Literatur
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Virginie Despentes »Das Leben des Vernon Subutex 1«

International gefeiert: die provokante Pro-Sex-Feministin und französische Skandalautorin bzw. -filmemacherin von »Baise-moi – Fick mich«, »Apokalypse, Baby« und »King Kong Theorie«. In Frankreich ist ihre Vernon-Subutex-Trilogie bereits ein Riesenbestseller und Filmvorlage.

Despentes liefert einen vielstimmigen politischen Gesellschaftsroman, der moderner Gewalt, Elend und Sehnsucht ein Gesicht verleiht – oder besser viele Gesichter.

Der Mann mit dem abgespacten Namen Vernon Subutex ist ein insolventer Ex-Plattenladenbesitzer in Paris, ein Anhänger der analogen alten Welt, »Überlebender einer untergegangenen Industrie«. Mit Fünfzig ist für ihn in der heutigen Zeit kein Neuanfang mehr möglich, der Sozialstaat versagt und Vernon ist arbeitslos, pleite und nun auch noch obdachlos. Sein rasanter sozialer Abstieg kommt dem Leser wie Vernon selbst zunächst unwirklich vor. Das Figur gewordene Relikt aus vergangenen Zeiten wollte sich sein Scheitern nicht eingestehen und hat sich so an den Abgrund manövriert. Schaurig und erschreckend zeigt seine Geschichte, wie das Prekariat unbemerkt von allen in einer Parallelgesellschaft lebt.

»Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre. Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, erst war es wie in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Aber Vernon hat weder die Gleichgültigkeit noch die Eleganz aufgegeben.« (S. 7f.)

Vielstimmig wird aus wechselnden Perspektiven erzählt und nur selten schlüpft man ein zweites Mal in dieselbe Figur. Besonders interessant ist das, wenn die Blickwinkel sich ergänzen oder widersprechen und allmählich ein gesellschaftliches Netz entstehen lassen, das der Handlung zugrunde liegt. Eine düstere Noir-Ästhetik entsteht um die von Hass und Wut getrieben, abgründigen Figuren. Um den Überblick im Figurengestrüpp zu behalten, empfiehlt es sich allerdings einige Notizen zu machen.

Sex, Drugs and Rock’n’Roll

Vernon ist eng befreundet mit den Mitgliedern einer ehemaliger Rock-Band, die beinahe alle kurz nacheinander gestorben sind. Im Zentrum der Erzählung steht das Phantom Alex Bleach, der Lead-Sänger und später gefeierte Solokünstler. Der Frauenheld, der mit wachsendem Erfolg zu wachsenden Depressionen und Zweifeln neigte, wurde tot in seiner Hotelbadewanne aufgefunden – ertrunken mit einer Kombi aus Pillen und Schampus. Nun interessiert sich plötzlich die ganze Welt für einige Videobänder, die Alex kurz vor seinem Tod zugedröhnt besprochen und Vernon hinterlassen hat, eine Art Selbstinterview und Testament, das sich allerdings nie jemand angeschaut hat. Eine wahnwitzige Suche nach Vernon und den Kassetten bricht aus, die von ihm selbst unbemerkt bleibt…

»Mademoiselle, wissen Sie, wen Sie da aufgenommen haben? Nein, Sie haben keine Ahnung, wer diese Person ist. Keine Ahnung, wer das ist, dieser Vernon Subutex!‹« (S. 208)

Wer dieser Vernon eigentlich genau ist, kommt bis zuletzt nicht so ganz raus, er bleibt eine Art Leerstelle und nicht selten widersprüchlich. Eine Legende aus der alten Welt des Rock’n’Roll, zu dem Sex und Drugs so selbstverständlich gehörten wie das Amen in die Kirche. Er steht für eine Generation, eine Epoche, die sich dem Ende neigt, und die neue Zeit meint es nicht gut mit ihm.

