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Michel Decar zieht durch »Tausend deutsche Diskotheken«

»das ist ja eine einzige Komödie.« (S. 236)

»Tausend deutsche Diskotheken« ist der Debutroman des Dramatikers und Hörspielregisseurs Michel Decars und kann als Parodie einer Detektivgeschichte verstanden werden. Im Vordergrund dieser rasanten und abgefahrenen Geschichte stehen allerdings weniger kriminologische Plotwendungen als vielmehr eine ausgeprägte dichte Atmosphäre und Zeitkolorit. Der Autor ist ganz verliebt in das Jahrzehnt der 80er, die Hochzeit der Diskotheken, und lässt das wilde Lebensgefühl einer Generation wieder aufleben.

»Die Maschine lief auf vollen Touren, lief wie geschmiert, war geil unterwegs. Überhaupt waren alle geil unterwegs, griffen scharf an, legten hart nach, so einige hier waren fett im Geschäft, waren sich der Sache sicher. Die Armbanduhren zeigten drei, vier, fünf Uhr. Nach Hause gehen war keine Option, nach Hause gingen jetzt nur die ganz schlappen Typen. Die Lichtanlage gewitterte über die Tanzfläche, zeigte Jäger und Beute, wies den Weg zueinander, Schlaglichter im Dunkeln. An Aufhören war gar nicht zu denken, an Lockerlassen auch nicht, jetzt wurden Konzepte umgesetzt,

Erwartungshaltungen erfüllt, jetzt wurden die dicken Tränen vergossen, die dicken Träume beerdigt, hunderttausend Schwangerschaften abgebrochen. Jetzt war der Moment gekommen, denn Montagmorgen um sieben klingelte wieder der Wecker, und der klingelte nicht soft und gerecht, der klingelte schrill und hart und unendlich laut. (S. 152f.)

Madonna, Bacardi und Maggi – the 80s are back!

Frankie ist ein Macker, ein Macher, ein Aufreißer, für sämtliche Frauenbekanntschaften »das Allerletzte«, obercool, szenig, irgendwie ein windiger Typ, ein Lebemann und Lebenskünstler, für den Mama doch das einzig Wahre ist. Frankie ist ein Münchner Privatermittler, der selten ohne Alk im Blut anzutreffen ist, ein Marlboro Menthol-Kettenraucher, Bacardi Cola-Enthusiast, Madonna-Hörer, stolzer Besitzer eines zucchinigrünen Admirals und nicht so sehr ein Rationalist, er folgt lieber seiner Intuition und seinem knurrenden Magen.

Und Frankie hat vor allem eins: Trouble mit dem Finanzamt. Am liebsten würde er das Finanzamt München II in Grund und Boden klagen, mindestens auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil sie ihn sabotieren, penetrant belästigen und beschuldigen, weil die Banditen an seinem totalen Bankrott arbeiten und schon jetzt dafür verantwortlich sind, dass er seine Detektei schließen musste.

Ein Abend, ein Anruf, ein Song

»Ich hatte einen wirklich miesen Tag, bei mir sind eine Menge mieser Sachen passiert. Ich kann da jetzt nicht im Detail drüber sprechen, aber es sieht so aus, dass uns demnächst alles um die Ohren fliegt, dass uns die komplette Bundesrepublik einfach so um die Ohren fliegt, und dann geht’s hier drunter und drüber, das kann ich dir versprechen.« (S. 99)

Die Sache ist die: Im Bundesbahnvorstand wird ein DDR-Spitzel vermutet, ein ganzes Maulwurfsnetz, das spioniert, manipuliert, sabotiert und die BRD zum Kollabieren bringen will, indem sie die Infrastruktur und Kommunikationswege unter ihre Kontrolle bringen.

Mauke aus dem Bahnvorstand wird nachts aus einer Diskothek angerufen, ihm werden für zwanzigtausend Mark Informationen über diesen Spion versprochen, doch dann taucht der Informant bei der Übergabe einfach nicht auf. Nun soll Frankie ermitteln und den Anrufer ausfindig machen, der einzige Hinweis: Madonnas White Heat lief im Hintergrund. Und so klappert also Frankie zusammen mit seinem studentischen Mitarbeiter, dem Fleißbienchen, der menschlichen Abrissbirne, Jens Wetterstein, die Nachtklubszene von ganz Westdeutschland ab – verfolgt von einem ominösen dunkelgrauen Ford Transit und mit immer wilderen Theorien im Gepäck. Je tiefer sie in diese ganze Sache hineingeraten, desto größer wird bei allen Beteiligten der Hang zu Verschwörungstheorien und Paranoia, alles erschient höchst verdächtig, besonders Unauffälliges.

