Literatur
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»Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon« von Martin Simons

Was wenn es heute zu Ende wär?

»An Krieg und Frieden musste ich denken, als ich, umgeben von Junkies und Prostituierten, in den Abgasen einer der meistbefahrenen Straßen Deutschlands stand und wusste, etwas war mit mir nicht in Ordnung. Auch meine Beine konnten jeden Moment wegknicken, und worüber wäre ich dann glücklich? Darüber, in den grauen, niedrigen, versmogten Himmel über Berlin starren zu können, während Passanten, die mich in dieser Gegend für ein Drogenopfer halten mussten, achtlos an mir vorbeiliefen?« (13)

Martin Simons‘ autobiografische Erzählung hat als Ausgangspunkt eine plötzliche Hirnblutung, die zu Lähmungserscheinungen an der rechten Körperseite führt und ihn für zehn Tage ins Krankenhaus bringt. Zehn Tage mit einer abstrakten, nicht greifbaren Krankheit, zehn Tage bestehend aus Warten, Ungewissheit und Familienbesuchen, mit ungewollten Einblicken in die Leben anderer Patienten und der Unmöglichkeit, genug zu fühlen, angemessen zu fühlen, das richtige zu sagen. In einem heruntergekommenen Krankenhaus, das wirklich ein schrecklich unpassender Ort für pathetische Momente ist.

»Ich spürte meinen Blutdruck steigen. Unwillkürlich bewegte ich die Finger meiner rechten Hand, um vor einer weiteren Blutung gewarnt zu sein und vielleicht einen letzten Gedanken fassen zu können, bevor ich für immer das Bewusstsein verlor.« (85)

Nicht nur muss der Protagonist Martin auf eine möglicherweise vernichtende Nachricht warten – die Ärzte vermuten, unter der Blutung könnte sich ein Tumor verstecken –, sondern er darf sich auch auf keinen Fall bewegen, um das Risiko einer erneuten Blutung zu minimieren, sein Blutdruck muss um jeden Preis niedrig gehalten werden. Gar nicht so einfach mit einer Mischung aus Todesangst und Langeweile.

»Sie herrschte mich an, ob ich noch bei Sinnen sei, meine Blutung befinde sich in einem kritischen Bereich. Ich müsse mir diesen wie einen Ausschalter vorstellen, auf die sich das Blut wie ein Finger gelegt habe, sollte dieser Finger auch nur zucken, wäre es mit mir vorbei.« (20)

Von Tag zu Tag wächst die Unzufriedenheit Martins mit seiner medizinischen Betreuung, sein Leben liegt in den Händen von überfordertem und desinteressiertem Personal in einem abgerockten Krankenhaus und eine Ursache für seine Blutung kann auch nicht mit Sicherheit gefunden werden. Ohne Erklärung bleibt der Anfall eine Mahnung seines Körpers, ein besseres Leben zu führen.


Der personifizierte Missmut im Krankenhausbett

Wie kann man verkabelt und ruhiggestellt in einem Krankenhausbett würdig sterben? Was ist ein guter Abschied, ein bedeutender letzter Gedanke? Wie geht man mit dem Ausgeliefertsein um, dem Warten auf den jederzeit möglichen, unglamourösen Tod? An was will man sich am Schluss erinnern können? Solche und weitere Fragen treiben Martin um, während sich seine fragile Existenz an der Diskrepanz zwischen dem stumpfen Arbeitsalltag des Krankenhauspersonals und der existenziellen Ausnahmesituation für die Patienten reibt.

»Solche Erlebnisse, die man sein Leben lang als eine Art Guthaben mit sich führt, waren rar, ich erinnerte mich an keine Handvoll. Ich würde kaum eine weitere Handvoll davon erleben. Die meiste Zeit verdrängte ich das.« (71)

Der hinter jeder Ecke lauernde, mögliche Tod durch eine unsichtbare, unerklärliche und nicht greifbare Krankheit, die einen Mitvierziger zur Inventur seines Lebens zwingt, klingt für mich nach einem reizvollen Sujet, ermöglicht einen spannenden Zugang zu Geschichte und Figur. Eine Möglichkeit, die sich in meinen Augen aber leider nicht einlöst. Das schmale Buch bietet keine Antworten oder Überraschungen, sondern nur eine schwer zu ertragende Figur, die sich einem nicht erschließt.

Warum der Text für mich nicht funktioniert, liegt an seiner erzählenden Hauptfigur, die niemanden an sich heranlässt – genau darauf ist eine solche Geschichte aber maßgeblich angewiesen. Martin kann nicht gut mit Menschen, er distanziert sich lieber und spielt alles systematisch herunter, bezeichnet seine Erfahrung als Abenteuer, die etwas Pep in sein Leben bringt. Seinen Panzer aus Herzenskälte und Gleichgültigkeit, der alles auf Abstand hält, reflektiert er vor sich selbst, gibt sich seiner Familie gegenüber dann aber beleidigt und quengelig – aus Schock? Oder ist er schlicht und einfach ein Unsympath?

Als sich sein Todesrisiko mit den verstreichenden Tagen und ausbleibenden Diagnosen wieder verringert, ist er enttäuscht: Es fühlt sich an wie ein Abstieg zurück in die Unwichtigkeit. Das sind die Gedanken eines Egoisten, der sich mit seinem mittelmäßigen Leben quält.

»Insgesamt eine gemischte Bilanz. Aber eine solche hatte ich mir auch verdient. Denn ich merkte, ich konnte mit meinen Versäumnissen ebenso gut leben wie sterben.« (77)

Das Ende ist dagegen mächtig kitschig und somit im doppelten Sinne unpassend: Die Nahtoderfahrung hat Martin mit seiner Familie und seinem Leben versöhnt, er erkennt den Kreislauf des Lebens an, in dem man so viel wie möglich an die nächste Generation weitergeben muss, solange man noch kann, da es jederzeit vorbei sein kann, und er erklärt die Sterblichkeit zur Bedingung für Liebe und Glück – alles in allem nicht sehr überraschende Erkenntnisse…

»Ich redete mir ein, mit den Sorgen sei es wie mit den Ambitionen, von denen sich ja auch immer nur ein Bruchteil verwirklichte.« (70)

 

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»Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon« von Martin Simons umfasst 186 Seiten, erschienen am 08.08.2019 beim Aufbau Verlag und kostet als Hardcover 20,00 €.

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