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Julia von Lucadou »Die Hochhaus-springerin«

Alles nur zu unserem Besten?!

»Die Hochhausspringerin«, Shortlist des Schweizer Buchpreises 2018, ist ein psychologischer Roman und eine ergreifende, genau durchdachte Dystopie. Vorgeführt wird eine konsequente Tyrannei der Produktivität, eine Welt, in der sich alles um die Leistungserfüllung im Job dreht, und die gar nicht so weit entfernt scheint.

Erzählt wird die Geschichte aus dem Observationsblick einer Psychologin, die ihre berühmte Patientin rund um die Uhr beschattet und in Echtzeit analysiert. Sie ist der Schatten hinter den Monitoren, die durch eingeweihte Mitspieler quasi-göttlich in das Leben der gefeierten Hochhausspringerin Riva eingreifen kann und diese wieder gefügig machen soll. Eine unkonventionelle, bahnbrechende Idee verspricht den Durchbruch in ihrem Therapiefall, doch dann droht ein Kontrollverlust nicht nur ein Leben in einer Abwärtsspirale aus den Fugen geraten zu lassen…

Dancer of the Sky

Nach einem ungewöhnlichen Einstieg in sehr filmischer Schreibweise, in dem wir Riva als Heroine des Himmels mit wehendem Cape in rasantem Sprung – der Star bei einem umjubelten Massenevent – kennenlernen, dann der krasse Bruch: Dieselbe Frau verlässt ihre Wohnung, die sie sich mit ihrem Freund Aston teilt, nicht mehr, verkriecht sich, wirkt apathisch, depressiv, kindlich zerbrechlich, spricht und isst kaum, ist diversen Zwangshandlungen verfallen. Was ist passiert? Was war so schlimm, dass es eine solche Entwicklung auslösen konnte?

»Du hast doch alles, sagt Aston. Uns geht es doch gut. Warum willst du das einfach so wegwerfen?« (S. 35)

Genau das versucht man zusammen mit der jungen Wirtschaftspsychologin Hitomi Yoshida herauszufinden, die Riva pausenlos über versteckte Kameras beobachtet und analysiert. Engagiert wurde Hitomi von Dom, dem Leiter der Sportakademie, bei der Riva als Hochhausspringerin unter Vertrag steht. Hinter all dem stehen letztendlich Rivas Investoren, und so wird schnell klar, dass es weniger um Heilung, sondern vielmehr um Arbeitsverpflichtungen und Gewinne geht.

» – Riva ist bei einem Ausstieg vertraglich zu Coaching-Gesprächen verpflichtet, um eine Arbeitsunfähigkeit festzustellen, sage ich. Wenn sie sich weiterhin weigert, auf unsere Einladungen einzugehen, sind wir gezwungen, Maßnahmen einzuleiten. (…) Medikationsauflagen. Relokalisierung. Lange werden Sie die Wohnung nicht mehr halten können.« (S. 52)

Je länger Hitomi die junge Sportlerin beobachtet und ihre Teildiagnosen und ihr Eingreifen wirkungslos bleiben, desto mehr resigniert auch die junge Psychologin und muss zusehends um ihren Job fürchten. Während der langwierigen therapeutischen Observation gleichen sich die beiden Frauen vor der Kamera und hinter dem Monitor immer mehr an – Schlafstörungen, Leistungsabfall, Ruhelosigkeit, Destruktivität, Wut und Zweifel. »Wofür das alles?«, diese Frage schwebt schon bald unheilvoll über allem.

»Manchmal befürchte ich, dass mein Datenarchiv eine Version Rivas zeigt, die nicht mehr am Leben ist und nicht reanimiert werden kann. Riva, wie sie jetzt existiert, ist eins geworden mit ihrer Wohnung: eine weiße, bewegungslose Gestalt. Mehr Umriss als Person. Riva, die Hochhausspringerin, erscheint mir wie eine Fiktion.« (S. 71)

Wollt ihr die totale Produktivität?

