckmer »Der Termin«

Ein Patientinnen-Monolog, der es in sich hat »Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, um davon anzufangen, Dr. Seligman, aber ich musste gerade daran denken, wie ich einmal geträumt habe, ich wäre Hitler.« (7) Schon der erste Satz dieses Debüts, das es auf die Hotlist 2021 geschafft hat, zielt mitten hinein ins Zentrum aus Tabu, Scham, Identität und Schuld einer Nation. »Der Termin« kommt stilistisch radikal als ein einziger Monolog daher. Der Redeschwall einer aus Deutschland ausgewanderten Patientin, die während einer Untenrum-Untersuchung ihrem englischen Arzt gegenüber alle Schutzwälle brechen lässt. Alle Scham und Ängste, der ganze Zorn, die Verunsicherung über ihren Körper und Geschlechtsidentität, intime Geschichten, Eskapaden und Fick-Abenteuer ergießen sich ungebremst über alle, die bereit sind, zuzuhören. Dabei legt die Ich-Erzählerin einen derben Witz an den Tag, sucht die Provokation geradezu und unterstreicht lakonisch mit einer klaren Bestimmtheit ihre gewonnenen Ãœberzeugungen bis hin zu einer gestärkten Selbstbestimmtheit. »Es war immer ausgeschlossen, dass wir mit einer derart miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können, es gibt einfach Grenzen, was man den …

Nina Kunz denkt »Ich denk, ich denk zu viel«

Habt ihr hier auch gleich den Song von Christian French im Ohr? So oder so spricht dieser Buchtitel wohl vielen aus der Seele. Alles nur in deinem Kopf »Mein Gehirn fühlt sich immer so an, als wären zehn Tabs gleichzeitig offen.« (57) Nina Kunz schreibt in »Ich denk, ich denk zu viel« aus der Perspektive einer mitteilungsbedürftigen, hypochondrischen Nerdin, dessen beste Freundin ihre Oma ist und mit der man sich augenblicklich gemein macht. Angenehm ist dabei, dass die Zürcherin nicht wie so viele vor ihr postwendend die nihilistische Generation, den neuen Zeitgeist der ausgebrannten Postmoderne ausruft. In kurzen, sehr persönlichen Anekdoten und Ãœberlegungen interessiert sie sich neben gesellschaftlichen Phänomenen auch für Sprachfeinheiten.   Weltschmerz: Die drei großen S »Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. (…) Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich doch all diese Privilegien hab. Ich schrieb über die Angst, das Leben online zu vergeuden, über die absurde Ãœberidentifizierung mit meinem Job, Identitätsfragen, die Suche nach meinem Vater, den …

Anne Weber »Annette, ein Heldinnenepos«

»Annette ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn / lieber Terroristin werden will.« (20) Träger des Deutschen Buchpreises 2020 Anne Weber hat die realhistorische Person Annette Beaumanoir tatsächlich kennengelernt und einige Gespräche mit ihr über ihr Leben geführt. Entstanden ist eine Geschichte über ein langes politisiertes Leben, über die Résistance und den Algerienkrieg, Gefängnis und Exil, über Gerechtigkeit und privates Glück, die richtigen Ziele und Gründe. Ist Annette Heldin oder Terroristin? Ein Niemand, eine Träumerin, eine Retterin? Nichts ist sicher. »Ja. So kann es sein. Die Wahrheit ist, dass wir / die Wahrheit gar nicht kennen, aber Grund haben / zu denken, dass sie einige Widersprüche und / mindestens zwei Fassungen umschließt.« (96)   »Einstweilen gilt leider: abwarten und radfahren.« (25) »Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. / Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf / diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch / Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs. / Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.« (5) Annette (sprich …

