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»ANNA« von Niccolò Ammaniti

Der neue Roman vom Autor des Bestsellers »Ich habe keine Angst« ist ein dystopischer Abenteuerroman, in dem ein düsteres Sizilien von grausamen Kindern und Straßenhunden bevölkert wird. Der Römer Ammaniti führt uns eine Welt ohne Hoffnung und Gnade vor, in der das Altwerden in drastischer Weise mit dem Tod verknüpft ist.

Wie wäre die Welt ganz ohne Erwachsene?

Eine Welt der Kinder – was nach Utopia klingt, ist hier finsterer Überlebenskampf.

Sizilien im Jahr 2020 ist eine verdorrte Aschewüste. Die Gegend ist ausgebrannt, Autowracks, geplünderte Geschäfte und verwüstete Wohnhäuser säumen die Straßen, es gibt keine Elektrizität oder fließendes Wasser, die Lebensmittel gehen zur Neige, die Insel ist von Stacheldraht in Quarantänezonen geteilt und mit unzähligen Leichen und Müll übersät. Die Straßen sind wie ausgestorben, allerdings haben sich äußerst grausame, hierarchisch organisierte Kindergangs gebildet, die die Insel beherrschen. Ammaniti gelingt es eine beängstigende wie bedrückende dichte Atmosphäre zu kreieren, die einen in den Bann zieht.

Vier Jahre ist es her, dass die Epidemie ausbrach und alle Erwachsenen an einem belgischen Virus starben. Nach der Zeit der großen Plünderei schlagen sich die Kinder nun einzelgängerisch-zurückgezogen oder zusammengeschlossen in Straßenbanden mehr schlecht als recht durch. Doch sich hartnäckig verbreitende Gerüchte von der immunen Kleinen Riesin, die alle bei einem Feuerfest im sagenumwobenen »Grand Hotel Terme Elise« in den Bergen heilen wird oder von überlebenden Ärzten, die im Geheimen an einem Heilmittel arbeiten, halten die sie am Leben. Diese verschiedenen Legenden werden zu ihren Glaubensbekenntnissen und zu der Hoffnung, die es zum Überleben braucht. Denn wofür lohnt es sich sonst weiterzumachen, wenn der Virus jeden ohnehin mit Erreichen der Geschlechtsreife gnadenlos dahinrafft?

Die 13-jährige Anna und ihr kleiner Bruder Astor leben zusammen in ihrem Elternhaus im Wald, bis Astor plötzlich verschwindet, entführt von einer Gruppe grausamer blauer Kinder, die sich militaristisch organisieren und kleinere rekrutieren und versklaven. Anna, die immer alles getan hat, um Gefahren vor ihrem Bruder fernzuhalten, muss ihr Refugium, ihr Nest, ihre alte Welt verlassen und losziehen auf eine unbestimmte Suche…

»Es war eine Prozession der Krüppel, Buckligen und Wunden.« (S. 152)

Über weite Strecken des Romans weist Anna alle sich bietenden Bündnisse und Komplizen schnöde zurück und hält sie im Status der Möglichkeit klein: Potenziale neuer Welten scheinen an einigen Stellen schwach auf, die allerdings nur traurig anklingen können und im Keim gleich wieder erstickt werden. Da ist der unverwüstliche Hund mit den drei Namen, der lebensfrohe Cowboy Pietro, die Supermarktzwillinge, die Familie der Blauen, der Melonenjunge und einige mehr, aber Anna rennt nur so durch diese sich vor ihr auftuenden Räume durch und schließt eine Tür nach der anderen hinter sich. Als dieser auffallende, destruktive Zug an der Protagonistin beginnt, einen zu nerven und zu frustrieren, wird er auch schon überwunden. Die Erzählung kippt, als Anna Pietros Hilfe braucht, um ihren Bruder aus den Ketten der Blauen zu befreien und sich herausstellt, dass der gar nicht gerettet werden will. Denn das Hotel, in dem sich die blauen Kinder ihr eigenes Reich, mit eigenen Regeln und Glauben errichtet haben, entpuppt sich nicht nur als Kirche und Pilgerstätte für infizierte Jugendliche, die von der Kleinen Riesin geheilt werden wollen, sondern als grausige Totenburg.

»Das ist ein Wartezimmer. (…) Dort schleppten sich die hin, die schon halbtot waren, um zusammen zu krepieren.« (S. 156)

Einer spektakulären Flucht folgt die beschwerliche Reise zum Festland, die aus den drei Kindern Anna, Astor und Pietro eine Familie werden lässt. Auch der unsterbliche Straßenköter wird zu einem treuen und geliebten Weggefährten auf ihrer Odyssee.

 

No hope, no cry

Die Erzählung dreht sich immer wieder um die Großthemenkreise Schicksal, Glaube, Hoffnung, Sinn, Zweifel, Ausgeliefertheit, Macht und Ohnmacht. Im dritten und letzten Teil der Geschichte wird dann in Meta-Kommentaren eine grausame Machtinstanz heraufbeschworen, die die Erzählung zur schlimmstmöglichen Wendung treiben will.

