Literatur
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»Der Gott der kleinen Dinge« von Arundhati Roy –
ein tragisch-schönes Indienportrait

Das literarische Debut der indischen Schriftstellerin und politischen Aktivistin Arundhati Roy erschien erstmals 1997 und ist die Geschichte über eine Liebe, die alle Grenzen der Vernunft und Konvention überschreitet und eine Familie zerstört. Roys mit dem Booker Prize ausgezeichneter, sprachlich sehr eigensinniger Roman avancierte zum Weltbestseller.

»Dass es wirklich begann in den Tagen, als die Gesetze der Liebe erlassen wurden. Die Gesetze, die festlegten, wer wie geliebt werden sollte. Und wie sehr.« (S. 51)

Erzählt wird eine tragisch verlaufende Familiengeschichte im Indien Ende der 1960er Jahre vor dem Hintergrund politischer Umbrüche. Ammu ist alleinerziehende Mutter von den sehr kreativen, eigenwilligen und deshalb umso liebenswerteren zweieiigen Zwillingen Estha und Rahel, aus deren Sicht zum größten Teil erzählt wird. Auch wenn die beiden Zwillinge »mit einer siamesischen Seele« erst acht sind, ahnen sie schon dass es die kleinen Dinge im Leben sind, auf die es ankommt, wohingegen die großen Dinge im Inneren lauern und die ganze Welt von einen Moment auf den nächsten von Grund auf verändern können. Sie werden Recht behalten.

Sehr eindringlich und atmosphärisch dicht wird ein vergangenes ländliches Indien exotisch, authentisch und ungeschönt zum Leben erweckt. Der Leser lernt eine Großfamilie in vielen kleinen Details mosaikähnlich kennen: Eine privilegierte Familie mit Grundbesitz, die durch politische Veränderungen und einen privaten Skandal in die Armut und den Verfall getrieben wird. Die Zeit ist in Indien geprägt von Konflikten mit Religionen und Staatsformen, die kommunistische Partei gewinnt zunehmend an Einfluss und doch ist das Kastenwesen gerade in ländlichen Regionen noch lebensbestimmend und absolut unhinterfragbar.

Verbotene Liebe ohne schnulzigen Kitsch

Der Familienschützling Velutha ist Paravan, ein Unberührbarer und »Gott des Verlustes«. Für die bedingungslose Liebe, die ihn mit den beiden Zwillingen und deren Mutter verbindet, ist die Welt noch nicht bereit. Sie führt zum Bruch in der Familie, zu einem entsetzlichen Verbrechen der Polizei aus Abscheu vor einem verletzten Gesellschaftskodex und lässt den Tod Einzug in die geschützte Welt der Kinder erhalten.

»Die großen Dinge lauerten allzeit in ihrem Inneren. Sie wussten, dass sie nirgendwo hingehen konnten. Sie hatten nichts. Keine Zukunft. Deswegen hielten sie sich an die kleinen Dinge.« (S. 439)

Das ist allerdings nur das narrative Fundament. Was Roys Roman wirklich ausmacht, sind die kleinen Dinge, unzählige Details, die sehr poetisch und gelungen in Szene gesetzt werden. Die Autorin und mit ihr die Protagonisten sind sehr aufmerksam für die kleinen Schönheiten und Grausamkeiten der Welt. Geradezu detailverliebt scheinen Einzelheiten der erzählten Welt vor dem Auge des Lesers auf: Die Konservenfabrik der Familie, die zur Tolle und Fontäne frisierten Haare der Zwillinge, der Abdruck des Deckenmusters auf der Mutterwange, der Orangen-Zitronenlimo-Verkäufer bei einem Kinobesuch, eine kommunistische Demo an einer Bahnschranke, der Besuch einer Nichte aus England, der Unfall, der »ein Joe-förmiges Loch im Universum« zurücklässt, das Haus der Geschichte im »Herzen der Finsternis«, das als geheimes Kinderversteck hinter dem reißenden Fluss dient, welcher auch Treffpunkt der im Verborgenen Liebenden ist, der Ausreißversuch aus kindlicher Angst vor Liebesentzug, der in einer Katastrophe enden wird…

»Der Gott der kleinen Dinge« überzeugt auf sprachlicher Ebene!

Arundhati Roy findet für ihre Geschichte eine ganz eigene, sehr verspielte Sprache. Sie häuft Wortspiele und Buchstabendreher, entwickelt wunderschöne Personifikationen und ungewöhnliche Metaphern, bezaubert durch eine phantastische, schillernde Bildlichkeit. Leider wird hier der Bogen manchmal etwas überspannt, sodass der Text kryptische Züge erhält oder die permanenten Wiederholungen lästig werden. Roy entwirft ein stark ausgebautes Netz an Verweisen und Leitmotiven, die in unzählige Textstellen montiert werden und so ein Eigenleben und ganz eigenen Bedeutungsraum gewinnen. Ihre Sprache stellt sich teilweise sehr elliptisch dar, fast mündlich. Viele Lautmalereien, Lieder und indische Wörter durchbrechen den Text, der eine sehr eigene Kraft der Sprache entfaltet, die seinen jungen Protagonisten zu entspringen scheint.

»Das ist es, was unbedachte Worte anrichten. Sie sorgen dafür, dass die Menschen dich ein bisschen weniger lieben.‹ Ein kalter Falter mit ungewöhnlich dicht beschuppten Hinterflügeln landete schwerelos auf Rahels Herz. Dort, wo seine eisigen Beine sie berührten, bekam sie eine Gänsehaut. Sechs Stellen mit Gänsehaut auf ihrem unbedachten Herzen.« (S. 153f.)

Es braucht allerdings gut 100 bis 150 Seiten, um wirklich in den etwas sperrig erzählten Roman reinzukommen. Es bietet sich nur sehr wenig Handlung, über weite Strecken werden scheinbare Nichtigkeiten ausgeschmückt, die nur schwerlich eine Kohärenz erkennen lassen. Alle Stränge laufen schließlich etwas thrillerhaft auf eine Katastrophe zu, die immer wieder angekündigt wird, auf deren Auflösung man aber lange warten muss. Diese ist dann zwangsläufig etwas enttäuschend. Alles gründet sich hier auf Zufall, Unfall und entspringt eigentlich einem Kinderspiel. Zwar wird die Geduld des Lesers strapaziert, zum Ende hin nimmt der Roman dann aber Fahrt auf und kann überzeugen.

Fazit

Arundhati Roys Romandebut ist schön, tragisch und eindringlich, teilweise allerdings etwas schwer zugänglich, da der Text u.a. stark achronologisch springt und seinen verspielten Sprachstil bis ins Kryptische steigert. Über weite Strecken kann der Roman dann aber doch eine sehr gelungene Sprachmagie entfalten, die den Leser entschädigt.

Das englische Original »The God of Small Things« von Arundhati Roy erschien erstmals 1997, wird jedoch noch immer neu aufgelegt und ist in Buchhandlungen präsent. So z.B. mit der 2017er Neuauflage, die auf Deutsch bei Fischer als Taschenbuch erschien, 445 Seiten umfasst und 10,00 Euro kostet.

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