Alle Artikel mit dem Schlagwort: Klassiker

Margaret Atwoods Frauen-Dystopie: »Der Report der Magd« und »Die Zeuginnen«

Gilead, eine theokratische Hölle Margaret Atwood hat sich mit ihrer Gilead-Dystopie von 1985 in eine Reihe mit den Klassikern Aldous Huxley und George Orwell gestellt. Die Grundregel ihrer Wahnutopie: „Es dürfen nur Geschehnisse vorkommen, die es in der Geschichte der Menschheit schon gegeben hat.“ (570, Nachwort) »Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.« (554) Im »Report der Magd« entwirft Atwood ein provokatives Gedankenexperiment, die düstere Vision eines totalitären Staates, »einer puritanischen Theokratie« (554) – ein an das Christentum erinnernder, ins Extremistische gesteigerter Glaube bestimmt in Gilead das Leben aller und schränkt besonders das der Frauen entscheidend ein. Es ist ein Staat, der – begründet mit der Bibel – von der Superiorität von Männern überzeugt ist und den Frauen ihre Menschenrechte abspricht. Sie dürfen weder arbeiten, noch lesen, schreiben oder eigenes Geld besitzen. Die Ehe und Fortpflanzung sind nicht nur zum unbedingten Ideal, sondern zur Pflicht erhoben, jedoch wird gleichzeitig die Körperlichkeit und Sexualität verachtet. Der männliche Körper wird regelrecht mit Angst, Ekel und Grauen belegt. Frauen müssen sich verschleiern und Sex findet einmal …

Karen Duve »Fräulein Nettes kurzer Sommer«

Ein Biopic der anderen Art Es wurde schon vieles gesagt über diesen preisgekrönten Historienroman, der beweist, dass Karen Duve wirklich jedes Genre beherrscht. Sie wagt sich an niemand geringeres als Annette von Droste-Hülshoff, flächendeckende Schullektüre seit Jahrzehnten. Im Mittelpunkt dieses Biopics der gerade einmal Anfang zwanzigjährigen Dichterin steht eine unerhörte Begebenheit, wie sie für Novellen konstitutiv sind, nur das sich diese zu einem 600 Seiten schweren Roman auswächst, der fünf Jahre aus dem Leben der Nette beleuchtet und bei dem jede einzelne Seite vom großen Spaß der Autorin am Schreiben kündet. Diese zentrale Tragödie, die am Ende niemanden unbeschadet hervorgehen lässt, ist eingebettet in ein detailreiches und gnadenlos enthüllendes Sittengemälde, eine historisch genaue Epochenschau. »Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Bökerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln. Nur wenige Hinweise sind vorhanden.« (Vorwort, 7) Sehr gewissenhaft recherchiert Duve – sie vergleicht sich selbst mit einer Profilerin – aus einer schier unglaublichen Fülle an Archivmaterial, Briefen, Tagebüchern, Familienchroniken; im Anhang des Romans werden etwa 200 Referenztexte der Sekundärliteratur aufgelistet. Diese Recherche-Akkuratesse setzt sie gekonnt um, sodass …

George Orwells »Farm der Tiere« zum Hören

Jürgen Liebing hat sich des Orwell’schen Klassikers angenommen und als Hörspiel adaptiert. Ein Gespenst geht um, es ist der Animalismus – Die Revolution der Tiere Aufstand auf dem Bauernhof. Nachdem die Tiere – allen voran Major, ein betagter Eber an seinem Lebensabend – erkannt haben, dass ihr Leben um einiges besser wäre, wenn sie nicht für Menschen schuften müssten, um sogleich wieder um die Früchte ihrer Arbeit betrogen zu werden, steht es fest: Der Farmbesitzer Jones muss weg. Die Zweibeiner sind der Feind. »Vorwärts, Kameraden!« Da die Schweine einfach die schlausten Tiere des Hofs sind, ist klar, dass sie die Organisation in die Hand nehmen. Revolution machen. Aber vorerst muss man sich eines gemeinsamen Ideals klar werden. Wie soll sie sein, die bessere Welt der Zukunft? Animalismus nennen sie ihre Ideologie, die alle Tiere gleichstellen soll. Frieden, Freiheit, Schutz der Schwachen stehen auf der Agenda, und vor allem: niemals so werden wie der Feind. Und dann ist der Tag der siegreichen Großen Schlacht am Kuhstall gekommen und die Vertreibung des Unterdrückers durch Bisse, Tritte und …

