Alle Artikel mit dem Schlagwort: Sachbuch

Katja Lewina begibt sich ins fremde Gehege – »Bock« erzählt Bettgeschichten aus Männersicht

Wann ist der Mann ein Mann? Nach »Sie hat Bock« jetzt schlicht und einfach »Bock«. Purer Animalismus. Was halten sie vom Sex und welchen haben sie, die Männers? Die Sexbloggerin ist zwar keiner, aber über Sex weiß sie eine ganze Menge, wie sie in ihrem ersten Buch bereits unter Beweis gestellt hat, besonders wenn es darum geht, wie Sex mit Macht, Patriarchat und Küchenarbeit zusammenhängt. Sie hat mit einigen Exemplaren gesprochen, mit Psychologen, Paartherapeuten, Urologen, Philosophen, trans-Männern, Orgasmus-Coaches und mit ganz durchschnittlichen Kerlen. Brauchen Männer Sex wirklich dringender und warum überhaupt diese Schwanzfixiertheit? Hat der Porno uns alle versaut? Und warum wird der Sex in einer Langzeitbeziehung unweigerlich weniger? Vom Baby bis zum Greis betrachtet Katja Lewina einen Prototyp-Mann und wirft einen kritischen – und manchmal auch versöhnlichen – Blick auf Männlichkeitsbilder. »Eine Sexualität, die dem:der Partner:in nicht gehört – von dieser Idee sind die meisten von uns so weit weg wie ein Leberwurstbrot vom Grill Royale.« (163)     Boys Don’t Cry Machismo, Kastrationsangst, toxische Männlichkeit, Alte Weiße Männer, Male Gaze, Homophobie, Misogynie, Rape …

Nina Kunz denkt »Ich denk, ich denk zu viel«

Habt ihr hier auch gleich den Song von Christian French im Ohr? So oder so spricht dieser Buchtitel wohl vielen aus der Seele. Alles nur in deinem Kopf »Mein Gehirn fühlt sich immer so an, als wären zehn Tabs gleichzeitig offen.« (57) Nina Kunz schreibt in »Ich denk, ich denk zu viel« aus der Perspektive einer mitteilungsbedürftigen, hypochondrischen Nerdin, dessen beste Freundin ihre Oma ist und mit der man sich augenblicklich gemein macht. Angenehm ist dabei, dass die Zürcherin nicht wie so viele vor ihr postwendend die nihilistische Generation, den neuen Zeitgeist der ausgebrannten Postmoderne ausruft. In kurzen, sehr persönlichen Anekdoten und Ãœberlegungen interessiert sie sich neben gesellschaftlichen Phänomenen auch für Sprachfeinheiten.   Weltschmerz: Die drei großen S »Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. (…) Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich doch all diese Privilegien hab. Ich schrieb über die Angst, das Leben online zu vergeuden, über die absurde Ãœberidentifizierung mit meinem Job, Identitätsfragen, die Suche nach meinem Vater, den …

»Unfog Your Mind« empfiehlt Leander Greitemann gegen Mindfuck, Mindfog und Co.

Als Wolkenfänger gegen den Nebel vorgehen Ratgeber kommen uns äußerst selten in die Tüte… Dieses herrlich gestaltete Sachbuch vom selbsternannten „Live-Philosophen“ Leander Greitemann dagegen, hat uns neugierig gemacht. Wie umgehen mit dem Nebel in unseren Köpfen, der uns die Gedanken und Tage verhagelt? Achtsamkeit, Mindfulness – das ist was für Yoga-Tanten? Weit gefehlt. Denn in »Unfog Your Mind« erzählt Greitemann nicht nur äußerst humorig und zum Bersten – fast schon manisch – gefüllt mit Wortwitz und Sprachspielen von den Tiefschlägen, Sackgassen und Arschlochtagen im Leben, sondern gibt auch eine Menge Tipps, Life-Hacks, Lektüreanregungen und simpler Experimente zum Nachmachen und Besserwerden. »Haben oder Sein?«, das ist hier die Frage In 20 Kapiteln geht er verschiedenen Aspekten typischer Alltagsprobleme mit sich selbst und anderen nach, umkreist dabei aber immer wieder dieselben Kernaussagen seiner Philosophie: »Unfog Your Mind« ist ein Aufruf, in Zukunft etwas mutiger zu sein und Sachen anders, neu zu machen. Dabei gibt er gute Tipps an die Hand, wie man Angst, Zweifel und Wut, die einen daran hindern, überwinden kann. Oder wie er selbst es …

