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»Der Gesang der Flusskrebse« von Delia Owens

Wer im Marschland lebt, fristet ein hartes, gekrümmtes und geplagtes Leben. Die wilde und abgeschiedene Sumpflandschaft in North Carolina ist das Zuhause für Aussätzige und aus der Gesellschaft Gestoßene. In den 50ern lebt hier Kya mit ihrer Familie in einer kleinen abgeschiedenen und spärlich eingerichteten Hütte.
Sie wächst inmitten unberührter Natur auf, doch ist ihre Kindheit alles andere als schön: Das Geld ist knapp, Arbeit gibt es nur wenig, Wutausbrüche und alkoholgetränkte Schläge des Vaters jedoch viel zu viel. Eines Tages flieht Kyas Mutter vor den Misshandlungen und der erdrückenden Perspektivlosigkeit. Bald verschwinden auch Kyas geliebter Bruder Jodie und ihre anderen Geschwister. Was bleibt, ist der gewalttätige Vater und die unbeantwortete Frage, warum niemand das kleine Mädchen mit sich nahm? Als kurz darauf sich auch der Vater von dannen macht, bleibt Kya mutterseelenallein im Haus im Sumpf zurück. Wie soll ein sechsjähriges Mädchen allein zurechtkommen?

Nach all dieser schwerverdaubaren Tragik zeigen sich die Entschlossenheit, der Mut und die Liebe zur Natur, dieser jungen, starken Protagonistin.
Kya lernt, sich allein zu versorgen – zu waschen, zu kochen, in mühseliger Arbeit Muscheln zu sammeln und zu verkaufen, um vom Lohn in der Stadt Lebensmittel zu besorgen. Sie meidet den Kontakt zu Menschen aus der Stadt, will nicht riskieren, in ein Heim gesteckt zu werden. Den Sumpf will sie auf keinen Fall verlassen, denn er ist alles, was ihr geblieben ist.
Die Flucht in die Natur, die direkt vor ihrer Haustür beginnt, wird zu Kyas Rettung aus der Einsam- und Trostlosigkeit, die das Einsiedlerleben mit sich bringt. Mit ihrem kleinen Boot fährt sie durch das Marschland, zeigt sich fasziniert von Vögeln, Pflanzen und Muscheln, die sie mit viel Sorgfalt zu sammeln beginnt. Mit der Zeit entwickelt sich Kya zur Expertin der hiesigen Flora und Fauna. In der Ruhe und Weite des Marschlands findet sie Rückhalt und Kraft. Die Schaar Möwen, die sie täglich füttert, werden ihr zum Ersatz für die zerbrochene Familie. Die Geschichte folgt ihr bis in die Adoleszenz und zeigt sie als selbstbewusste und schöne junge Frau zu der sie sich entwickelt. Von den Leuten aus der nahen Küstenstadt wird sie nur verachtend und zugleich geheimnisumwoben das Marschmädchen genannt.

In diesem amerikanischen Roman darf natürlich eine Liebesgeschichte nicht fehlen. Kya ist hin und hergerissen zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sodass es dann heißt: der gutherzige, hilfsbereite Tate, der mit Kya die Leidenschaft zur Natur teilt VS. Chase, einem gut aussehenden, äußerst selbstbewussten Draufgänger. Tate hat Kya furchtbar enttäuscht, doch meint der Frauenheld Chase es wirklich ernst mit ihr? Eine dramatische, aber leider auch viel zu vorhersehbare Lovestory nimmt seinen Lauf …

Bis die Idylle des Marschlandes durch den Fund eines Toten durchbrochen wird. Die Leiche von Chase wird aus dem Sumpf geborgen und schnell werden Vermutungen laut, dass das Marschmädchen etwas damit zu tun haben muss. Der Roman wird dadurch zumindest zu einem halben Krimi, denn die laufenden Polizeiermittlungen stehen ebenso im Fokus wie Kyas Alltag und Leben im Sumpf. In sich abwechselnden Kapiteln erzählt der Roman von Kyas Heranwachsen in den 50ern und den Ermittlungen zum Tod von Chase Ende der 60er. Die sich immer wieder unterbrechenden Erzählstränge verweben sich dichter miteinander, um schließlich im entscheidenden Showdown im Gerichtssaal zu münden. Das ist jedoch nicht das Ende, auch wenn das wünschenswert gewesen wäre. Kyas Geschichte wird bis zu ihrem Lebensende auserzählt.

Delia Owens lebt in North Carolina und kennt sich als Zoologin bestens in ihrem Schreibterrain aus. Mit ihrem Roman Der Gesang der Flusskrebse beweist sie ihren sehr guten Blick für atmosphärische Landschaftserkundungen und erzählt von einer wirklich außergewöhnlichen Coming-of-Age-Heldin, die man so schnell nicht wieder vergisst.
Die Geschichte des Marschmädchens ist so faszinierend wie dramatisch und liefert mit einem Mix aus berührendem Coming of Age-Roman, Spannungslektüre und amerikanischer Lovestory, ein gelungenes Lesevergnügen.
Kleines Manko: Bereits das kitschig aufgeladene Cover lässt es vermuten – Die Darstellung der Schönheit der Natur changiert eng zwischen Huldigung und Verklärung. Zusammen mit den vorhersehbaren Liebeswirrungen lässt es die Geschichte etwas am Kitsch kratzen, insgesamt schwächt das den Roman jedoch nur minimal. Ob außerdem das Ende zu auserzählt und ACHTUNG SPOILER: zu sehr auf ein Happy End versessen ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Fazit: Wer nach gelungener Unterhaltung an der Seite einer wildstarkschönen weiblichen Protagonistin, in einer außergewöhnlichen und atmosphärisch dichten Landschaftsszenerie sucht, wird sie in diesem Buch finden.

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»Der Gesang der Flusskrebse« von Delia Owens, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. 457 Seiten für 22€ , erschienen bei Hanserblau am 22.07.2019.

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