Literatur
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Anne Weber »Annette, ein Heldinnenepos«

»Annette ist Pazifistin, bis sie mit fünfzehn / lieber Terroristin werden will.« (20)

Träger des Deutschen Buchpreises 2020

Anne Weber hat die realhistorische Person Annette Beaumanoir tatsächlich kennengelernt und einige Gespräche mit ihr über ihr Leben geführt. Entstanden ist eine Geschichte über ein langes politisiertes Leben, über die Résistance und den Algerienkrieg, Gefängnis und Exil, über Gerechtigkeit und privates Glück, die richtigen Ziele und Gründe.

Ist Annette Heldin oder Terroristin? Ein Niemand, eine Träumerin, eine Retterin? Nichts ist sicher.

»Ja. So kann es sein. Die Wahrheit ist, dass wir / die Wahrheit gar nicht kennen, aber Grund haben / zu denken, dass sie einige Widersprüche und / mindestens zwei Fassungen umschließt.« (96)

 

»Einstweilen gilt leider: abwarten und radfahren.« (25)

»Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. / Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf / diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch / Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs. / Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.« (5)

Annette (sprich Annett) hatte viele Namen, die meiste Zeit hat sie ein »Niemandsleben« geführt, im Untergrund, mit Decknamen, Lügen und Geheimnissen, versteckt, spionierend, wartend oder auf der Flucht. Während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg tritt sie der kommunistischen Résistance bei, mit gerade einmal 17 Jahren liefert sie radelnd Päckchen unbekannten Inhalts für unbekannte Zwecke bei Fremden ab. Lieber noch würde sie kämpfen, für eine bessere Zukunft, ein ideales Land.
Doch dazu kommt es nicht. Lieber soll sie der nichtkommunistischeren Widerstandsbewegung unter de Gaulle beitreten, Zwecks Bespitzelung. Man weiß ja nie.

Aber Annette weiß etwas. Und zwar von einer bevorstehenden Razzia der Nazis in einer Gegend, wo Leute aus ihrem Netzwerk Juden versteckt halten. Sie entschließt sich ungefragt einzugreifen und kann immerhin zwei Kinder retten. Die Organisation wird es ihr nicht danken, die Partei fordert strengen Gehorsam, was sie tut ist »Widerstand gegen den Widerstand«.

»Ein Jahr verstreicht, und sie ist immer noch blutjung. / Gehts vielleicht auch ein bisschen schneller mit dem / Erwachsenwerden? Wie lange soll das alles noch / auf diese öde, für ihren Geschmack viel zu / tatenlose Weise weitergehen? Halbherzig / fängt sie in Rennes ein Studium an, und zwar / der Medizin, während sie ganzherzig von einem / Schicksal träumt, von Opfern und von Heldentaten. / Leider fehlst an Gelegenheiten.« (24f.)

»Es gibt die Träume. Und es gibt das Erwachen.« (151)

Irgendwann sind die Deutschen weg, der Krieg überstanden, aber Annette, die so lange ein Niemand sein musste, kann nicht plötzlich ein Jemandsleben führen, stattdessen fragt sie sich, »ob sie wohl fortan ohne Halt in diesem fraglichen Dazwischen baumeln soll«. Sie sehnt sich nach einem neuen Kampf… Auch wenn Annette in den nächsten Jahren ihre eigene Familie gründet, ist das für sie nicht das wahre Leben. Der erträumte sozialistische Idealstaat in weiter Ferne. Es verschlägt sie schließlich an die Grenze zwischen Tunesien und Algerien und mitten hinein in die »Ereignisse«, die hier noch lange nicht Krieg genannt werden. Ein neuer Befreiungskampf, nur dass diesmal die Franzosen die Besatzer sind. Verfluchte Doppelmoral! Für Annette ist es eigentlich derselbe Kampf, nur in einem anderen Land – und jetzt trenn ein Ozean sie von ihren Kindern. Für die gerechte Sache. Aber schon bald verstrickt sie sich immer mehr in undurchsichtigen Gefügen, die mit dem Ziel nicht mehr viel gemein haben. Enttäuschungen gesellen sich zur Verunsicherung und sie muss sich die Frage von dem Zweck und den Mitteln stellen.

»Alles ist umgekehrt in ihrem neuen Leben: Was früher schlecht war – lügen, / spitzeln, stehlen –, ist jetzt gut, nur weil der Zweck / ein guter ist, für den mans tut. Überhaupt neigt der / Zweck dazu, sich zuungunsten der Mittel aufzuplustern.« (60)

Kann eine Revolution überhaupt gerecht, friedlich, vereint glücken? Was ist sie bereit zu tun? Eine tragische Lebensgeschichte, und doch muss man sich Annette als glücklichen Menschen vorstellen, weil ihr die Gerechtigkeit immer wichtiger war als eine traute bürgerliche Existenz.

 

 

Résiste la France!