Liv Strömquist »Ich fühl’s nicht«

Die Liebe in Zeiten von Leistungsgesellschaft, Marktwert und Selbstoptimierung Wir Disney-Geschädigten Tinder-User*innen mit Angst vor Schmerz, Enttäuschung, Langeweile, vor WAS FESTEM, haben das DiCaprio-Syndrom, meint Liv Strömquist. Der gute Leo wechselt seine Freundinnen, allesamt Anfang 20-jährige Bikini-Models, wie seine Socken. Er fühlt nichts. »Leonardo DiCaprio ist irgendwie wie eine lauwarme Herdplatte, die das Wasser nie richtig zum Kochen bringt.« (10) An sich kann man natürlich kaum etwas dagegen einwenden, dass Autonomie, Freiheit und Wahlmöglichkeit gerade für Frauen seit den letzten hundert Jahren stark zugenommen haben. Niemand muss in der Regel mehr heiraten, um versorgt zu sein, niemand muss ungewollt schwanger werden und der Sozialstaat unterstützt Alleinerziehende. Aber wollen wir deshalb gleich ganz aufhören zu lieben?   »Wir sind alle DiCaprio« (12) Das Gefühl sich zu verlieben ist laut Soziolog*innen und Philosoph*innen in der heutigen Zeit sehr selten geworden. Warum ist das so? Strömquist bietet eine Reihe von Erklärungsversuchen. #1 – Der Spätkapitalismus hat uns zu gierigen, selbstbezogenen Narzisst*innen gemacht, die Menschen konsumieren, aber keine festen Bindungen mit Verantwortung eingehen wollen. Abwechslung, Abenteuer, Action ohne Gefühle …

Katja Lewina »Sie hat Bock«!

Ȇberraschung! Frauen wollen auch ficken.« (35) Katja Lewina ist Sex-Bloggerin, bisexuell und lebt in offener Ehe – vor allem aber schreibt sie sehr unterhaltsam über das Patriarchat, Sexismus und mögliche Lösungen. Sie beschäftigt sich mit Themen wie dem weiblichen Genital, Lust und Orgasmus, Schönheitsansprüchen, Rollenzuschreibungen, Single-, Fat-, Victim- und Slut-Shaming, Rape Culture, Prostitution, Porno und Unterwerfung, dem Ideal der Monogamie oder wie Laurie Penny es nennt »Alles mit Einem für immer«, #metoo, »Ja heißt Ja« und der Deutungshoheit über die Geschlechter. Dabei beweist sie nicht nur einen wachen Blick und eine fundierte Kenntnis der feministischen Literatur, sondern trumpft vor allem mit einem sehr persönlichen, energiegeladenen, frechen Sound auf. Auf angenehme Art flechtet sie zu jedem Unterthema eine Anekdote aus ihrer Vergangenheit ein und verleiht dem essayistischen Manifest so auch eine erzählerische Qualität. Wovon reden wir eigentlich? Bei der Benennung fängt das Schlamassel ja schon an. Für das weibliche Genital gibt es kein Wort, mit dem wir uns wirklich wohl fühlen würden. Muschi, Pussy, Mumu, Möse? Alles Käse. Eine Scheide, die dadurch definiert ist, ein Behältnis …

Theresa Lachner frönt dem »Lvstprinzip«

»Theresa Lachner hat eine entwaffnend offene Biografie ihres Begehrens geschrieben.« – Meredith Haaf In ihrer tagebuchartigen Sammlung von Blogeinträgen schreibt Theresa über sich. Ãœber ihre Reisen als Bloggerin und Sexjournalistin, über private Erfahrungen mit Sex und Liebe, über Lust, Körperlichkeit, Selbstermächtigung und vor allem über Ehrlichkeit. Denn wenn wir es schaffen, sehr viel offener mit diesen Themen umzugehen, könnten wir alle freier, und vielleicht sogar glücklicher sein. Also fängt sie gleich mal damit an. »Freiheit ist das Recht, nicht zu lügen, hat Camus mal gesagt. Für mich ist Schreiben die beste Art, diese Freiheit auszuleben. Und deswegen liebe ich es auch, über Sex zu schreiben. Das ist nämlich ein Thema, das meiner Meinung nach noch extrem viel Wahrheit vertragen kann. (…) Genau das passiert nämlich, wenn man von seiner Freiheit, nicht zu lügen, Gebrauch macht: Ehrlichkeit multipliziert sich. Me too, me too, me too.« (9) »Ab jetzt bin ich offiziell gut genug. Und zwar aus Prinzip.« (202) Frauen scheinen irgendwie immer ›zu‹ oder ›nicht genug‹ irgendwas zu sein, aber wie fühlt man sich genau richtig? …