Maya Angelou »Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt«

Kriegt wirklich jeder, was er verdient? Maya Angelou ist eine rasend interessante Persönlichkeit: eine Ikone der afroamerikanischen Literatur, Klappentext-Zitate von Obama, Oprah und James Baldwin deuten die Liga an, in der die Autorin spielt. Eine sagenhafte Biografie umgibt Angelou, die von 1928 bis 2014 lebte und Tänzerin, Calypso-Sängerin, alleinerziehende Mutter, Bürgerrechtlerin, Vertraute von Martin Luther King Jr. und Malcom X, Künstlerin, Journalistin und erste schwarze Straßenbahnschaffnerin von San Francisco war. »Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt« erschien erstmals 1969 und kann als Autofiktion betrachtet werden, das Memoire einer schillernden Persönlichkeit, dass Suhrkamp nun in der Ãœbersetzung von Harry Oberländer neu auflegt. Marguerite Johnson, das Mädchen mit den unzähligen Rufnamen, wächst in den 30er Jahren in dem kleinen Krämerladen ihrer Großmutter in den US-Südstaaten, in einem kleinen Ort namens Stamps in Arkansas, auf. Der Laden bildet den Mittelpunkt der schwarzen Community dieses Ortes und liegt in der Nähe der Baumwollplantagen. Mayas bester Freund ist ihr Bruder Bailey und zusammen erleben sie eine Kindheit voll Spiel, Spaß und Abenteuer, auch wenn ihre Welt sich vor toternster …

Wolf Wondratschek zeichnet ein »Selbstbild mit russischem Klavier«

»Suvorin spielte. Er war ein Spieler.« (S. 108) Was nach einem Gemäldetitel klingt und sofort entzückende Assoziationen hervorruft, Farben und Klänge in meinem Kopf entstehen lässt, ist die Geschichte des russischen Pianisten Suvorin. Oder zumindest das, woran er sich davon noch erinnern kann. Der Berufsmusiker, der seinen Lebensabend im Wiener Exil verbringt und schon lange nicht mehr spielt, erzählt einem fremden Zuhörer aus seinem Leben in Moskau und Leningrad, von Widerstand und Verzweiflung, seiner Liebe zur Kunst und dem Wesen der Zeit. »Ein alter Russe in Wien, ein trockener Trinker, ein, wie er sich selbst einmal genannt hatte, trockener Pianist, in Sicht das nicht mehr ferne Ende eines Erdenlebens. Es schien ihn diese Sache aber im Moment nicht zu beschäftigen. Noch war er am Leben, wenn auch nicht mehr ganz im Takt mit ihm, fühlte die Wärme in seine Knochen eindringen und bis in die Füße hinunter in seinen Körper.« (S. 99f.)   Zusammen mit einer Werk-Ausgabe seiner Gedichte erscheint der neue Roman von Kultautor Wolf Wondratschek, der allein schon durch die enorme Vielfalt seines …

Die Erfindung des Hipsters im Amerika der 40er Jahre: »On the Road«

Ein Buch, das unterwegs gelesen werden muss! Jack Kerouac, einer der Hauptprotagonisten der wilden »Beat-Generation« und Mythos der amerikanischen Literaturgeschichte, schrieb »On the Road« 1951 in nur wenigen Speed-durchzechten Wochen. Dieser kraftvolle und experimentelle Roman war seiner Zeit voraus und galt lange als unpublizierbar und auch, wenn er klar in seiner Entstehungszeit verhaftet ist, bleiben seine zentralen Themen zeitlos und er verliert bis heute nicht im Mindesten an Faszinationskraft. Die »Beat-Generation« auf der Suche nach Heimat, Familie und Gott Erzählt wird die stark autobiografisch geprägte Geschichte des ungewöhnlichen Freundespaars Jack und Neal in den Jahren 1947 bis `49. Die beiden sind Querköpfe, Rastlose, Suchende, Gammler, Schnorrer, Existenzialisten, Romantiker, Künstler. Sie und ihre Gleichgesinnten werden zu den ersten »Hipstern«, einer kritischen, jugendlichen Gegenbewegung zur konservativen und prüden amerikanischen Gesellschaft. In den erzählten drei Jahren führt es die beiden einzeln, gemeinsam und mit Freunden mindestens fünf Mal quer durch die Vereinigten Staaten. Ob sie nun trampen, als Eisenbahnbremser mitreisen, in geklauten und geliehenen Autos davon brausen; immer geht es um das Unterwegssein. Die Straße ist den beiden …