Literatur
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Juli Zeh »Neujahr«

Eine Reise in die eigene Vergangenheit

»Neujahr« ist nun schon das dritte Buch in Folge, welches die enorm produktive Juristen-Schriftstellerin im Jahresrhythmus veröffentlicht. Diesmal legt sie einen recht schmalen Band vor, der in zwei Teile zerfällt: Was als Gesellschaftsanalyse beginnt, kippt auf der Hälfte zum Thriller-artigen Horrortrip.

Wir verfolgen den Urlaub einer jungen Familie mit zwei kleinen Kindern zwischen den Jahren auf Lanzarote. Ein nicht ganz unschuldiger Familienurlaub, der sich plötzlich transformiert, verdoppelt und zum Albtraum schlechthin wird. Auf der Vulkaninsel verschieben sich Gewissheiten, während wohl gehütete Geheimnisse ans Licht kommen. In dieser rauen und faszinierenden Umgebung wird der junge Familienvater Henning auf sich selbst zurückgeworfen und sieht sich gezwungen, sich seiner Unvollkommenheit, seiner Vergangenheit und seinen Ängsten zu stellen.

»Der Reiseführer sagt, dass manche Menschen Lanzarote hassen, während andere es abgöttisch lieben. Henning weiß noch nicht, zu welcher Sorte er gehört.« (S. 14)

 

»Sein Lieblingswort ist ›funktionieren‹.« (S. 25)

Henning hat sich vorgenommen, am Neujahrstag mal wieder was für sich zu machen. Bei einer schweißtreibenden Fahrradtour bezwingt der junge Vater nicht nur einen Berggipfel, sondern versucht gelichzeitig die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen und seinen Problemen zu entkommen. Eigentlich geht es ihm und seiner Frau Theresa gut, und doch ertappt sich Henning mit einer wachsenden Rastlosigkeit. Er tut sein Bestes, um der Kleinfamilie, Erziehung, Job, Liebe und Freizeit gerecht zu werden, doch für alles zusammen fehlt genügend Zeit. Und nicht nur dass vieles zu kurz kommt und Henning sich permanent gestresst und unzulänglich fühlt, irgendwie ist die Luft, die Spannung raus aus seiner Ehe und vielleicht sogar aus seinem ganzen Leben. Die Tyrannei von Gewöhnung, Abstumpfung und Sinnfrage – Henning leidet unter der grausamen, ganz allgemeinen banalen Unzufriedenheit.

Der junge Vater mag es, zu optimieren, zu funktionieren. In seiner Ehe haben er und Theresa sich vorgenommen, nach modernen Lebenskonzepten zu handeln, doch auch die haben ihre Tücken und die beiden können die klassischen Erwartungen an Rollenbilder nicht vollständig hinter sich lassen. Für Henning ist es selbstverständlich, dass er mehr Zeit in Haushalt und Erziehung investiert, da Theresa mehr verdient als er. Doch was erstmal liberal aussieht, löst in dem jungen Vater Gefühle der Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit, der mangelnden Wertschätzung, ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle aus. Er hat zunehmend Schwierigkeiten, die Vielzahl von Rollen als Vater, Ehemann, Sohn, Bruder, Spielkamerad, Ernährer, Berufslektor und Geliebter unter einen Hut zu bekommen – sein Leben gleicht einer Flucht, da er nicht in der Lage ist, seinen Platz zwischen Arbeit und Familie zu finden. So ein Leben will nur richtig gemanagt werden, meint Theresa, doch Henning fühlt sich gefangen in einem Teufelskreis, nichts je geschafft zu haben oder zu Ende bringen zu können. Es ist, als wäre er kein alleinständiges Wesen mehr.

»Manchmal glaubt er, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt. Vielleicht existiert hinter der Welt eine zweite, in der die Dinge eine andere Bedeutung tragen.« (S. 35)

Doch Sätze wie dieser – und ganz ehrlich, das ist das Niveau, das man von Juli Zeh gewohnt ist und erwarten darf, Sätze, die an großen Fragen rühren und sich als wahre Gedankenmotoren erweisen können – bleiben leider eine Seltenheit in »Neujahr«. Zumindest in der Rahmengeschichte, in der wir Hennings Weg auf dem Fahrrad bis zum Berggipfel begleiten, durchzogen von Gedanken, Erinnerungen an die letzten Urlaubstage, die Silvesternacht, Teresa, die mit einem französischen Touristen flirtet, tanzt. Schließlich landet Henning völlig abgerackert, dehydriert, unterzuckert und mit Muskelkrämpfen im Garten von Lisa, die ein einsames Ferienhaus auf dem Berg bewohnt und sich daran macht, den jungen Mann aufzupäppeln. Und hier nimmt die Geschichte eine schicksalhafte Wendung, denn Henning scheint das Haus zu kennen…

 

»Ein Sisyphos ohne Stein.« (S. 75)

Dieser lanzarotische Berg und Hennings Aufstieg drängen sich quasi auf, sie als große Metapher zu lesen: Ein Mann, der sich im Hamsterrad der alltäglichen Arbeiten erkannt hat, den Sisyphusarbeiten, um die er sich selbst bedauert, ein Mann, der einen Kampf gegen sich selbst führt und vielleicht sogar ein Mann, der auf sein Ende zueilt.