Virginie Despentes‘ »King Kong Theorie«

»Als Frau bin ich eher King Kong als Kate Moss.« (10) Schon 2006 schrieb die französische Erfolgsschriftstellerin ihren autobiografischen Essay »King Kong Theorie«, eine provokante Streitschrift über Geschlechterrollen, Sexismus und die Freiheit der Unangepasstheit, durchdekliniert an den Erfahrungen der Autorin als Vergewaltigungsopfer, Prostituierte und Pornofilmerin. Nun wurde ihr wütendes Statement neu übersetzt und findet sich zwar in einer Zeit der #Me-too-Debatte wieder, in der Themen der Geschlechterungleichheit und der sexuellen Ãœbergriffe zwar öffentlich Gehör finden, sich im Alltag und den sozialen Strukturen praktisch aber noch immer nicht viel verändert hat. »Ich habe eine Möse mitten in der Fresse« (119) »Und ich sage gleich, damit das klar ist: Ich entschuldige mich für nichts und ich werde nicht jammern. Ich würde meinen Platz gegen keinen anderen tauschen, denn Virginie Despentes zu sein, finde ich viel spannender als alles andere.« (9) Virginie Despentes ist in diesem schmalen Heft vor allem laut, mutig und wütend. Sie schreibt gegen Zwänge und Vorverurteilung an, und das auf ihre Art: direkt, schonungslos, vulgär, sich selbst als »Proletin der Weiblichkeit« (10) begreifend, als …

Reni Eddo-Lodge »Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche«

»Dieses Buch ist ein Versuch zu sprechen.« (S. 18) 3 Jahre nachdem die britische Journalistin Reni Eddo-Lodge ihre Absage zum Gesprächsthema Rassismus via Blogeintrag gab, erschien 2017 ihr Buch »Why I’m no longer talking to white people about race«. Konträr zu ihrem eigentlichen Vorhaben, nicht mehr mit Weißen über Hautfarbe und Rassismus diskutieren zu wollen, entwickelt sich ihr Buch zu einer Gesprächseinladung. Eine Lektüre über die frustrierende Erfahrung mit Colour-Blindness, White Privilege und einem strukturellen Rassismus, eine Lektüre, die die weiße Welt neu beleuchtet und vor allem eines ist: schmerzhaft. In Zeiten von Trump, Brexit und europaweitem Rechtsruck ist ein Austausch zu diesem Thema dringender denn je. Also sprechen wir! »Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Rassismus nicht aus dem Nichts entsteht, sondern dass er vielmehr in der britischen Gesellschaft verankert ist. Er steckt im Kern unserer staatlichen Strukturen. Er ist nichts Externes. Er ist Teil des Systems.« (S. 69) Renis Basis ist ein Exkurs zur Geschichte der Schwarzen bzw. People of Colour* in Großbritannien, um aufzuzeigen, dass Probleme von Migration, Integration und …

Susan Sontag »The Doors und Dosto-
jewski. Das Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott«

»Zu leben ist ein aggressiver Akt.« (S. 62) Ring frei – oder besser Salon frei für eine große Denkerin! Susan Sontag, 1933 bis 2004, war eine amerikanische Schriftstellerin, Essayistin, Publizistin und Regisseurin, die vor allem als Kritikerin der gesellschaftlichen Verhältnisse im Gedächtnis geblieben ist und sich für Menschenrechte einsetzte. »Unsere Gesellschaft ist auf Nihilismus gegründet – Fernsehen ist Nihilismus. Ich meine, Nihilismus ist keine moderne Erfindung irgendwelcher Avantgarde-Künstler. Es steht im Zentrum unserer Kultur.« (S. 59) 1978 traf sie sich zu einem mehrstündigen bzw. -tägigen Interview in ihren Domizilen in Paris und New York mit Jonathan Cott, einem redaktionellen Mitarbeiter des Rolling Stone, der sie als Dozentin während seines Studiums kennenlernte und den seitdem eine Freundschaft zu ihr verband. Die Idee der Gesprächsreihe »Kampa Salon« – eine interessante Schriftenreihe des Kampa Verlags mit grandiosen Covern – ist es, einen leichten Zugang zum gehaltvollen Werk großer DenkerInnen und Literaten zu ermöglichen. Das liegt im Gesprächsformat begründet, das locker, lebendig und abwechslungsreich ist und gut dafür geeignet, Komplexes herunterzubrechen und Ãœberblicke zu gewähren. In diesem Fall allerdings …