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Jesmyn Ward: »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt«

Singt, über eurer Leid, erzählt von den schlimmen Taten die euch widerfahren sind, damals und heute, singt ihr Gequälten und Gepeinigten, singt vom Gewicht eurer Geschichte, das ihr hinter euch herzieht, singt!

Das sind nur einige der vielen Gedanken, die in dem neuen Buch von Jesmyn Ward stecken. »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« ist ihr zweiter Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde. Im Titel klingt bereits die Präsenz von Lebenden als auch Toten an – denjenigen, die geplagt und gequält von ihrem schweren und mühsamen Leben erzählen. Im Originaltitel heißt es: Sing, Unburied, Sing – diese Bezeichnung als Unbegrabene, eben jene, die weit entfernt vom Leben existieren, beschreibt die Protagonisten im Roman treffend. Die aus dem Leben Fortgerissenen, die, die viel Schmerz ertragen müssen und mussten, sei es wegen ihrer Hautfarbe, Drogenabhängigkeit, fehlender Liebe… Von jenen unermüdlichen Qualen erzählt dieses Buch, lässt die Verzweifelten, die Hilflosen zu Wort kommen und erschafft dabei ein außergewöhnlich berührendes Familienporträt. 

Erzählt wird die Geschichte einer in den Südstaaten lebenden schwarzen Familie. Der 13-jährige Jojo kümmert sich rührend um seine kleine Schwester Kayla, und das muss er auch, da Mutter Leonie beide vernachlässigt. Sie zeigt keinerlei Mutterinstinkte – zu jung ist sie mit Jojo schwanger geworden, zu sehr belastet sie die Trennung von ihrem weißen, im knastsitzenden Freund Michael, zu stark ist sie der Droge Crystal Meth verfallen. Die kleine Familie lebt bei Leonies Eltern, die Jojo liebevoll nur Pop und Mum nennt. Die Großeltern werden Ersatzmama und -papa für ihn und Pop wird zu der Vaterfigur, nach der Jojo sich so sehr sehnt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Jojo versucht so zu sein wie Pop: stark, gerade Haltung, mit einem durchdringenden Blick. Doch das fällt ihm gar nicht so leicht, denn in dieser Familie gibt es viele Probleme: Leonie verbringt ihre Tage lieber high und halluzinierend mit ihrer Arbeitskollegin als mit ihren Kindern, zeigt keinerlei Interesse oder Liebe, und wenn doch, bekommt ausschließlich Kayla etwas Aufmerksamkeit. Immer wieder ist dann Jojos Zerrissenheit zu spüren, der um die Gunst seiner Mutter buhlend, es ihr doch nie recht machen kann. Die Familie steht zwischen Anfeindungen, Hass und Verleumdung, da Big Joseph, der Vater von Michael, nichts von seinen Enkelkindern mit der falschen Hautfarbe wissen will. Jojo muss alles hilflos ertragen. Er sieht die Schmerzen von Mum, die schwer krank im Bett liegt, sieht wie Pop darunter leidet, und auch mit seiner Vergangenheit zu kämpfen hat, sieht die ständig aufflammenden Auseinandersetzungen aufgrund der Hautfarbe, sieht den Zerfall seiner Familie.

Als Jojos Vater Michael aus dem berüchtigten Parchman Haftanstalt entlassen wird, macht sich Leonie samt Kindern, Freundin Misty und Drogen auf dem Weg zum Gefängnis, um Michael abzuholen. Der Weg dorthin wir zu einem schmutzigen Roadtrip, mit viel Kotze, Angst, Kontrollverlust und Unsicherheit, gerade für Jojo. Er weiß nicht so recht was los ist mit Leonie, als sie zuckend und mit den Augen rollend auf dem Vordersitz liegt, nicht ansprechbar, kurz nachdem sie ein angerissenes Päckchen Meth vor einem Polizisten versteckend, herunterschluckte. Und Jojo kann auch nicht mit der Situation umgehen, als Michael wieder da ist und von gemeinsamen Angelausflügen, richtigen Vater-Sohn-Abenteuern, spricht. Ein normales Leben in einer intakten, liebevollen Familie sind Jojo fremd.  

»Verliere mich in diesem Gefühl, dem Gefühl, gewollt zu werden, gebraucht, berührt, und gewiegt, voller Staunen darüber, dass derjenige, der das tut, auch derjenige ist, der will, der braucht, der berührt, der sieht.« S.162

Eine unbequeme Geschichte, die erzählt und gelesen werden will!

Die Story ist sehr gut konstruiert, ohne dabei zwanghaft und zu durchdacht zu wirken. Die Story entwickelt sich langsam und man muss seine Erwartungen immer wieder neu überdenken – zu Beginn ist weder klar wo das ganze spielt, noch wer männlich und weiblich, dunkle und helle Hautfarbe hat. Mit seiner (leider) nicht verblassenden Aktualität spielt der Roman in einem Heute oder Gestern in Amerika und wird abwechselnd aus der Perspektive Jojos und Leonies erzählt. Diese Mischung aus noch kindlich unwissendem Blick, und völlig aus den Fugen geratendem Leben ohne Perspektive ist wunderbar eingefangen und ergibt einen unverstellten Blick auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Personen.

Der Roman ist durchzogen von Gewalt, Brutalität und gefärbt von immer wieder brodelnden Aggressionen, aber auch Leonies Bemühungen sich ihren Kindern zu nähern. Aber aus irgendeinen Grund kann sie es nicht. Sie versucht freundliche Worte für Jojo zu finden und findet sie doch nicht. Leonie ist in ihrer Rolle als Mutter wie auch mit ihrem eigenen Leben einfach total überfordert. Sie ist so nah bei ihren Kindern und ist doch unendlich weit entfernt. Leonies verwehrte Liebe, das Ringen mit Gefühlen, die zu spürende Enttäuschung bei Jojo – das alles hat mich heftiger getroffen als die physische Gewalt, die diesen Roman prägt. Es ist grausam mitansehen zu müssen, wie barsch Leonie mit ihren Kindern umgeht, wie die Kinder sich gegenseitig trösten müssen. Was dieser Roman dem mit viel Feingefühl entgegenstellen zu vermag, ist der unheimlich starke Zusammenhalt von Jojo und Kayla. Es tut dem Herzen unglaublich gut, von solch einer bedingungslosen Beziehung zu lesen. Beide klammern sich in ihrer Hilflosigkeit aneinander und finden in ihrer ungebrochenen Geschwisterliebe Halt und Zuflucht.

»Sah die wandelnde Wunde, die ich war, und kam, um Balsam für mich zu sein.« S.65

Zu Beginn des Romans fällt es sehr leicht, Leonie so zu verachten, so wie Jojo es tut. Aber der Roman entwirft kein uneingeschränkt negatives Bild von ihr. Die Figurenentwicklung ist wirklich großartig dargestellt! Sobald die Geschichte aus Leonies Perspektive erzählt wird, fühlt man plötzlich Verständnis. So nah bei ihr zu sein lässt die anfängliche Ablehnung ihres Verhaltens dem Mitgefühl weichen. Es wird nachvollziehbar, welchen inneren Konflikt sie in sich trägt, mit welchen Gefühlen sie kämpft. Zugedröhnt begegnet ihr im Rausch ihr verstorbener Bruder Given, dessen verurteilenden Blicken sie dann nicht entkommen kann. Dieses Aufzeigen von spirituell-mystisch-geisterhaften Elementen fand ich in dieser sonst sehr realistisch daherkommenden Geschichte etwas komisch bzw. einfach befremdlich. Aber die kulturelle Welt der People of Color mit ihrer eigenen Form von Religion, Philosophie und eben auch Spiritualität, ist ein wichtiger Teil der Handlung.
Den innerlich zerrissenen und schwierigen Charakter der Leonie, fand ich wirklich äußerst gelungen beschrieben. Und auch Jojo entwickelt sich vom Kind zum Erwachsenen, wird der Rolle, die Pop ihm schon früh zuschreibt allmählich gerecht, distanziert sich und nennt seine Mutter am Schluss gar nur noch Leonie.

Der neue Roman »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt!« von Jesmyn Ward ist eine Geschichte über die Suche nach Liebe und Geborgenheit, der Jagd nach einer festen Konstante, der Suche nach einem Zuhause. Diesen Roman zu lesen ist immer wieder schmerzlich und doch eine wahre Bereicherung. Die düsteren Schilderungen changieren zu einem exzellent beschriebenen, sehr realistisch dargestellten Abbild von Rassismus und Armut in der Südstaatengesellschaft des heutigen Amerikas. Und darüber kann nicht oft genug geschrieben werden!

 

»Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« von Jesmyn Ward. Roman. 304 Seiten. 22€. Erschienen im Antje Kunstmann Verlag im Februar 2018.

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