»Tausend deutsche Diskotheken« ist eine Geschichte über Industriespionage, Geheimdienste, Doppelagenten, Schläfer, Erpresser, Korruption und Mauschelei, über den Kampf der Systeme und letztlich lässt sich auch einiges über die Bundesbahn lernen.

Dieser ganze Abtörn in Wiesbaden

»Wir müssen total in den Underground gehen, sagte ich zu Jens Wetterstein, wir müssen uns durch die Underground-Keller, die die Underground-Mühlen, die Underground-Schuppen wühlen, müssen uns da so tief reingraben, bis wir den Grund des Brunnens gefunden haben, den dreckigsten und dunkelsten Grund der Republik, erst da unten werden wir finden, was wir suchen.

Gut, sagte mein studentischer Mitarbeiter, der diesmal ausnahmsweise keine Zwischenfragen stellte, und wo fangen wir an?« (S. 105)

Ihre wilde Jagd durch die Republik und ihre Klubs zieht sich dann doch ganz schön und entwickelt sich zu einem reinen Name-Dropping (einem ziemlich absurden nebenbei gesagt, wer hätte gedacht, dass man sich so viele dämliche Namen für diese Tanzschuppen ausdenken kann?!) – an diesem Punkt wird die Erzählung für den Leser genauso enervierend wie die Nachforschungen es für Frankie längst sind!

Richtig hässlich wird es dann zum ersten Mal, als die angesagten Münchner Szeneläden keine Spur bringen und die Ermittlungen auf die Rockpopschuppen im Umland ausgeweitet werden müssen. Es dauert nicht lang und Frankie verliert die Lust am Auftrag, den er sich eigentlich enorm entspannt vorgestellt hatte. Er muss einstecken, erfährt Rückschläge, muss Ausdauer beweisen ohne voranzukommen, er verkracht sich nach und nach mit all seinen Liebschaften, die leider absolut unentspannt links-feministisch veranlagt sind und mit denen jegliche Kommunikation völlig unmöglich ist. Schließlich verliert er seine studentische Hilfskraft und beinahe noch seinen Verstand, bis er die gesamte dämliche BRD satt hat, die Bürokratie, das Rechtssystem, die Finanzpolitik – überall wittert Frankie den ganz großen Skandal und Sumpf, am liebsten würde er sie alle bis aufs Blut nierderklagen und die Welt revolutionieren. Doch er hat erstmal andere Probleme, denn die Geschichte entwickelt sich plötzlich rasend schnell zu einer einzigen Horrorstory auf der Jagd nach einem Phantom und endet für Frankie in U-Haft, weil er an der Grenze zur DDR auf einen Polizisten schießt.

Stil, Stimme, Sound – Look, Groove, Vibe

Decar präsentiert hier einen um absurde Genauigkeit bemühten Erzähler mit allerdings ungenauem, in Bacardi getränktem Gedächtnis. Die Adressierung eines gewissen Courcelles‘ zieht sich durch den Roman, erst spät klärt sich auf, dass es sich hier um eine Verhörsituation handelt. Ungewöhnlich offen und herzlich, ausführlich oder sogar abschweifend erzählt der Verhörte. Decar siedelt den Plot auf mehreren Zeitebenen an, schafft ein gut durchdacht komponiertes Schichten-Erzählmodell, das allerdings sehr simpel daherkommt.

Das Besondere und Herausstechende, ja das Überzeugende an dieser schrägen Detektivgeschichte ist ihr Erzählstil, der liebenswürdig und flapsig, mit einem Hang zu unsinnigen Wiederholungen, Correctio und ständiger Wertung (alles ist entweder grande oder ein einziger Abtörn) daherkommt. Frankie berichtet nicht selten im Negativ, über Aussparungen, erzählt was nicht passiert oder wenn nichts Neues passiert, aber am auffälligsten und absolut zum Weglachen ist seine spezielle Spreche voll von Übertreibungen, Ironie, trockenem Humor, abgefahrenen, gewollt schiefen, unpassenden Sprachbildern und Vergleichen; eine einzige Ansammlung von 80er Jahre-Modewörtern, die heute unendlich niedlich und ulkig wirken.

