Literatur
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Jackie Thomaes »Brüder« auf der Shortlist

Von Wahlbrüdern, Halbbrüdern und Stammesbrüdern, Brüdern im Geiste oder auf dem Papier, Bros, Komplizen und Vorbildern

Ein ernsthafter Anwärter auf den Deutschen Buchpreis war Jackie Thomaes Roman wohl eher nicht. Die Geschichte um die zwei Halbbrüder Mick und Gabriel kommt ganz sympathisch daher, eine mal mehr mal weniger unterhaltsame Familiengeschichte, zwei große Lieben, unterm Strich keine phänomenale Idee. Der Text bringt uns zwei sehr unterschiedliche Brüder näher, gewährt flüchtige Blicke auf das (post-)geteilte Deutschland, thematisiert ein Leben als ‘gemischtrassige‘ Person of Colour ohne Kenntnis des eigenen senegalesischen Vaters und dessen Kultur, beleuchtet dabei verschiedene Facetten das Themas Hautfarbe – doch auch darum geht es nicht primär. Thomaes Roman entwirft recht detailreich zwei Individualeben, nicht einmal Schicksale, und lässt diese zwei dramaturgischen Fäden sich dann nicht einmal kreuzen.

»Ja, die Jahre flossen ineinander. Doch das hieß nicht, dass dieses Fließen nicht auch seine Schönheit hatte. Eine irrlichternde, nichtkonservierbare Schönheit der Kategorie: Muss man dabei gewesen sein.« (7)

»Brüder« kommt sehr plauderig daher, ist stellenweise auch komisch – darauf setzt die Autorin bei Lesungen auch klar ihren Akzent. Als Leser*in darf man sehr weit eintauchen in die Leben der beiden Halbbrüder, die einem mit der Zeit auch nahekommen. Thomae kennt ihre zwei Protagonisten sehr gut und entwirft stimmige, psychologisch fundierte Figuren, was aber wird darüber hinaus für eine Aussage getroffen?

 

»Ein nicht unerheblicher Teil seiner Energie floss in die Überzeugung, sein Leben wäre perfekt.« (247)

Da wäre auf der einen Seite Mick, ein Lebemann und Lebenskünstler, der König der West-Berliner Discos. Dieser »Nachtlebendesperado«, später selbst Clubbesitzer, ist beliebt und attraktiv, was ihm erlaubt sorg- und planlos durch die Welt zu ziehen. Einer, der einfach nicht erwachsen werden will.

»Der einzige offizielle Nachweis seiner Teilnahme an den Neunzigern bestand in seinem Rentenbescheid, dem er entnahm, dass er damals nicht sozialversicherungspflichtig gearbeitet hatte.« (11)

Mick beschließt schließlich, sich an die Fersen seines besten Freundes und Fotografen Desmond zu heften. Er eifert ihm nach, will dieses lässige und luxuriöse Leben auch – bis er begreift, dass man sich diesen Lebensstandard nicht auf legalem Wege finanzieren kann. Mick wäre nicht Mick, wenn er sich nicht auf das gemeinsame Drogenkurier-Abenteuer einlassen würde, das dann leider gründlich schiefgeht, ihn dafür aber nachhaltig von seinen Träumereien und Flausen kuriert. Doch auch jetzt benimmt Mick sich noch wie ein Vögelchen im goldenen Käfig: Er lässt seine große Liebe Delia unter seinem ausgeprägten Freiheitsdrang und der Geheimniskrämerei gründlich leiden.

Gabriel dagegen ist ein neurotischer Stararchitekt und Dozent in London, streng, ernst und ordnungsliebend. Als Kontrollfreak und Workaholic kommt er nicht sonderlich gut mit seinem musikalischen und rebellischen Sohn klar. Für ihn ist das Thema Hautfarbe deutlich präsenter als für Mick.

»Gabriel richtete sein gesamtes Lebenskonzept darauf aus, keine Stereotypen zu erfüllen. Dafür fuhr er eine beeindruckende Ansammlung an Gegenklischees auf: angefangen bei seinem vermeintlichen Hochkulturmusikgeschmack über alle möglichen konservativen Statussymbole bis hin zu seiner betont unlockeren Körpersprache. Alles, was er darstellte, kaufte und behauptete zu mögen, war ein Statement.« (320)

Und so haben wir zwei Brüder, die sich bis zum Schluss nicht treffen. Beide bewegen sich von verschiedenen Seiten auf lebensverändernde Wendepunkte und ein Burn-out zu (psychologisch nicht so ganz überzeugend) – sie bilden Negativfolien, die klischeehaft kontrastiert werden, wenn auch genug Detailfülle erzeugt wird, um sie einzeln betrachtet glaubhaft und mehrdimensional zu machen.

Zwar kann man die Mick-Episode unter ‚wirklich gut gemachtes Geschichtenerzählen‘ verbuchen – spannend, unterhaltsam, sogartig –, dagegen muss Gabriels Erzählstrang aber zwangsläufig enttäuschen. Auch der narrative Clou, mit der lebenslang einzigen Entgleisung eines pedantischen Nerds zu beginnen, zündet nicht. Glanzlos steht Gabriel Mick entgegen, ein lauwarmer Abwasch.

Fazit: Du bist, was du kriegst

Was macht uns zu dem, was wir sind? Wie können zwei Brüder, denen derselbe Grundkonflikt in die Wiege gelegt wurde, so unterschiedlich sein? Letztendlich wendet Thomaes Text viel Energie für sehr komplizierte Familienverhältnisse auf, die im Endeffekt einen großen Einfluss auf ein Leben haben können oder eben auch nicht.

Durch die dramaturgische Anlage erwartet man allerdings eine deutlich künstlerischere Zusammenführung der Erzählstränge und Lebenswege. Das enttäuschende Aufeinandertreffen von Teilen des Figurenarsenals bildet hier ein klangloses Ende, das die Frage nach der Relevanz der Geschichte neu aufwirft. Ein durchwachsener Roman, erst spannungsgetrieben und vielversprechend, plätschert dann etwas belanglos aus.

 

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»Brüder« von Jackie Thomae umfasst 432 Seiten, erschien am 19.08.2019 bei Hanser Berlin und kostet im festen Einband 23,00 €.

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