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Ein echter Glücksgriff: »Auerhaus« von Bov Bjerg

Bov Bjerg alias Rolf Böttcher ist ein deutscher Schriftsteller und Kabarettist und mit »Auerhaus« gelingt ihm ein tragikomischer Roman, der unter die Haut geht. Erschienen ist sein zweiter Roman 2017 bei Aufbau Taschenbuch.

Was will man mit seinem Leben anfangen und wie stellt man es an, glücklich zu sein?

Ende der 80er Jahre gründen sechs Freunde eine WG in einem alten Bauernhaus auf dem Land. Das »Auerhaus« ist zugleich Schauplatz, Trainingszentrum, Begegnungsstätte, Labor und Geburtsort verrückter Ideen, tiefer Gespräche und einer Menge Unfug und Lebensmut. Das Leben im »Auerhaus« soll ein Schonraum sein, ein Refugium, doch die sechs Mitbewohner müssen schneller als ihnen lieb ist feststellen, dass das richtige Leben sich nicht aussperren lässt…

Sechs Freunde sollt ihr sein

Nach Frieders Selbstmordversuch ist es sein bester Freund, der vornamenlose Höppner Hühnerknecht, aus dessen Sicht die Geschichte auch erzählt ist, der versucht, ihn zu verstehen und wieder glücklich zu machen. Die Idee ist, eine WG aus sechs Freunden zu gründen, die nach Frieders Entlassung aus der Geschlossenen zusammen in dem Haus seines gestorbenen Großvaters auf ihn aufpassen sollen. Gemeinsam reden sie um Frieders Leben, der nicht mehr weiß, wofür sich das Leben eigentlich lohnen soll.

»›Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das ist ein Unterschied.‹« (S. 65)

»Our House« von Madness bildet den Soundtrack ihrer Jugend

Bov Bjerg schafft mit »Auerhaus« ein gelungenes Jugendportrait, eine Geschichte über die faszinierende Freundschaft unter Außenseitern und Sonderlingen. Es gelingt ihm, sprachlich nicht gewollt zu klingen oder ins Lächerliche abzurutschen und doch jugendlich zu wirken. Sein Roman erinnert an Herrndorfs »Tschick« oder Schomburgs »Das Licht und die Geräusche«. Er überzeugt mit leisem, skurrilem Witz, die die Tragödie des Lebens durchzieht. Erfrischend ist auch, dass uns in »Auerhaus« endlich einmal eine Bande Dorfkids begegnet und nicht der gefühlt hundertste Großstadtroman zu diesem Thema geschrieben wurde.

»Wir redeten um sein Leben.« (S. 222)

»Ein richtiges Leben mit ziemlich viel Reden, mit Reden zum Frühstück und Reden am Mittag und Reden am Abend, und das ganze Reden bedeutete: Aufpassen auf einen von uns, der mal versucht hatte, sich umzubringen.« (S. 61)

Das Herz des Romans bilden sechs skurrile Idealisten. Es geht um die Freiheit der Jugend, Partys, Musik und Gespräche. Ihre Wohngemeinschaft wird zur Schule fürs Klauen und Rebellieren, zum Ort der Selbsterprobung und –auslotung. Mit ihrem neu gefundenen Lebensmut und Selbstverständnis lehnen sich die Jugendlichen gegen jegliche Autorität auf, gegen Polizei, Staat und Kapital, und schießen mit Holzpistolen auf imaginierte und kategorische Feinde.

»Ich sagte: ›Ich kann das nicht. Ich hab so einen Schiss, erwischt zu werden. Ich kann das nicht.‹ / Cäcilia nickte. Frieder: ›Wenn du aus dem Laden rauskommst, weißt du, was für ein Gefühl das ist? Du bist allmächtig!‹ / Vera: ›Man muss es üben, dann ist es ganz einfach.‹ / Frieder sagte: ›Vorschlag. Vera und ich, wir bringen euch bei, wie man klaut. Und dann wird alles zur Hälfte angerechnet. Zum Beispiel: ein Päckchen Kaffee. Das kostet im Laden zehn Mark. Das zählt dann also wie fünf Mark in die Kasse.‹ / Vera: ›Dann hat jeder privat mehr Geld übrig, und als WG haben wir trotzdem alles! Je mehr wir klauen, desto höher der Wohlstand. Individuell und kollektiv!‹« (S. 80)

»Ich war ganz da. Alles war gut.«

Die sechs Jugendfreunde haben nichts gemeinsam, außer dass sie anders sein wollen. Sie haben bunte Haare, sind Tramper, Brandstifter, Kleptomanen, Kiffer, Schwule, Depressive, Lispelnde. Sie sind auf ihre Art Sonderlinge und dafür umso mehr zur Identifikation da. Sind wir nicht alle ein bisschen seltsam?!