Dahinplänkelnder Überlebenskampf: Yukio Mishima »Leben zu verkaufen«

Japanischer Thriller aus ironischer Distanz »Aber plötzlich war ihm der Gedanke an Selbstmord gekommen, so wie man auf die Idee kommt, ein Picknick zu machen, doch als er jetzt angestrengt nach einem Grund dafür suchte, fiel ihm nicht der geringste ein. Wahrscheinlich hatte er genau deswegen versucht, sich umzubringen.« (6) Hanio ist ein seltsamer Kerl. Mit seinen 27 Jahren hat er plötzlich keine Lust mehr zu Leben. Als ihn die Schlaftabletten dann aber lediglich ins Krankenhaus statt ins Jenseits befördern, wird er unfreiwillig in sein Leben zurückkatapultiert. Und er beschließt aus einer Laune heraus, etwas Verrücktes damit anzustellen. Er schaltet eine Anzeige, in der er sein Leben zum Verkauf anbietet. »Leben zu verkaufen. Verfügen Sie frei über mich. Ich bin männlich, 27 Jahre alt und kann Geheimnisse wahren. Keinerlei Unannehmlichkeiten.« (10) Und die Käufer kommen in Scharen. Alle wollen sie einen Spieler für knifflige Missionen, Bedingung: lebensgefährlich. Da Hanio dem Tod emotionslos gegenübersteht, ergreift er die Chance, Außergewöhnliches zu erleben. Er macht Bekanntschaft mit einer Ganovenbraut, einer Vampirin, einer mysteriösen Todeslexikon-Besitzerin und den Schlägertypen eines …

Candice Carty-Williams »Queenie«

Drama-Queen Vorweg sei angemerkt, dass ich auch mit »Bridget Jones« und »Sex and the City« nicht viel anfangen kann, mich aber die Themenschwere, die Preise und der überwältigende Kritikerstimmenchor angelockt haben. Und man schicke außerdem vorweg: Liebes Verlagswesen, warum müssen alle, ALLE, Bücher mit feministischen Themen eigentlich grundsätzlich in einer Farbskala von Bonbonrosa bis Pink aufgemacht werden? Coversehgewohnheiten hin oder her, diese Farbgenderei ist wirklich nicht erträglich…   Adichie meets »Bridget Jones«, die zu viel »Sex and the City« geschaut hat Die Autorin Candice Carty-Williams, der großartige Blurbs entgegensprudeln, greift selbst zu den Schlagworten »Chick Lit« und »Bridget Jones« für ihr Debüt. Ob sich das einlöst? Queenie ist um die Dreißig und arbeitet im Kulturressort einer Zeitungsredaktion in London, aber eigentlich lässt sie gerade alles ziemlich schleifen, dabei würde sie gern über politischere Sachen wie Black Lives Matter schreiben, was allerdings nicht gerade gefragt ist bei dem auflagenstarken Blatt. Seit der Trennung von Tom – eigentlich ist es nur eine »Pause«, Queenie wartet ungeduldig darauf, dass ihr weißer Boyfriend wieder zur Vernunft kommt – trifft …

Helena Adler »Die Infantin trägt den Scheitel links« – nichts für Angsthasen und Faultiere!

Sippe und Dorf – (k)ein Anti-Heimatroman Räubertochter, Höllenbrut, Satansbraut – so nennt man sie im Dorf. Sie selbst bevorzugt den Adelstitel »Infantin«. Und sie fackelt nicht lang: Schon im ersten Kapitel brennt die Sechsjährige das halbe Gut der Eltern nieder. Als Sprössling einer Familie, die seit Generationen Bauern sind, hält die österreichische Provinz wenig Idylle für die Protagonistin dieser morbiden und derben Erzählung bereit. Von den tyrannischen Zwillingsschwestern, dem Trinker-Vater und unter der strengen Regentschaft der Hofdrachen-Mutter fühlt sie sich unverstanden und nicht zugehörig, bevorzugt die Gesellschaft der Hoftiere. Vor den Augen der Infantin verwandeln sich die eigenen Familienmitglieder zu einem Rudel aus fleischfressenden Bestien. »Meine Mutter rastet nicht, habe ich immer geprahlt. Und wenn sie rastet, dann rastet sie aus.« (24) Mit erzählerischer Sprengkraft und satirisch überhöht schreibt Helena Adler von einer Familie, die so gar nicht alltäglich oder harmonisch ist und schickt ihre Figuren auf eine geradezu absurde Abwärtsspirale. Die Autorin setzt stets noch einen drauf, was in ihrer verqueren Logik bedeutet, dass es für alle steil abwärts geht. Eskapaden, Zerstörungswut, Psychiatrie, Gefängnis. …