»Das Erste, dems zu widerstehen gilt, das ist man selbst. / Der eigenen Angst. Was wenn ihr jemand auf die / Spur kommt und sie erwischt mit Schriften / oder Gütern, die verboten sind? Sie lernt, dass / Angst was ist, was überwunden werden kann.« (24)

»Annette, ein Heldinnenepos« ist deutlich mehr um Humor und Meinung bemüht als man es ihm seiner Aufmachung und Vermarktung nach zutrauen würde (»so viel Druckerschwärze gibt es nicht wie nötig wäre, um einen Eindruck ihrer Seelenschwärze zu verschaffen.«), es ist außerdem deutlich flapsiger (»De Gaulle redet von Frieden und von Selbstbestimmung. Klingt zynisch, ist auch zynisch und gleichzeitig ein Fortschritt.«) und unterhaltsamer geschrieben als die Gattungsplatzierung vermuten lässt. Denn was sich im 21. Jahrhundert Epos nennt und in Versen daherkommt, schreckt erstmal etwas ab. Größtenteils kommt mir der Text aber wie ein Roman vor, der unnötigerweise etwas willkürlich irritierende Enjambements einbaut.

Viel geht es der Erzählinstanz um das Warum: Was hat die junge Annette zur Heldin in unterschiedlichen Kriegen berufen? Warum treibt es sie sogar auf einen fernen Kontinent in ein unbekanntes Land und weg von ihrer Familie in einen Kampf, der von außen betrachtet nicht ihrer ist und in dem sie täglich ihr Leben riskiert? Dieses Warum lässt sich nicht sicher abschließend beantworten, aber wahrscheinlich spielen Gerechtigkeitssinn, kommunistische Überzeugung, Abenteuerlust und Zufall mit hinein.

»Niemand kann in das Dunkel eines Kopfes, schon gar nicht / seines eigenen sehen.« (128)

Teilweise wird allerdings die epische Bandbreite und Zeitspanne des Textes etwas zu stark heruntergebügelt, dann werden sogar bedeutende Stationen nur benannt und nicht szenisch belebt – ein bisschen fühlt es sich an, wie im Schweinsgalopp durch ein Leben zu hasten (»Zum höchsten Generalgrad hat ers wohl deshalb nie gebracht, weil er nach England usw. Kleine Abschweifung. Pardon.«).

Bemerkenswert sind auch die Stolpersteine, die immer mal wieder eingestreut werden – wie papierene Grabinschriften, die den Handlungsfluss unterbrechen und damit längst vergessene tragische Schicksale am Rand der großen Geschichtsschreibung aus ihrem Schattendasein holt.

»Doch wenigstens wollen wir an / dieser Stelle, weil wir es können, den Lauf der Dinge / unterbrechen und, aus unserer andren fernen Zeit / unsere Augen auf sie richtend, in den weiten Raum der / Ewigkeit hinein lautlos ihre Namen sprechen: Paul Berquez. Raymond Stora. Rainer Jurestal.« (56)

»›Wenn man mit sechzehn keine starken / Überzeugungen hat‹ (Zitat Annette), ›hat man / gute Chancen, nie welche zu haben‹ (Zitat Nichtannette).« (27)

Aus Annettes ereignisreichem Leben, das untrennbar verbunden ist mit einigen der düstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte, wird erstaunlich flapsig und leichtfüßig erzählt, dennoch rhetorisch einfallsreich. Aufwendig wird eine Dramaturgie für die Biografie der französischen Widerständlerin gewoben, bemüht um fließende Übergänge, rhetorische Klammern und durchsetzt von Metakommentaren wird eine mündliche Qualität erzeugt, die an eine ansprechende Geschichtenerzählstunde erinnert und dabei ein extremes Tempo vorgelegt – wie im Rausch durch ein ganzes Leben.

Weber kennt sich in der französischen wie deutschen Sprache blendend aus und hantiert spielend mit ihnen, sie benutzt Sprache wie das formbare Werkzeug einer versierten Übersetzerin, die sie ist.

 

»Aber was heißt schon wissen« (124)

Der Text ist dennoch bemüht, dem Empfinden Annettes einen anachronistischen Blick entgegenzusetzen – vorgeführt wird gleichzeitig die Entstehungsgeschichte einer Heldin und eines Textes –, immer wieder werden die unterschiedlichen Existenzen der Protagonistin reflektiert, das Eigenleben der jüngeren Stadien einer papiernen, zu Geschichte gewordenen Annette betont:

»Von Annette ist Anne (die Heutige) dem Alter nach / doppelt so weit entfernt, wie ihre / Großmutter es damals war, aber irgendwo / erstaunlich fern und nah / gibt es noch dieses Kind. Es ist eins mit ihr, / ist nicht verkümmert und nicht tot, es schläft, / es ist noch da.« (6)

Spannend und ergreifend wird erzählt, und dennoch wählt die Autorin einen sehr distanzierten Blick, berichtet kurz angebunden und vermeidet eine Innenschau der Heldin. Stattdessen berichtet ein kollektiver Wir-Erzähler mit lakonischen Bemerkungen von ihrem Leben und Gefühlen. Warum sich Weber für diese Erzählhaltung entschieden hat, bleibt unklar. Sie hat viele Gespräche mit der realhistorischen Person geführt, hätte also auch eindringliches Biopic schreiben können. Dafür ist es ein erfrischender, innovativer Text geworden, durch den sich noch einiges lernen lässt, besonders über die dunkleren Kapitel französischer Geschichte.

»Annette, ein Heldinnenepos« erzählt von einer selbstbestimmten Frau, die ihre Kämpfe gekämpft hat und ihrer Zeit weit voraus war. Er ist zugleich aufwühlendes Epos, temporeiche Geschichte und humorvolle Geschichtsstunde.

 

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»Annette, ein Heldinnenepos« von Anne Weber umfasst 208 Seiten, erschien am 28. Februar 2020 bei Matthes & Seitz und kostet fest gebunden 22,00 €.

 

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