»Seltsam waren die anderen in der Klasse. Die, für die alles weiterging wie immer. Hätte man sie vor einer Klausur gefragt: ›Wozu lebst du eigentlich?‹, hätten sie geantwortet: ›Das kommt nicht dran, das müssen wir nicht wissen.‹ Sie waren auf der Oberschule zuhause. Sie verpuppten sich, machten Abi und studierten, und wenn der Kokon platzte, sahen sie aus wie ihre Eltern. Sie übernahmen die Praxis, die Kanzlei, das Ingenieurbüro. Sie erbten von ihren Eltern das Abitur und das Leben. Sie kannten den Song, aber sie waren nicht sauer, wenn sie ihn sangen, sondern sie lächelten verzückt: ›Birth, school, work, death!‹« (S. 68)

Was genau die »Auerhaus«-Bewohner wollen, wissen sie selber nicht. Doch die Hauptsache ist, dass ihre Leben nicht in die Ordner Birth, School, Work, Death passen. Sie stehen kurz vor dem Abi und wollen sich von ihren Mitschülern abgrenzen, den »Spezial-Schwachmaten«, die strebsam ihren Eltern nacheifern. Frieders Suizidversuch hat auch seine Freunde wachgerüttelt, ihnen zusammen ein neues Lebensgefühl beschert, denn sie wissen nun: Nichts ist selbstverständlich, alles ist fragil und kostbar, besonders das Abweichende. Und dennoch erzählt Bov Bjerg von Teenagern mit ganz normalen Jugendproblemen: Patchwork-Familie, erste Liebe, Abi und das Leben, wie es einen manchmal überfällt…

»Ihm machte nichts mehr richtig Angst, weil er schon mal gewonnen hatte gegen die allergrößte Angst, die es gab.« (S. 88)

Unglaublich eindringlich und sensibel erzählt Bov Bjerg die Geschichte von sechs orientierungslosen Jugendlichen, die eine besondere, zerbrechliche Freundschaft vereint. Der Leser lässt sich nur zu gern von den verrückten Ideen der Querschläger mitreißen und möchte am liebsten selber noch einmal jung und wild sein können. Ein Happy-End schenkt uns der Autor nicht und gerade das kommt dem Roman zugute.

»Wir hatten immer so getan, als ob das Leben im Auerhaus schon unser richtiges Leben wäre, also ewig. Frieder sagte:   ›Du hast die Augen zu und treibst auf deiner Luftmatratze, ein sanfter Wind weht, und du denkst,geil, jetzt lebe ich für den Rest meines Lebens hier in dieser Lagune, in der Südsee. Und dann machst du die Augen auf und merkst, es ist bloß ein Nachmittag am Baggersee, und zack ist der auch schon vorbei.‹« (S. 214)

Ach, könnte das echte Leben doch ein bisschen mehr wie im »Auerhaus« sein…

Das »Auerhaus« ist wie ein Ort außerhalb dieser Realität – schwebend, mit eigenem Moral- und Bedeutungsraum. Hier werden Dinge möglich, die sonst undenkbar scheinen, Dinge hinterfragt, die sonst selbstverständlich sind und man kann sich hier frei fühlen. Das »Auerhaus« ist die beste Zeit unseres Lebens.

»Und wenn einem auf einmal der Sinn des Lebens klar wurde, dann war das der beste Witz überhaupt.« (S. 96)

Bov Bjerg entwickelt eine schlichte, verknappte Sprache für seine Geschichte, die zum Dramatischen neigt und ungeschliffen, spoantan wirken soll. Es gibt unter seinen jugendlichen Protagonisten keine Tabu-Themen, ganz offen sprechen die sechs Freunde über alles, was das Leben und der Tod zu bieten hat.

»Ich wollte nicht schon wieder ein ernstes Gespräch führen. Diese Gespräche drehten sich im Kreis, hatte ich mal zu Frieder gesagt. Frieder sagte, das sei kein Kreis, sondern eine Spirale. Wir kämen dem Zentrum immer näher.« (S. 96f.)

Bov Bjergs Überraschungsbestseller »Auerhaus« erschien 2015 bei Blumenbar und 2017 nun auch bei Aufbau Taschenbuch. Der 240 Seiten schlanke Roman kostet 9,99 Euro.

Eine fantastische Hörspiel-Adaption, die das auditiv-musikalische Potenzial des Romanes sehr gelungen zu nutzen weiß, erschien 2017 bei Der Audio Verlag, produziert vom rbb (1 CD, 59 min., 12,99 Euro).

 

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