Es scheint die Krankheit einer ganzen Generation von Ausgebrannten zu sein. Als schillernde und sehr lebendige Alternativen stellt der Roman Henning seine Schwester Luna und die Aussteigerin Lisa zur Seite, die das ehemalige Ferienhaus auf der Bergspitze über Femés bewohnt, vor dem Henning völlig ausgepowert mit seinem Fahrrad strandet. Die beiden Frauen verweigern sich den klassischen Lebensentwürfen: Lisa als Einsiedlerin und Künstlerin in ihrem persönlichem Paradies und Luna als nomadische Idealistin, die, ohne sich auf einen Ort, Job oder Lebensgefährten festlegen zu wollen, immer weiter ihrem Traum eines Schriftstellerlebens nachjagt. Nicht ohne immer wieder zu scheitern und in chaotischen Krisen zu versinken, nicht ohne ihren Bruder immer wieder um Geld und Unterschlupf bitten zu müssen, nicht ohne Dramen und Eskapaden, und doch ist sie eine der befreitesten, interessantesten und hoffnungsvollsten Figuren in dieser Geschichte.

Auch Henning kämpft ihn gelegentlich, den Kampf gegen Spießigkeit und Pauschaltourismus, gegen ein Leben wie auf einem fremdgesteuerten Kreuzfahrtschiff, jedoch gibt er sich nicht selten geschlagen. Denn Henning hat ein viel existenzielleres Problem: Sein Körper wendet sich immer häufiger gegen ihn, wird zum feindlichen und lebensgefährlichen Terrain, in dem er gefangen ist. Bei »ES« handelt es sich um Panikattacken, vielleicht eine Angst- oder Belastungsstörung, ein Stresssyndrom, eine Erschöpfungsdepression. Die Ärzte können weder eine genaue Diagnose stellen, noch medizinisch weiterhelfen. Und so überfallen Henning immer stärker Symptome wie Hyperventilation, Herzrasen und -rhythmusstörungen, Atemnot, Tinnitus und Kontrollverluste über seinen Körper wie bei einem epileptischen Anfall. Ob es sich um ein klassisches Burnout handelt, Depressionen oder die Folgen eines Traumas, Henning tappt vollkommen im Dunkeln. Er ist doch ein völlig normaler Mensch, führt ein gutes, geregeltes Leben, warum trifft es also ihn?!

»Er hat gar kein Recht auf eine Belastungsstörung. (…) Für ES gibt es keinen triftigen Grund. ES hat mit Henning nichts zu tun. Außer, dass es ihn bewohnt. Ein Tier, ein Parasit, ein Alien, das demnächst seine Bauchdecke durchstoßen wird. In früheren Zeiten hätte man vielleicht von einem Dämon gesprochen; vielleicht hätte man Henning exorziert.« (S. 39f.)

Die Schilderung dieser Attacken, Hennings Angst und Ausgeliefertsein dem »ES« gegenüber, gehört zu den größten Stärken des Romans. Mit erzählerischer Wucht, mal eher protokollartig wie aus einer therapeutischen Sitzung, mal magisch-metaphernstark, lässt Juli Zeh uns auf sehr beklemmende Weise daran teilhaben, wie körperliche Dysfunktionalitäten ein Leben nachhaltig verändern können. Henning trennt diese Angstattacken von seinem identitären Ich, als hätten sie nichts mit ihm zu tun. Sie entsprechen eher einem schlafenden Tier, das sich in ihm eingenistet hat und das er über seinen Geist zu kontrollieren versucht. Indem er sich bestimmte Gedanken verbietet oder seinen Atem kontrolliert, doch ohne Erfolg. Sein ganzes Leben besteht lediglich noch aus diesen Attacken und seiner Angst vor ihnen zwischen zwei Anfällen. Nicht nur dass sein Körper zu seinem Feind geworden ist, es hat auch Hennings Charakter und seine Wahrnehmung drastisch verändert. Empfindungsarm ist der junge Familienvater geworden, seine Umgebung erscheint ihm lediglich als Kulisse, andere Menschen rücken in weite Ferne, werden geradezu unwirklich. Seitdem seine Frau Theresa ihm Vorwürfe für seine unproduktive Dysfunktionalität gemacht hat, die die Familie gefährde, verbirgt Henning seine Attacken, zieht sich zurück in eine sehr einsame Welt des Martyriums.

 

Von schwarzen Löchern und gefräßigen Monstern

Als Henning es mit dem Rad bis auf die Spitze des Berges geschafft hat, erleidet er eine Art Schwächeanfall, der ihm die Bekanntschaft mit der Einsiedlerin Lisa einbringt. Sie kümmert sich um ihn, zeigt ihm das umgebaute ehemalige Ferienhaus, ihr Atelier, die bemalten schwarzen Lavasteine und mehr und mehr drängen sich Erinnerungsfetzen in Hennings Bewusstsein: Diese buntbemalten Steine, die Couch, die Spinnen an der Wand, spätestens die zisternenähnliche Konstruktion für Regenwasser in Form einer düsteren Grube im Garten schickt Henning urplötzlich und mit der Kraft eines Urknalls auf eine Reise in seine Vergangenheit.