Quasi alle vorkommenden Figuren haben eine starke Affinität zu Drogen und/oder Affären; es wird viel geflucht, rassistische und frauenfeindliche Parolen zum Besten gegeben, man bekommt zwischendurch das Gefühl ein Buch zu lesen, das von lauter Arschlöchern bevölkert wird. Im Ganzen ist der Stil sehr derb, vulgär und wütend. Und noch etwas verbindet sie alle: Die Musik bestimmt Leben und Erinnerungen vieler Figuren, ein beeindruckendes Band- und Song-Name-Dropping ist das Resultat.

So macht man Bekanntschaft mit einem frustrierten Drehbuchautor, einem verheirateten Faschisten, einer bulimischen Musikjournalistin, einem geächteten Pornostar, einem E-Zigaretten-Imperialisten, einem schwerreicher Unternehmensmanager, diversen Models, einer dem Islam verfallenen Tochter, einem gewalttätigen Ex-Hells Angel, einer uneinigen Front National-Straßengang und einer linken Obdachlosen, die auf die Revolution wartet. Sie alle haben tausend Gründe wütend zu sein, kommen mit den verschiedensten Diskriminierungen und Ressentiments in Berührung, mit der allgegenwärtigen Doppelmoral, geraten in skurril-absurde Szenen und am Ende sind sie alle gegen die Bobos (schmierige Gutverdiener). Augenzwinkernd, teilweise brutal, wir das Ungleichgewicht und Unverständnis zwischen den Geschlechtern vorgeführt.

Vernon goes viral

Im Laufe des Romans findet Vernon bei unterschiedlichen Freunden und lockeren Bekannten Unterschlupf. Die Spur des toten Musikers Alex wird von sämtlichen Figuren nachverfolgt, die alle mit ihm zu tun hatten, schließlich dreht sich das und Vernon wird jedermanns Subject of Interest – blöd nur, dass der urbane Nomade fast unaufspürbar ist. Die riesenhafte Suchaktion, in die sich alle plötzlich stürzen, erscheint reichlich unglaubwürdig und übertrieben, es existiert sogar ein eigenes Hashtag der Suchbewegung im Netz. Doch mit der Zeit werden die unterschiedlichen Interessen an Vernon und den Kassetten deutlicher, Angst vor Denunziation und Habgier stehen da ganz oben.

 

Die »soziale Schicht der Punchingbälle, Fußabtreter und Pinkelbecken«

In einem vielstimmigen Panorama lassen sich die unschönen Seiten von Paris und seinen Bewohnern betrachten, die Abgründe der Gesellschaft bei den Menschen ganz oben und ganz unten, denen, die nicht ins System passen – sie alle sind ziemlich unfrei und am Ende.

»Das Leben ist oft ein Spiel in zwei Sätzen: Im ersten schläfert es dich ein und lässt dich glauben, dass du führst, und im zweiten, wenn du entspannt und wehrlos bist, serviert es dir seine Schmetterbälle und macht dich alle.« (S. 11)

In Zeitsprüngen und durch Ausschnitte aus verschiedenen Leben fügt sich die kaleidoskopisch erzählte Geschichte allmählich und wohl komponiert zusammen.

Zu Wort kommen jene, die häufig übergangenen werden: Unangepasste, Schrille, Durchgeknallte, Außenseiter und Gescheiterte. Es sind recht moderne Figuren, Homo- und Transsexuelle, Transgender, Internetsüchtige. Die digitalen Medien werden kritisch beleuchtet. Die von ihnen ausgehende Gefahr wird von der Hyäne verkörpert, die hauptberuflich Meinungen im Netz antfacht. Sie kreiert virale Hypes und Trolle, manipuliert Kommunikation mit Fake-Accounts und kann jeden aufspüren, während sie selbst nebulös und anonym bleibt.

