Alle Artikel mit dem Schlagwort: Humor

Kristin Höller – Hier ist es »Schöner als überall«

Dieses Autorinnendebut ist die Coming-of-Age-Geschichte zweier Anfang Zwanziger, deren Lebensentwürfe und Freundschaft in eine Krise geraten und die nach Antworten suchen in ihrem Heimatort. »Es ist eine komische Gegend hier. Wir sind nicht auf dem Land, dafür ist zu viel Beton überall, wir sind nicht in der Stadt, denn hier ist ja nichts, wir sind irgendwo dazwischen, wo man nirgends hinkommt ohne Auto, eine Zwischengegend. Hier wohnen Menschen, die in der Stadt arbeiten und im Grünen leben wollen, aber weit genug rausgetraut haben sie sich nicht. So grün ist es nämlich gar nicht, dafür alles verkehrsberuhigt und flach, und man kann von überall aus sehr weit sehen.« (23) Auslöser ist ein Speer, genauer gesagt der bronzene Speer der Athene-Statue vom Münchner Königsplatz, der zur Trophäe einer übermütigen Partynacht wird, zum Beweis ihrer Jugend, Wildheit und Lebendigkeit. Doch allzu schnell merken die beiden Freunde Martin und Noah, dass das keine gute Idee war. Dass das Diebesgut verschwinden muss. Ohne Plan sitzen die zwei auf der Flucht in einem Miettransporter und finden sich schließlich an dem Ort …

Sarah Kuttner kennt ‘nen »Kurt«

»Also habe ich jetzt ein Haus und zwei Kurts. Im Grunde wie Pippi Langstrumpf.« (S. 46) Sehr treffsicher legt die lässige TV-Moderatorin Sarah Kuttner mit »Kurt« eine tragische Familiengeschichte vor, die ins Herz trifft, ohne je Gefahr zu laufen, ins Feld des Kitsches abzurutschen. Zwar nimmt sie sich des schweren Themas der Trauerbewältigung nach dem plötzlichen Tod eines nahestehenden Familienmitglieds sehr einfühlsam an, dabei erzählt sie aber auch augenzwinkernd und leichtfüßig. Man verliebt sich während der Lektüre zwangsläufig in Kurt, den großen und den kleinen, und dann gleich in diese ganze Truppe aus coolen, albernen, herzenswarmen Oranienburgern, was die Tragödie umso schwerer macht. Ãœberwältigend und entwaffnend schön erzählt die Autorin so viel auf so kleinem Raum und vermeidet dabei gekonnt Kitsch und Pathetisches.   Alles Kurt! »Ich bin mit zwei Kurts zusammengezogen. Einem ganzen Kurt und einem Halbtags-Kurt. (…) Jana und Kurt haben sich entschieden, dass sie ihr Sorgerecht teilen, vor allem wenn Kurt schon extra aufs Land zieht. Und so pendelt das Kind nun wochenweise zwischen seinen beiden Oranienburger Zuhauses hin und her (…): …

Lucy Fricke schafft ein Monument für uns »Töchter«

Kann man seine Vergangenheit ablegen und hinter sich lassen? »›Ich wollte zum Grab meines Vaters.‹ ›Dein Vater ist tot?‹ ›Nicht der. Der andere.‹ ›Du hast so viele Väter, dass ich nie weiß, von welchem du sprichst.‹ Martha übertrieb. Es gab im Wesentlichen nur drei. Den guten, auch genannt Der Posaunist, den bösen, auch genannt Das Schwein, und den leiblichen, genannt Der Jochen.« (S. 18) Betty ist 40 und in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten. Enttäuscht von den Männern ist sie, seit ihre zahlreichen Väter alle immer nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind. Auch als Schriftstellerin ist sie in eine Schaffenskrise geraten und verdient sich im teuren, hippen Berlin-Friedrichshain durch Untermieter etwas Geld dazu, während sie in Auslandsreisen vor ihrer Lebensmisere davonzulaufen versucht. »Wir wohnten durcheinander, wohnten unten und oben bei den Nachbarn, schliefen auf den Sofas, während in unserer eigenen Wohnung die Partytouristen aufs Parkett pinkelten. / Ich finanzierte mich, indem ich aus der Stadt verschwand. Brauchte ich Geld, fuhr ich weg, in Gegenden, die billiger waren als diese, und davon gab es jede …