Mercedes Spannagel »Das Palais muss brennen« – vom uralten Kampf
Gut gegen Nazi

Krieg den Palästen! Dieser schmale Band, Spannagels Debüt, ist eine kurzweilige, sehr unterhaltsame Erzählung, die man mit Freude in einem Rutsch schmökert. Die Cover-Schönheit steht außerdem auf der Shortlist des Österreichischen Debütpreises 2020. Mit bitterbösem Humor schießt diese Pointen-Kanone wild um sich und verschont dabei niemanden. Satirisch überhöht und mit einem guten, groovigen Sound legt die Wienerin eine dicht gestrickte Story vor, die in ihrem Spiel mit Klischees eingebettet in pamphletistische politische Statements vom Schlag der Kling’schen Känguru-Reihe ist. Die linke intellektualistische Brut dreht als Nachwuchs der rechtskonservativen morallosen Elite völlig frei. Ein riesiger, abgründiger Spaß! »Unsere Herzen waren dicke Kinder, die auf dünnem Boden sprangen. Alles bebte.« (79)   Party im Palais: Ein Mopsbaby sorgt für reichlich Wirbel Jurastudentin Luise besorgt sich einen Mops, er heißt Marx und ist eine Trotzreaktion auf den neunten Windhund der Frau Bundespräsidentin, ihrer rechtskonservativen Mutter. »Wie kann man als Kind dieser Mutter nicht dramatisch werden oder selbstmordgefährdet?« (33) Genau wie ihre Schwester Yara und umgeben von einem bunten Haufen Pseudo-Künstler*innen begehrt Luise gegen ihre Mutter als Stellvertreterin des …

Eine »Doppelte Spur« führt
Ilija Trojanow in die Widersprüche von Politik, Geheimdiensten und OK

Der investigative Journalist, der vom Namen dem Autor Trojanow gleicht, wird gleichzeitig von zwei anonymen Whistleblowern kontaktiert – eine doppelte Spur aus dem russischen und amerikanischen Geheimdienstlager. Ein ganz großes Ding. Eine Manipulation? Ein gefährliches Spiel! Aber warum gerade er? Und wie verpackt man hunderte komplizierter Dokumente hochkomplexen Inhaltes in eine plausible Erzählung, die die Welt angeht? Wie bekommt man das Chaos des politischen Alltags zu greifen? »›Ich möchte hören, wie Sie die Lage einschätzen.‹ ›Schlimmer noch.‹ ›Schlimmer als Notstand?‹ ›Kurz vor der Katastrophe.‹ ›Welcher?‹« (24)   »Mir schwante Sisyphus.« (22) Zusammen mit seinem russischstämmigen amerikanischen Journalistenkollegen Boris und der umwerfenden Dokumentarfilmerin Emi macht sich Ilija an diese unmögliche Aufgabe. Gemeinsam gehen sie den unzähligen, teilweise widersprüchlichen Spuren nach und landen mitten drin im tiefsten Sumpf aus Korruption, Unterschlagung und Veruntreuung, Schmier- und Schutzgeldbergen, Steuer- und Aktienbetrug, Geldwäsche, Kreditwucher und unzähligen anderen kreativen Wegen der Gier, wo es von Fake News, Wahlmanipulation, Waffen-, Menschen- und Drogenhandel, illegalem Glücksspiel, Kindesmissbrauch und Auftragsmorden nur so wimmelt – den vielfältigen Auswüchsen der Organisierten Kriminalität (OK). Die drei verheddern …