Alle Artikel mit dem Schlagwort: Tragikomödie

Andrew Ridker »Die Altruisten«

Der Tod von Francine Alter nach einer Brustkrebserkrankung bringt das Leben ihrer Familie ziemlich ins Wanken. Immerhin war sie es gewesen, die die exzentrischen Persönlichkeiten zusammengehalten und den Hausfrieden gewahrt hatte. Tochter Maggie verrennt sich zusehends in ihre idealistischen Vorsätze, bricht ihr Studium ab, arbeitet gemeinnützig und unterbezahlt und versagt sich übermäßigen Konsum, was sie bis in eine Essstörung gepaart mit ironischerweise kleptomanischen Zügen treibt. Ihr älterer Bruder Ethan kündigt kurzerhand seinen Job als Unternehmensberater und badet in seiner aufkeimenden Depression, nachdem er sein gesamtes Geld verprasst und sich den Alkohol zum Vertrauten gemacht hat. »Francine hatte selbstlos ihr berufliches Weiterkommen für die Erhaltung ihrer Familie geopfert – für die sie als Vermittlerin, Schlichterin und Friedenswahrerin fungiert hatte. Sie war für Maggie zugleich Vorbild und abschreckendes Beispiel. Eine Fallstudie darüber, was von Frauen erwartet wurde und was sie aufgeben mussten, um dem gerecht zu werden.« (72) »Zwischen Selbstverachtung und Selbstsucht war es nur ein schmaler Grat.« (51) Doch besonders hart trifft es Francines Ehemann Arthur. Ein Versager wie er im Buche steht. Jahr für Jahr …

Matthias Brandt »Blackbird«

In einer namenlosen Kleinstadt in den 70ern, zu Zeiten von Wehrpflicht, David Bowie und dem weißen Album der Beatles, gerät das Leben des 15-jährigen Morten, genannt Motte, durch gleich mehrere große Erschütterungen aus den Fugen. Ernsthaft jetzt?! Egal. Mir reicht das hier jetzt auch. Bei Mottes bestem Freund Bogi – eigentlich Manfred Schnellstieg, das sagt aber keiner, nicht mal seine Eltern – wurde eine Krankheit entdeckt, die ganz unwirklich klingt: ein Non-Hodgkin-Lymphom, was soll das sein? Was Motte weiß, ist, dass Bogi jetzt für längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss, dass er für alles, was Spaß macht, zu schwach ist und dass er plötzlich nicht mehr weiß, wie er mit seinem Freund reden soll. Ihr letztes richtiges Gespräch vor dem ganzen Krankenhaus-Behandlungs-Albtraum ging übers Fürze-Anzünden, ein Thema, über das Bogi eine Menge weiß, aber das jetzt kaum mehr angemessen scheint. »Jetzt hat sich gerade alles verändert, dachte ich. Ne, dachte ich nicht. Keine Ahnung, was ich wirklich dachte. Vielleicht fragte ich mich auch nur, ob auf dem Sitzsack immer noch mein Abdruck zu sehen war.« …

Angela Lehner »Vater unser«

»Die Irrenanstalt als Naherholungsgebiet« (36) »Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.« (25) Was hat Eva Gruber angestellt, dass sie von der Polizei in die Irrenanstalt gebracht wird? Angela Lehners Debüt, das den Österreichischen Buchpreis 2019 gewinnt, erzählt vom Irrweg einer Familie aus der Sicht der Tochter – eine Geistesgestörte, die man in sein Herz schließt und der man bis zum Schluss nicht ganz trauen kann. »Womit könnte man besser ausdrücken, dass man am Boden der Tatsachen angekommen ist, als mit Plastikboden?« (25) Hat Eva tatsächlich, wie sie sagt, eine ganze Kindergartenklasse erschossen? Der Gedanke drängt sich auf, dass sie ihre Krankengeschichte frisiert, um in das Wiener Spital für psychisch Kranke aufgenommen zu werden, in dem auch ihr kleiner Bruder Bernhard wegen seiner Essstörung und Angstzustände lebt. Und was ist zwischen den beiden Geschwistern vorgefallen, dass Bernhard ihre Fürsorge und Nähe als Bedrohung betrachtet? »Bernhard ist der einzige Mensch, dessen Furcht für …