Überraschend cool: Hilmar Klute »Was dann nachher so schön fliegt«

Wer hätte das gedacht? Das literarische Debut des SZ-Redakteurs Hilmar Klute (Streiflicht) ist ein unerwarteter Volltreffer: klug, witzig, frech, jugendlich! Kalter Krieg und das geteilte Deutschland bilden den historischen Hintergrund und Zeitcouleur für diesen Roman. »Das waren die Männer, die diese Republik am Laufen hielten. Kalter Krieg, kalte Schnauze, kalter Kaffee.« (S. 31) Bochum 1986: Volker Winterberg ist zwanzig und macht gerade seinen Zivildienst in einem Altenheim, doch eigentlich träumt er davon, vom Schreiben leben zu können, vielleicht sogar eines Tages einer der Großen zu werden – und schließlich macht der junge Möchtegern-Lyriker ernst. »Ich wollte es so machen wie die ganz Großen, für jeden Vers dreißig Fassungen schreiben und diese noch mit Querverweisen, französischen Flüchen und fünf Alternativwörtern versehen. Ich wollte ein richtiger Schwerstarbeiter der Literatur werden, so wie Peter Rühmkorf, der unter der Last seiner Verse fast zusammenbrach. Ja, Rühmkorf hatte recht: Was dann nachher so schön fliegt, wie lange ist darauf rumgebrütet worden! (S. 12) Während seines Zivis auf der Demenzstation prallt der junge, hoffnungsvolle und lebenshungrige Volker auf das sinnentleerte Siechtum …

Melissa Broder liebt »Fische«

Es wurde bereits in zwei Lager zerfallen über diesen Roman diskutiert, von absurd und schlecht bis witzig und klug ist jede Meinung vertreten, nicht selten sind beide Pole in einer einzelnen RezensentIn vereint. Für mich ist das Urteil eindeutig: Ich bin entsetzt. Fische und Schwänze In ihrer Gefall- und Bestätigungssucht macht mich die dysfunktionale Protagonistin Lucy regelrecht aggressiv, wohl auch, weil sie mich an einen kleinen, sehr ungeliebten Teil von mir selbst erinnert. Lucy braucht wahlweise Liebe, Sex und Aufmerksamkeit, um die große kosmische Leere, bedingt durch die Sinnlosigkeit unserer Existenz und die Angst vor dem Sterben, auszufüllen– oder wie Broder das so uncharmant formuliert: Löcher zu stopfen, am liebsten mit Schwänzen. Das Ganze kollidiert mit ihrer Beziehungsunfähigkeit und mündet in den ewig gleichen Konflikt, der einem mit der Zeit ganz schön auf die Eier, pardon auf die Möse geht (im Roman bevorzugte Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil), denn »Fische« ist durch und durch Frauenunterhaltung, ein trauriges und deprimierendes, aber mustergültiges Beispiel dieses aufdringlichen Genres. Lucy neigt zu wahnhaftem und obsessivem Verhalten, zur Ãœberforderung und …

Michel Decar zieht durch »Tausend deutsche Diskotheken«

»das ist ja eine einzige Komödie.« (S. 236) »Tausend deutsche Diskotheken« ist der Debutroman des Dramatikers und Hörspielregisseurs Michel Decars und kann als Parodie einer Detektivgeschichte verstanden werden. Im Vordergrund dieser rasanten und abgefahrenen Geschichte stehen allerdings weniger kriminologische Plotwendungen als vielmehr eine ausgeprägte dichte Atmosphäre und Zeitkolorit. Der Autor ist ganz verliebt in das Jahrzehnt der 80er, die Hochzeit der Diskotheken, und lässt das wilde Lebensgefühl einer Generation wieder aufleben. »Die Maschine lief auf vollen Touren, lief wie geschmiert, war geil unterwegs. Ãœberhaupt waren alle geil unterwegs, griffen scharf an, legten hart nach, so einige hier waren fett im Geschäft, waren sich der Sache sicher. Die Armbanduhren zeigten drei, vier, fünf Uhr. Nach Hause gehen war keine Option, nach Hause gingen jetzt nur die ganz schlappen Typen. Die Lichtanlage gewitterte über die Tanzfläche, zeigte Jäger und Beute, wies den Weg zueinander, Schlaglichter im Dunkeln. An Aufhören war gar nicht zu denken, an Lockerlassen auch nicht, jetzt wurden Konzepte umgesetzt, Erwartungshaltungen erfüllt, jetzt wurden die dicken Tränen vergossen, die dicken Träume beerdigt, hunderttausend Schwangerschaften abgebrochen. …