Der Roman zeichnet detailreich eine düstere zukünftige Welt, in der die Menschheit gespalten ist in reiche Städter und die Verwahrlosten der Armensiedlungen in den Peripherien, getrennt durch Mauern und strenge Kontrollen. Es herrscht der totale Leistungsgedanke. Arbeitgeber haben beinahe uneingeschränkte Befugnisse gegenüber ihren Angestellten, die durch Körper-Tracker und allerlei andere Datenquellen zu gläsernen Menschen gemacht wurden. Die Nachkommenschaft wird streng kontrolliert dank Massensterilisationen, sowie Brut- und Zuchtstätten, kaum jemand wächst noch bei seiner Biofamilie auf, da das Arbeitsleben nicht nur Lebensmittelpunkt, sondern jedermanns Dauerbeschäftigung ist. Kinderheime und gezielte Talentförderung übernehmen die Aufzucht der Arbeitskräfte von morgen.

Das große Ziel im Leben ist es, sich weit genug hochgearbeitet zu haben, um sich eine Wohnung in der Stadt leisten zu können, im Gegenzug ist die Ausweisung zurück in die Peripherien die wirksamste Bestrafung bzw. Drohung. Es ist ein Leben in einer feinstaubbelasteten Welt, die vom Smog und extrem hohen Wolkenkratzern verdunkelt ist. Rege Laienaktivitäten im Internet, skandalheischende Medien und unendlich viele Möglichkeiten der Datenmanipulation und Hacks machen die Faktenfindung so gut wie unmöglich. Seitdem die Wahrheit abgeschafft wurde, hat sich auch das Vokabular ökonomisiert und wurde vielfach patentiert. Die Erfolgsorientierung greift auf jedes Lebensfeld über, man widmet sich ausschließlich zweckdienlichen Beschäftigungen. Die Wörter Hobby und Spaß gehören der Vergangenheit an, stattdessen gibt es Medikamente, um die Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Statt moralischer Maßstäbe, ist die einzige Todsünde das Versagen, und wenn das droht, winken Entmündigung und Zwangsdeportationen. Auch der Monatslohn wurde im Zuge dieser Entwicklung durch variable Erfolgshonorare ersetzt. Erarbeitete Credits bestimmen Wert und Kaufkraft eines Menschen, der stets bemüht ist, emotionale Reaktionen zu unterdrücken, da Berechnung und Manipulation die Handelsdevisen der Zeit sind.

»Die Überstunden werden meine Werte im Mitarbeiterranking steigern. Ich bewege mich im oberen Drittel meiner Abteilung. Meine ersten fünf Berichte hat Master hoch bewertet. Wahrscheinlich, um mir einen Beginner-Boost zu geben. Es hat funktioniert. In Momenten der Müdigkeit motiviert mich der Blick auf meine Aufwärtskurve in der Tabelle mehr als meine Nootropika.« (S. 25)

Kurz: Wir haben es mit einer technokratischen, ökonomisierten, entmenschlichten, urbanen Hölle zu tun – und das Erschreckende ist, dass Ansätze in allen diesen Punkten schon im realen Heute erkennbar sind, Julia von Lucadou hat diese nur eins, zwei Schritte weitergedacht.

 

Smarte neue Welt: Digitalisierung mortale

»Manchmal kommt mir das Monitorbild mit seiner hohen Auflösung klarer vor als die Realität. Präziser.«        (S. 40)

Die Welt der Digitalisierung ist die der Distanz. Schnell etabliert sich der Terror der Außenperspektive wie im Foucault’schen Panoptikum, denn die Kameras sind überall gegenwärtig – oder werden zumindest antizipiert – und zwingen jeden dazu, zu jeder Zeit äußerlich Haltung zu wahren. In dieser Dystopie kommen körperlich präsente Begegnungen und liebevolle Berührungen dagegen kaum vor, diese uralte Sehnsucht wird als Nostalgie-Trend betitelt digital befriedigt, beispielsweise durch den Anruf bei einem Chatbot statt echtem Familienkontakt.

Daten und Investoren sind in dieser Welt heilig, jede Privatperson kann bei nicht zufriedenstellender Leistung auf Schadensersatz verklagt und in den Ruin getrieben werden – die Idee der Handelsabkommen wird hier auf die private Sphäre übertragen.