Und ganz unvermittelt hat man einen vollkommen anderen Roman vor sich. Wieder ein Familienurlaub auf Lanzarote in eben jenem Ferienhaus auf dem Scheitel des Berges über Femés. Henning ist vier, seine Schwester Luna noch kleiner. Und was gerade noch Familienidyll in exotischer Umgebung ist, wird über Nacht zum E.T.A. Hoffmann’schen Kinderalbtraum. Juli Zeh macht hier die Urangst eines jeden Kindes wahr: Was, wenn eines Morgens die Eltern weg sind? Schmerzhaft eindrücklich und grauenerregend entspinnt sich die Geschichte, während die beiden Kinder auf sich gestellt sind: eine Mischung aus abenteuerlichem Spiel, der Hölle der Warterei, der Hilflosigkeit und des Unvermögens, sich zu versorgen und der quälenden Kinderlogik, die nur einen Schuldigen kennt. Sehr gelungen und anrührend treibt Juli Zeh diesen Thriller-artigen Albtraum auf seine kindliche Spitze. Auf Urszene folgt Urangst und dann bleiben auch die gefräßigen Monster nicht mehr in ihren dunklen Höhlen.

Jetzt, wo Henning erneut an derselben Stelle dieser kindlichen Extremerfahrung steht – die spanische Zisterne als schwarzes Loch, das sich erneut als recht simple Metapher, hier des Unbewussten, aufdrängt –, strömen nicht nur Flash Backs auf ihn ein, sondern ihm wird überhaupt erst klar, dass sich damals etwas Schreckliches ereignete. Etwas, das er bis heute verdrängt und das ihn trotzdem immer verfolgt hat. Das Erkennen hat das Erinnern aufgerufen und mit der Durchbrechung der Verdrängung bröckelt auch die Idealisierung der Mutter. Zeh macht hier, etwas flach, eine Schlüsselerfahrung aus der frühen Kindheit zur Wurzel allen Übels in Hennings Leben. Und selbstverständlich hält mit dem Auftauchen Freud’scher Themen auch die Vermutung des unzuverlässigen Erzählens Einzug in den Roman. Trotz der laienhaften Schmalspurpsychologie liest sich dieser Thrillerteil als Binnengeschichte irrsinnig gut. Er ist fesselnd, rasant, schonungslos und deutlich stärker als die eher fade, mut- und farblose Rahmengeschichte, die nicht dem Anspruch gerecht werden kann, den ich an Juli Zehs Romane habe.

»›Ich dachte, Vergessen sei eine Gnade‹, sagt sie. Dann legt sie auf.« (S. 188)

Die Wendung, die die Geschichte, zurück in der Rahmenhandlung, auf den letzten Seiten noch hinlegt, hat leider auch nicht zu meiner Versöhnung mit diesem Roman beigetragen. Ein Protagonist am Scheideweg seines Lebens wendet sich kurzentschlossen gegen seine Schwester, ein Erinnerungstrigger, und ihr experimentelles Leben mit Idealen, entscheidet sich für den vermeintlich bequemeren Weg des Vergessens und Schweigens, für ein spießiges, vordergründig heiles Kleinfamilienleben. Eine Tragödie.

»Ohne Luna hört alles auf.« (S. 136)

 

Fazit: Klein und nicht Oho

Juli Zehs neuer Roman »Neujahr« ist mir hier und da sauer aufgestoßen und vor allem bleibt er im Ganzen zu flüchtig. Und doch stellt sie auch hier ihre Stärken unter Beweis: In Henning begegnet uns ein aufmerksamer Beobachter von feinen Einzelheiten, es wird versucht, Psychogramme herauszubilden und eine Gesellschaft zu portraitieren. Und wie immer bei Juli Zeh finden sich ganz nebenbei sehr kluge Bemerkungen wie die folgende über die Welt und unsere Zeit:

»Vielleicht ist Geld das letzte verbliebene Ordnungssystem auf der Welt.« (S. 9)

»Neujahr« ist kurzweilig, eine größtenteils unaufgeregte Geschichte aus unserer Mitte, die dann streckenweise enorm beklemmend wird und in mir vor allem den dringenden Wunsch auslöst, mal wieder etwas wirklich Provokantes von Juli Zeh zu lesen, etwas Opulentes, Tiefgründiges, Gewagtes. Wäre das möglich?

»Als hätten Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren und wären drauf und dran, den Quelltext unter der Benutzeroberfläche freizugeben, einen Code, der alles mit allem verbindet, in dem Menschen nichts weiter sind als Kreuzungspunkte der verschiedenen Energien.« (S. 90)

 

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»Neujahr« von Juli Zeh umfasst 192 Seiten, erschien am 10.09.2018 bei Luchterhand und kostet gebunden 20,00 €.

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