»Weißt du, Frankie, ich versuche hier so gut ich kann den Underground zu diggen, die ganzen Vibes, Flows, Glows, Smokes, all die neuen Marken und Theorien, den ganzen Hokuspokus eben.

Unfassbar, dachte ich. Spätestens jetzt hatte ich vor der Person Jens Wetterstein den letzten Respekt verloren, und das sagte ich ihm dann auch.

Zutiefst erbärmlich ist das alles, sagte ich zu Jens Wetterstein, amateurhaft und erbärmlich, ich hoffe, das merkst du selber!« (S. 75)

Ganz nebenbei werden Portraits urbaner Landschaften gezeichnet. Frankie entwickelt langsam aber sicher immer stärkere Aversionen gegen Augsburg, die uninteressanteste Stadt der Republik, das abartige Frankfurt am Main, den ätzenden Mainz-Wiesbaden-Komplex, das wahnsinnig dumme, aber auch irgendwie geile Baden-Baden, das widerliche Loch Bonn, gegen Köln, die Klippe der Zivilisation und Abgrund des Universums, gegen den Reptilienzoo Wiesbaden und das total verpfuschte Leverkusen…

»Dazu kommt auch noch die geographische Konstellation der beiden Städte Mainz und Wiesbaden, sagte Jens Wetterstein im Broccoli, einem vegetarischen Vollwertkostschuppen, wo wir später zu Mittag aßen, beides sind Hauptstädte von Bundesländern, die so nahe beieinander liegen, dass man Angst haben müsse, die beiden würden wie zwei Supernovas aufeinanderprallen und verglühen.« (S. 116)

 

»Es ist ein mieses Komplott« (S. 101)

Frankie ist ein über alle Maße vereinnahmender Erzähler, umso größer der Schock, als die ganze Sache sich wendet und seine Aufrichtigkeit angezweifelt werden muss. Ist tatsächlich Auftraggeber Mauke selbst der heiß gesuchte DDR-Spion oder nur Opfer einer groß angelegten Intrige? Steckt Ermittler Courcelles mit drin und versucht nun, Frankie alles anzuhängen? Oder ist Frankie tatsächlich selbst der Erpresser und Anrufer? Ist er einfältig in etwas Großes hineingestolpert oder führt er alle an der Nase herum und zieht selbst die Fäden?! Handelt es sich um einen Bluff oder sogar einen doppelten Bluff?? Oder trüben hier lediglich Bacardi-Rausch, Verfolgungswahn und Verschwörungstheorie den Erzählerbericht!?

» … ein groß angelegter Plan, die Bundesrepublik zu untergraben. Nach und nach sollen die öffentlichen Behörden unter die Kontrolle Ostberlins fallen, sodass sie die BRD an- und ausschalten können wie einen elektrischen Weihnachtsbaum. … Sie müssen den Nabel finden, Frank, den Nabel. Worauf ich natürlich fragte: Den Nabel? Welchen Nabel? Und er sagte: Den Nabel der Macht natürlich, was haben sie denn gedacht, den Gravitationspunkt, das Abflussrohr!« (S. 111)

 

Fazit

»Tausend deutsche Diskotheken« punktet mit einem überwältigenden und entwaffnenden Sympathen, der irgendwie panne und schräg, faul und frech, gewitzt und doch beschränkt ist, ein emotional reizbarer und meinungsstarker Protagonist, der die Frauen verarscht und die ihn zurück, ein Ermittler wider Willen, der nichts auf sich sitzen lässt und vollkommen in seine eigene Welt verrannt ist.

Decars Roman ist eine enorm kurzweilige, leichte Sommerlektüre, ein Pageturner, der Lacher provoziert und Lesevergnügen garantiert, eine amüsante Zeitmaschine, auch für diejenigen, denen es nicht vergönnt war, die 80er mitzuerleben. Das Ende allerdings gerät etwas schrill-schief und die letzten Seiten treiben einem nochmal ein verwirrtes Runzeln auf die Stirn.

»Tausend deutsche Diskotheken« von Michel Decar erscheint am 06.07.2018 bei Ullstein fünf, umfasst 240 Seiten und kostet 20,00 Euro im HC.

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https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/tausend-deutsche-diskotheken-9783961010172.html

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