In Rückblenden lernt der Leser schließlich Andorra, die beste Jugendfreundin Hitomis, kennen, und mit ihr die Möglichkeit einer anderen Welt, den Zweifel und Ungehorsam. Andorra jedoch musste als erste die Konsequenzen der Unkonformität erfahren und so verschwand sie plötzlich aus dem Leben der Ich-Erzählerin, die seitdem ein strebsames, aber einsames Leben ohne Bezugspersonen fristet. Diese Rückblenden zählen zu den schönsten Passagen des Romans, weil die Welt wie wir sie kennen noch ansatzweise durchschimmert, die beiden haben sich heimlich aus dem Heim weggeschlichen, um trinken, feiern, flirten zu gehen, sie haben sich nebeneinander auf dem Dach gesonnt und ihre Zukunft erträumt.

» – Macht es dich nicht wütend, fragte sie, dass wir nichts selbst entscheiden können?
РSie versuchen, ja nur, unser Potenzial zu erkennen und zu f̦rdern. Du kannst ja immer noch nein sagen.
– Wen kennst du, der schon mal nein gesagt hat?
– Aber sie zwingen dich nicht.
Andorras Bluse war vom Liegen auf dem Beton am Rücken staubig. Ich klopfte ihr den Schmutz ab.
РSie zeigen uns nur die bestm̦gliche Version unserer selbst, sagte ich.

– Bist du dir sicher?« (S. 84)

Hitomi ist dagegen sehr angepasst und gewissenhaft, sie ist so überzeugt und konform, dass sie naiv an einem System mitarbeitet, dass die Menschen krank macht und verschlingt. Ihre größte Angst ist stets zu Enttäuschen und nicht zu Genügen.

»Ich bin das Mädchen im Childcare-Institut, das sich nicht nur an die Regeln hält, sondern an sie glaubt.«     (S. 254)

Doch Rivas Fall bringt Hitomi nicht nur an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sondern konfrontiert sie auch mit den Abgründen ihres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstößt sie gegen die Regeln und geht somit den ersten Schritt auf einem Weg der Selbstermächtigung, der die Katastrophe für sie bedeuten wird.

 

Fazit: Sie müssen Riva Karnovsky zur Kooperation zwingen!

»Nein, sagt Riva, das ist nicht das Problem. Ich habe kein Problem. Du bist derjenige, der das Problem hat, Dom. Früher wollte ich springen und jetzt nicht mehr. Früher wollte ich Glamour und Credits und Fame, jetzt nicht mehr. Und das kannst du nicht akzeptieren.« (S. 99)

Nach wessen Interessen wird hier gehandelt? Und wer hat überhaupt etwas zu sagen in der ewigen Hierarchiekette des produktiven Gehorchens? Gilt es das System anzuzweifeln? Ist jemand bereit, etwas dagegen zu unternehmen? Gibt es Hoffnung oder ist es schon längst zu spät?

Anfangs etwas schwerfällig, nimmt der Roman dann rasant an Fahrt auf und bannt den Leser in eine abgründige Zukunftswelt, die einen so schnell nicht wieder loslässt. Die parallel geführten Schicksale der beiden Frauen, auch wenn sie auf unklare Weise schattenhaft bleiben, nehmen einen tief in diese Geschichte, mit all ihren gesellschaftskritischen Implikationen, hinein.

Julia von Lucadou präsentiert eine präzise Fortschrittskritik mit guten Einfällen. Sie erfasst prekäre Entwicklungstrends unserer heutigen Zeit und denkt diese konsequent weiter wie z. B. der Kampf um Wohnraum in der Stadt(-mitte), aber auch Marken-, Digitalisierungs-, Unternehmensführungstrends. So entwirft sie ein Horrorszenario der Ausgeliefertheit und Unfreiheit, das plausibel, zwingend und gut durchdacht ist, aber bitterkalt geschildert wird.

»Die Welt lässt sich nicht retten. Aber einzelne Menschen schon.« (S. 157)

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»Die Hochhausspringerin« von Julia von Lucadou erschien am 23.07.2018 bei Hanser Berlin, umfasst 288 Seiten und kostet gebunden 19,00 €.

 

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