Anika Decker & Katja Riemann »Wir von der anderen Seite«

Als Rahel, selbstständige Drehbuchautorin, auf der Intensivstation erwacht, hat sich alles geändert – sie sieht aus wie Mister Burns von »Den Simpsons«, abgemagert, mit gelblicher Haut, gebeugt und schwach – doch zum Glück hat sie ihren Humor nicht verloren. Und trotzdem lässt sich dieses Erlebnis nicht einfach vergessen. Wie soll man weitermachen, wenn Körper und Geist nur langsam gesunden und das alte Leben erschreckend weit weg scheint? Kann eine Liebe dieser Belastung standhalten? Anika Decker ist erfolgreiche Drehbuchautorin, bekannt geworden ist sie gleich mit ihrem Drehbuchdebüt »Keinohrhasen«. Ihr erster Roman umkreist nun in autobiografischer Anlehnung das Schicksal der jungen Rahel, deren Nierenstein an Weihnachten zu einer Blutvergiftung mit anschließendem Mulitorganversagen führte. Der einzige medizinische Ausweg: künstliches Koma. Drei Monate wird sie im Krankenhaus bleiben müssen, so stark geschwächt, dass Klo- und Spaziergänge zu epochalen Anstrengungen werden. Doch auch in der anschließenden Reha und der Rückkehr nach Hause wird es nicht einfacher. »Wir von der anderen Seite« erzählt von ihrem Versuch ins alte Leben zurückzukehren. Anika Decker schreibt schreiend komisch und herzzerreißend traurig vom schweren Weg …

Julia Bernhard »Wie gut, dass wir
darüber geredet haben«

»Gesellschaft ist toll, wenn nur all die Leute nicht wären.« – Peter Licht, Das Ende der Beschwerde Das vorangestellte Motto fasst gut zusammen, worum es in Julia Bernhards Debüt geht: »all die Leute« setzen der namenlosen Protagonistin und Illustrationsstudentin (»Frollein« genannt) ganz schön zu… Der Comic liefert eine lose Sammlung von kurzen Moment- und Bestandsaufnahmen. Lakonisch erzählte Episoden, alltägliche und aberwitzige Anekdoten aus einem chaotischen Leben und am Ende sitzt das Frollein immer allein auf ihrem Sofa, bis sie schließlich hineinkriecht und eins wird mit diesem besten Begleiter unter den Einrichtungsgegenständen. – Eine Hymne des Schlendrians und der gescheiterten Kommunikation, über die gnadenlosen Kommentator*innen eines Lebens und einen noch gnadenloseren diarrhöischen Mops. »Eigentlich sucht man doch nur jemanden, der nicht aus Mitleid weint, wenn man sich vor ihm auszieht.« (78)   Vom ganz alltäglichen Wahnsinn Julia Bernhard erzählt aus einem Leben, in dem es Allerlei gibt, womit sich eine (Single-) Frau, eine Almostthirty so herumschlagen muss: mit einer Oma, die wissen will, wann es mit der Familiengründung endlich losgeht (»Die Eier werden ja auch nicht …

Kristin Höller – Hier ist es »Schöner als überall«

Dieses Autorinnendebut ist die Coming-of-Age-Geschichte zweier Anfang Zwanziger, deren Lebensentwürfe und Freundschaft in eine Krise geraten und die nach Antworten suchen in ihrem Heimatort. »Es ist eine komische Gegend hier. Wir sind nicht auf dem Land, dafür ist zu viel Beton überall, wir sind nicht in der Stadt, denn hier ist ja nichts, wir sind irgendwo dazwischen, wo man nirgends hinkommt ohne Auto, eine Zwischengegend. Hier wohnen Menschen, die in der Stadt arbeiten und im Grünen leben wollen, aber weit genug rausgetraut haben sie sich nicht. So grün ist es nämlich gar nicht, dafür alles verkehrsberuhigt und flach, und man kann von überall aus sehr weit sehen.« (23) Auslöser ist ein Speer, genauer gesagt der bronzene Speer der Athene-Statue vom Münchner Königsplatz, der zur Trophäe einer übermütigen Partynacht wird, zum Beweis ihrer Jugend, Wildheit und Lebendigkeit. Doch allzu schnell merken die beiden Freunde Martin und Noah, dass das keine gute Idee war. Dass das Diebesgut verschwinden muss. Ohne Plan sitzen die zwei auf der Flucht in einem Miettransporter und finden sich schließlich an dem Ort …

Karen Duve »Fräulein Nettes kurzer Sommer«

Ein Biopic der anderen Art Es wurde schon vieles gesagt über diesen preisgekrönten Historienroman, der beweist, dass Karen Duve wirklich jedes Genre beherrscht. Sie wagt sich an niemand geringeres als Annette von Droste-Hülshoff, flächendeckende Schullektüre seit Jahrzehnten. Im Mittelpunkt dieses Biopics der gerade einmal Anfang zwanzigjährigen Dichterin steht eine unerhörte Begebenheit, wie sie für Novellen konstitutiv sind, nur das sich diese zu einem 600 Seiten schweren Roman auswächst, der fünf Jahre aus dem Leben der Nette beleuchtet und bei dem jede einzelne Seite vom großen Spaß der Autorin am Schreiben kündet. Diese zentrale Tragödie, die am Ende niemanden unbeschadet hervorgehen lässt, ist eingebettet in ein detailreiches und gnadenlos enthüllendes Sittengemälde, eine historisch genaue Epochenschau. »Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Bökerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln. