Literatur
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Die Erfindung des Hipsters im Amerika der 40er Jahre: »On the Road«

Ein Buch, das unterwegs gelesen werden muss!

Jack Kerouac, einer der Hauptprotagonisten der wilden »Beat-Generation« und Mythos der amerikanischen Literaturgeschichte, schrieb »On the Road« 1951 in nur wenigen Speed-durchzechten Wochen. Dieser kraftvolle und experimentelle Roman war seiner Zeit voraus und galt lange als unpublizierbar und auch, wenn er klar in seiner Entstehungszeit verhaftet ist, bleiben seine zentralen Themen zeitlos und er verliert bis heute nicht im Mindesten an Faszinationskraft.

Die »Beat-Generation« auf der Suche nach Heimat, Familie und Gott

Erzählt wird die stark autobiografisch geprägte Geschichte des ungewöhnlichen Freundespaars Jack und Neal in den Jahren 1947 bis `49. Die beiden sind Querköpfe, Rastlose, Suchende, Gammler, Schnorrer, Existenzialisten, Romantiker, Künstler. Sie und ihre Gleichgesinnten werden zu den ersten »Hipstern«, einer kritischen, jugendlichen Gegenbewegung zur konservativen und prüden amerikanischen Gesellschaft. In den erzählten drei Jahren führt es die beiden einzeln, gemeinsam und mit Freunden mindestens fünf Mal quer durch die Vereinigten Staaten. Ob sie nun trampen, als Eisenbahnbremser mitreisen, in geklauten und geliehenen Autos davon brausen; immer geht es um das Unterwegssein. Die Straße ist den beiden Ziel, Lehrmeister, Hoffnungsträger und führt sie vor allem zu jeder Menge Spaß. In ihrem rastlosen und manischen Geschwindigkeitsrausch machen sie nicht nur die Straßen von Amerika und Mexiko unsicher und kommen mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt, sondern auch die Motels, Clubs und Bars von New York, San Francisco, New Orleans, Denver und Texas.

Keep it going: Jazz, Drogen, Literatur und immer in Bewegung bleiben

Auf wilden, exzessiven Partys, eins mit dem Beat der ekstatischen Musiker, und zu allererst zusammen mit »Määädchen« fühlen sie sich lebendig und der großen Wahrheit ein Stück näher. Sie suchen »Es« und irgendwo am Ende der Straße muss es zu finden sein. Ein sakraler Friede in der großen Harmonie, Geborgenheit und Ankommen, ein Gefühl wie im Mutterleib. Doch der hedonistische und exzentrische Weg, den die Beat-Freunde wählen, führt nur allzu dicht am Abgrund entlang. Zerwürfnisse, Streit und Enttäuschungen lassen nicht lange auf sich warten und die Freundschaft pendelt zwischen Extrema: zwischen depressiver Apathie und Manie, zwischen brüderlicher Liebe und dem Glauben an einen Heiligen, zwischen Wahnsinn und prophetischer Engelsgleichheit.

Neal Cassady, der heilige Irre und Jacks Sirene

Neal fasziniert Jack, aus dessen Sicht berichtet wird, aufgrund seines Tatendrangs, seiner bodenlosen Energie. Einst ein Kinderstricher und kleptomanischer Knastbruder, zieht Neal nun die Menschen in seinen Bann, indem er sich seinen Passionen hingibt und gesellschaftliche Konventionen ausschaltet. Doch sein hedonistisches Fieber stößt die Menschen um ihn auch immer wieder von sich: seine drei Ehen scheitern, seine Freunde wenden sich von ihm ab, seine Kinder lernt er nicht mal kennen. Neals Vision vom Leben ist zu mächtig. Wie ein Getriebener hält es ihn nirgendwo und zum Ende des Romans wirkt er ausgebrannt, hat die Sprache beinahe verloren. Jack ist der Einzige, der bis zum Schluss an Neal glaubt und ihn begleitet auf seiner nicht enden wollenden Suche. Nach der Wahrheit, nach Gott, nach Spaß, nach seinem obdachlosen Vagabundenvater Old Cassady. Jack ist dagegen zurückhaltender, beobachtender, er folgt dem Lockruf, der Verheißung, die er in Neal sieht, fasziniert von dessen Konsequenz und Furchtlosigkeit.

»[…] und ich schlurfte hinterher, wie ich das mein Leben lang bei Menschen gemacht habe, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.«        (S. 18)

Entwurzelt und getrieben ist die ganze Beat-Clique um Kerouac, Burroughs und Ginsberg durch ihre Vaterlosigkeit und ihre Abscheu vor dem System, vor der gutbürgerlichen Zufriedenheit. Die Nacht ist ihr Element. Und immer beschäftigt sie auch die Frage, was das wahre Amerika, dieser riesige, »ächzende Kontinent« eigentlich ist, was es bedeutet, Amerikaner zu sein. Die Reiseberichte sind eine Bestandsaufnahme der amerikanischen Gesellschaft von ihren Rändern aus. Die Menschen, die die suchenden Schriftsteller interessieren, sind die Tramper, die Hobos, die Saisonarbeiter, die Dienstmädchen, die Matrosen, die Einwanderer, die Straffälligen und Wahnsinnigen, die »Gebrüder Leichtfuß«.

»›Alles ist ein Spaß, Mann!‹« (S. 195)

»Zieht euch das rein!« ist ein refrainartiger Ausspruch Neals; die Aufforderung, das Leben aufzusaugen und durch die Augen der interessanten und von ihnen. romantisierten Randfiguren zu sehen. »Denn wir kennen die Zeit« – auch eine typische Neal-Argumentation, die eine Ahnung zu benennen scheint, die die Beat-Freunde von dem Rest der Welt hervorhebt und in ihrer Andersartigkeit das Gute, Schöne und Wahre vermutet.

»Alles seit den Griechen hat sich als falsch erwiesen« (S. 172)

Denn Neal und seine Reisegefährten haben längst ihre eigenen Theorien, was das Innerste der Welt und das Wie des Lebens angeht. Gott finden sie in der Süße und dem Schmerz der Tage, die bloße Existenz von Hoffnung muss für sie Nietzsche widerlegen. Doch besonders Jack verdunkelt das Licht der hedonistischen Sinnsuche. Er ist feiger, zurückhaltender, schaut Neals Wahnsinn lediglich zu, lässt sich mitschleppen, ihm widerstrebt so manches, was Neal verzapft und der Leser fragt sich nicht nur einmal, warum dieser ewige Mitläufer, in seiner Passivität gefangen, überhaupt noch am Start ist und warum er alles verzeiht. Jack ist nämlich, anders als Neal, auf der Straße, weil er von einem »Fremden« getrieben wird, dem Tod.

»Irgendwas, irgendwer, irgendein Geist verfolgte uns alle durch die Wüste des Lebens und holte uns unweigerlich ein, bevor wir den Himmel erreichten.« (S. 177)

Die zahllosen Reisen der Freunde sind also nicht nur auf ein zauberhaftes Ziel vor ihnen gerichtet – verbunden mit einer total empfundenen Freiheit und dem Wunsch, das reine Leben auszuloten –, sondern auch eine Fluchtbewegung mit ängstlichem Blick zurück. Denn immer ruft das unbestimmte Fernweh, wenn im Hier und Jetzt alles den Bach runtergegangen ist oder Ernst und Verantwortungsgefühl fordern könnte. Egoistisch und feige lassen die beiden immer und immer wieder alle(s) hinter sich zurück.

»Hinter ihm qualmten verkohlte Ruinen.« (S. 369)

Ziel- und orientierungslos werden sie immer wieder in den Küstenstädten Amerikas angespült. Dort, wo die Straße und der Kontinent zu Ende sind, soll auch ihr Zweifeln ein Ende finden. Sich der Zeit und des Ortes enthoben zu fühlen, ein Zustand, den Jack als seine gesuchte Ekstase erkennt und der ihm das Gefühl gibt, dem Tod entronnen zu sein. Doch ob Ekstase mehr oder weniger bedeutet als glücklich zu sein, da sind sich die beiden nicht sicher. Wahrscheinlich beides.

»Die Straße ist das Leben« (S. 295)

Und alle Umwege müssen genommen werden, es gibt keine Abkürzungen. Die beiden Freunde bezahlen den »Preis der Nacht«. Um einige Erfahrungen, Erinnerungen und Epiphanien reicher, wirken sie zum Romanende doch ausgebrannt und resigniert. Ihr intensives Leben war zerstörerisch und hat seinen Tribut gefordert. Und auch wenn Neal auf den letzten Buchseiten nicht einmal mehr richtig sprechen kann, wird Jacks Wunschbild von ihm, die Legende Neal, immer glänzender.

Frauen sind bewegungseingeschränkter…

»In der ganzen Welt, in den mexikanischen Dschungeln, in den dunklen Gassen von Shanghai und den Cocktailbars von New York betrinken sich die Männer, während die Frauen mit den Kindern der sich verdunkelnden Zukunft zu Hause bleiben. Wenn diese Männer einst die Maschine anhalten und nach Hause kommen ­­– niederknien – um Vergebung bitten – und die Frauen sie segnen, wird plötzlich Friede auf Erden herrschen und eine große Stille wie die der Apokalypse innewohnende.«  (S. 174f.)

Und obwohl Jack und Neal das proklamieren, gehören sie zu eben jenen Männern, die ihren Spaß am Boden einer Flasche suchen und Verantwortung, Kinder und Frau ohne groß zu überlegen zurücklassen, um ihren spirituellen Reisen und dem süßen Leben in den Betten und Bars des ganzen Landes zu frönen. Das Unterwegssein, das heilige Leben auf der philosophieträchtigen Straße scheint eben doch einzig der männlichen Krönung unserer Spezies vorbehalten. Die schöne Louanne, Neals zweite Frau, ist die einzige, die es für eine Weile mit in das von Neal auf Höchstgeschwindigkeit gepeitschte Auto schafft. Und bezeichnenderweise ist es auch Louanne, von der sich unsere Protagonisten und die Erzählung abwenden und sie als Hure beschimpfen, weil sie sich demselben Lebensstil hingab, den die beiden Protagonisten geheiligt haben. Auf eine frauenfeindliche und oberflächliche Haltung wird der Leser leider immer mal wieder gestoßen, auch wenn er sich im Milieu der intellektuellen Außenseiter befindet.

So ist es auch bezeichnend, dass sie mit Mexiko den Zauber am Ende der Reise gefunden zu haben meinen. Mexiko ist für sie die Puffstadt mit den abgestürzten Kinderprostituierten und die von Armut und Einfachheit gezeichnete Dschungellandschaft und die krankmachende Kapitale Mexiko City. Konsequent romantisiert wird das harte Leben der Armen und Benachteiligten, der unterdrückten Minderheiten, deshalb haftet allem, und besonders dem Romanende, auch eine spezifische Melancholie an.

Speed als Imperativ – Bewegung und Geschwindigkeit

Genauso atemlos und manisch, wie die Reisen, von denen erzählt wird, hat Jack Kerouac die Geschichte auch zu Papier gebracht. In zwanzig Tagen hat er mit seiner Schreibmaschine im Speed-Rausch ein 40 Meter langes Manuskript hervorgebracht, das sich auf dem Boden wie eine Straße entrollte. Strukturell und sprachlich spiegelt der Roman das ebenfalls wider. »On the Road« liest sich wie ein konstanter, manischer Wortschwall, es gibt nicht einen einzigen Absatz und keine Kapitel. Zur Gliederung dienen lediglich Abschnitte, die jeweils eine Reise umfassen und die Kerouac mit »Buch Eins« bis »Buch Fünf« betitelt.

Die Sprache, die Kerouac für sich findet, ist experimentell und virtuos. Sie ist lebensnah, intensiv, manisch, poetisch, berührend, strebt nach Nähe und Authentizität. Sie pendelt zwischen rohem Gefühl und feinem Intellekt. Wortneuschöpfungen, Abkürzungen, Slang und ein ganz eigenes Vokabular und Bilderrepertoire geben dem Romanklassiker eine sehr individuelle Färbung. Seitenweise werden Trance- und Ekstasezustände im Einfluss der Jazz-, Mambo- und Bop-Musik in Lautmalereien geschildert. Und auch intelligente und wunderschöne Beschreibungen und Situationen weiß der Autor zu erzeugen, von regnerischen Nächten, dem Mississippi, auf dem Autodach mitten im mexikanischen Dickicht. Der Roman hat seinen eigenen Soundtrack und erweckt die Ära der Jazz- und Soul-Keller wieder zum Leben. Kerouac schafft es mit dieser Erzählung, starke und nachhallende Schwingungen im Leser zu erzeugen, ein im wahrsten Sinne des Wortes denkwürdiger Roman.

Doch teilweise habe ich die knapp 450 Seiten auch als langatmig und repetitiv empfunden, was natürlich an der Rohheit der Urfassung liegt, die unbearbeitet ist, nach unseren Lesegewohnheiten aber hier und da Straffungen und Streichungen vertragen hätte.

Zu der Entstehungs- und Publikationsgeschichte möchte ich hier aber keine vielen Worte verlieren. Nur so viel: Es entstanden zahlreiche Versionen der Road-Geschichte und die zu Lebzeiten Kerouacs publizierte Druckversion war stark überarbeitet und gekürzt. Grund dafür sind sowohl Kerouacs Kampf um den richtigen Schreibstil, als auch absatzfördernde Maßnahmen wie die Streichung von Obszönitäten und Stellen, die Verleumdungsklagen provozieren könnten. Die rekonstruierte Urfassung wurde erst gut 50 Jahre später publiziert und ist deutlich wilder und unmittelbarer. Sie ist diejenige, die ich gelesen habe und ans Herz legen möchte.

Das Fazit

Ein Reiseroman wie ein Paukenschlag

Jack Kerouacs war die Gallionsfigur einer »Beat«- oder »Hipster«-Gegenbewegung, die noch heute fasziniert und »On the Road« ist ein Schlüsseltext zu seinem gesamten Werk. Der Roman ist deutlich autobiographisch und verarbeitet unzählige Tagebucheinträge Kerouacs, und doch ist er natürlich als Verschmelzung von Dichtung und Wahrheit anzusehen. Die Sehnsucht und Faszination der Straße ist bis heute ungebrochen: Die Vorstellung, dass »Es« da draußen irgendwo auf einen wartet –Selbstverwirklichung, Hoffnung, Glaube, Gott – dieses Befreiungspotenzial einer der größten und bedeutungsschwersten Metaphern macht Kerouacs Roman unwiderstehlich. Die Rebellen der »Beat-Generation« wachsen einem ans Herz und innerlich jubelt man mit ihnen. Dabei verliert der Roman aber auch eine bittere, deprimierende Note niemals ganz. Jack und Neals Hin und Her ist beunruhigend extrem und steuert kontinuierlich auf eine Lebensmüdigkeit zu. Die beiden scheinen nicht dazu zu lernen oder sich einfach gegenseitig nicht zur Ruhe kommen lassen zu können. Sie sind ewige Kindsköpfe, dazu verdammt, Suchende zu bleiben, denn sie können »Es« nicht finden und verlieren sich auf ihrer Reise dahin.

»On the Road« von Jack Kerouac ist ein Klassiker, der 1951 entstand. Die neu rekonstruierte Urfassung erschien 2011 in Deutschland beim Rowohlt-Verlag auf 575 Seiten (inklusive Nachworte) und kostet 9,99€.

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