»Dann bittet man sie, einen Konkurrenten, Freund oder Gegner auseinanderzunehmen. Für zweihundert Euro bricht sie ihm virtuell ein Bein, für das Doppelte zerstört sie seine Webreputation, und wenn man genug Kohle einsetzt, kann sie ihrem Nächsten das Leben buchstäblich zur Hölle machen. Internet ist das Medium für anonyme Denunziation, Rauch ohne Feuer und Gerüchte, die sich verbreiten, ohne dass man versteht, woher sie kommen.« (S. 119)

It’s a short way down…

Gegen Ende wird es immer deprimierender, die Leidensgeschichten der unteren und untersten Schichten rücken in den Fokus. Vernon ist inzwischen tatsächlich auf der Straße gelandet. Eindrücklich wird das übersehene Leben der Obdachlosen geschildert, das tägliche Betteln, die unbezwingbare Kälte, Realitätsverlust und Leere, die Schwäche vor Hunger und der schwindende Lebenswille. Die enorme Stärke dieses Narrativs: ganz bemerkenswert wird aufgezeigt, wie rechte Gedanken entstehen, und das gerät Despentes nicht klischeehaft, sondern berührend und ein Stückweit sogar nachvollziehbar.

Das Ende dieses Trilogie-Auftakts kommt etwas seltsam daher, zwar poetisch aber auch unbefriedigend: Der im Sterben liegende Vernon halluziniert, vernimmt ein mysteriöses kakophones Madley und schlüpft sprunghaft in eine Fülle von Menschen, Tieren und Dingen in Paris. Leider lüftet dieser Schluss keine Geheimnisse und deutet auch keine an, das Ziel der aberwitzigen Suche wird lediglich an Emilie weitergereicht. Darüber hinaus wird Vernons drastischer Absturz infrage gestellt: Er müsste nicht wirklich obdachlos sein, woher kommt seine Leere und Verzweiflung? – Ein Grund Band zwei in die Hand zu nehmen?!

 

Fazit: oh là là!

Despentes weiß, wovon sie schreibt, hat sie doch selbst einiges von der Welt gesehen und als Prostituierte und Pornoregisseurin gearbeitet. Das von ihr vorgelegte Gesellschaftspanorama, das Sittengemälde von Paris, ist ein vielstimmiger und beeindruckender Rundumschlag – ein mutiger Wurf! Dabei lässt die Autorin kein gesellschaftliches Thema aus. Islamismusdebatte, terroristische Anschläge, prekäre Armut, Aufstieg der Rechten, Genderdebatte, Möglichkeiten und Gefahren digitaler Medien und und und.

»Doch all diese Themen sind nicht einfach nur wie im Gesellschaftsroman seit Honoré de Balzac inhaltliche Facetten oder Stationen einer gut gemachten Netflix-Serie – bei Despentes entsteht aus ihnen eine Ästhetik von Hass und Gewalt. Sie ist der Untergrund dieser Kartografie der Gesellschaft in einem Moment, in dem das 20. Jahrhundert vorbei ist, sich das 21. aber noch nicht gefunden hat.« (Mara Delius, Welt)

Der Roman setzt Schlaglichter, gewährt kleine Einblicke in eine Reihe von Leben, fügt sich mehr oder weniger zu einer treibenden Geschichte zusammen, während er um krasse Themen bemüht ist, einen Blick auf die Ränder der Gesellschaft wagt. Dabei ist er ziemlich radikal, ganz schön schonungslos, derb und häufig vulgär. Nichts desto trotz oder gerade deshalb haben wir es mit einem sehr klug beobachtenden und kritischen Roman zu tun, der auf mich authentisch und überzeugend wirkt, stimmige Figuren entwirft und zwischen amüsant und grimmig-brutal changiert.

Der erzählte Ausschnitt aus der Pariser Gesellschaft zeichnet ein Bild von Enttäuschung und Verachtung, aber auch der Sehnsucht, die darin steckt. Er setzt sich im Großen mit Gesellschaft auseinander: Wo stehen wir, wer ist warum unzufrieden, worauf steuern wir zu?

 

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»Das Leben des Vernon Subutex 1«, Auftaktroman der Subutex-Trilogie von Virginie Despentes, umfasst 400 Seiten, kostet gebunden 22,00 € und erschien am 17.08.2017 bei Kiepenheuer&Witsch. Seit dem 07.09.2018 ist der Roman auch als Taschenbuch für 12,00 € erhältlich.

»Aber Erfolg ist wie Schönheit, darüber kann man nicht streiten – es funktioniert. Und es trifft den, den es trifft.« (S. 203)

 

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