»Es war, als beobachtete sie jemand von weit oben, der ihre Geschichte schrieb und sich immer grausamere Methoden ausdachte, um sie zu quälen. Jemand, der sie auf die Probe stellte, um zu sehen, wann sie aufgeben würde. (…) ›Die Welt hier gibt es nicht. Sie ist ein Albtraum, aus dem wir nicht aufwachen können.‹« (S. 302)

Das Ende ist dann tatsächlich in all seinen Stufen makaber und tragisch. Pietro wird von seinem großen Traum überrollt und zerquetscht, Anna muss sich mit dem schwierigen moralischen Dreieck aus Qualen, Gnade und Erlösung auseinandersetzen und die beiden hoffnungskranken Geschwister müssen sich von ihrem Glauben an eine Rettung und ein Leben auf dem Festland verabschieden. Ihre entbehrungsreiche Odyssee nach Kalabrien hat sich als tragisch nutzlos erwiesen, auch hier Endzeitstimmung. Allerdings hat der Weg sie von Illusionen befreit und Akzeptanz gelehrt: Der Überlebenswille und das Warten auf den Tod gehören beide zum Leben. Alles hat zwei Gesichter, so auch der Kraken, der erst eine Art Schutzpatron für die Kinder ist und schließlich zum Feind und dann zur ungenießbaren Jagdbeute wird, ähnlich wie die Hoffnung auf ein Leben am Festland. Und so verliert Anna alles, was ihr lieb ist, während sie auf ihr sicheres Ende zu geht.

»In den vergangenen vier Jahren ihres Lebens hatte Anna viel gelitten, hatte Schmerzen überwunden, die so blendend hell waren wie die Explosion eines Methanlagers. All das steckte ihr noch immer im Herzen. (…) (A)ber kein einziges Mal, nicht eine Sekunde lang war ihr der Gedanke gekommen, ein Ende zu machen: Sie spürte, dass das Leben stärker ist als alles andere. Das Leben gehört nicht uns, es läuft durch uns hindurch. (…) Das ist unsere Aufgabe, das ist uns ins Fleisch geschrieben. Wir müssen weitermachen, ohne zurückzublicken, weil wir die Energie, die uns durchdringt, nicht beherrschen können, und selbst verzweifelt, verstümmelt und blind ernähren wir uns weiter, schlafen und schwimmen gegen den Strudel an, der uns nach unten zieht. Doch nun geriet diese Gewissheit ins Wanken.« (S. 173)

 

Einschätzung

Schaut man genauer hin, steckt hinter Ammanitis deprimierender Dystopie eine ganz klassische archetypische Heldenreise, also mehr ein Abenteuerroman als ein Drama. Es gibt Helfer und Gegner auf der Reise zu einer unbekannten Zukunftsvision, Aufgaben und Prüfungen sind zu bestehen, Elixiere zu finden, Grenzen zu überwinden.

Die meiste Zeit wirkt Annas Geschichte dabei ziemlich düster, eine grässliche, rettungslose Welt entrollt sich vor unseren Augen, dann aber werden immer wieder einzelne Momente der Schönheit, des Glücks, der Lebensfreude, Leichtigkeit und des Übermuts gestreut.

Das absolute existenzielle Auf-sich-gestellt-Sein ohne Zukunftsaussichten, das in der Dystopie angelegt ist, kehrt das Schlimmste aus den Kindern hervor und gewährt uns einen Blick in die menschlichen Abgründe: Zerstörungswut, Missgunst, Egoismus, Lügen, Intrigen, Gewalt, Jähzorn, Hass und Unterdrückung werden in all ihren Spielarten vorgeführt. Der belgische Virus dient als große Metapher bzw. ermöglicht die Konstruktion eines Weltmodells mit Laborcharakter. Das Erwachsenensterben löst Anarchie und eine Umverteilung nach dem Prinzip des Stärkeren aus. Ammaniti rechnet mit dem neoliberalen Kapitalismus und einer perversen Konsumgesellschaft ab, außerdem erinnern die von Zäunen umgebenen Quarantänezonen ungut an die aktuelle Flüchtlingspolitik.

»Sie wusste nichts über Kalabrien. Sie fragte sich, was sie dort finden würde. Ob wirklich Große überlebt hatten? Sie stellte sich vor, man würde sie nicht an Land lassen.

Fort! Fort mit euch! Ihr seid infiziert!« (S. 317)

»ANNA« weist eine schlichte, manchmal wenig raffinierte Sprache und Erzählstruktur auf, der Autor wendet offensichtlich mehr Aufwand auf die Ausgestaltung der Welt und ihrer Verhältnisse als auf die sprachlich-stilistischen Darstellung — auch wenn die Erzählung zum Ende hin sprachlich und erzähltechnisch deutlich gelungener und komplexer wird.

 

Fazit: »Das Leben gehört nicht uns, es läuft durch uns hindurch.« (S. 173)

Ammaniti legt eine bedrückende Dystopie vor, die Drama, Tragödie, Heldenreise, Coming-of-Age-Story, Abenteuerroman, Odyssee und symbolisches Weltmodell mit Aussagen zu aktuellen Entwicklungen vereint. Es werden menschliche Triebfedern wie Grausamkeit, Überlebenswille, Hoffnung und Schicksal in ihren Mechanismen offengelegt.

Düster und hoffnungsarm breitet sich ein drastisches Szenario mit animalisch-wilden Figuren vor uns aus, und doch ist »ANNA« auch eine Feier der Liebe und schönen Momente, die auch ein kurzes Leben noch wertvoll machen. Die modellhafte Anlage der Dystopie ermöglicht es dem Autor, seine Bilder, Beobachtungen und (uneigentlichen) Kommentare zu entwickeln. Sprachlich fast durchgehend gelungen, mit treibendem Plot und guten Ideen, lässt mich die Geschichte zwar nicht unbedingt kalt, aber unerwartet lauwarm zurück…

 

»ANNA« von Niccolò Ammaniti ist am 10.08.2018 beim Eisele Verlag erscheinen, umfasst 336 Seiten und kostet 20,00 € als Hardcover.

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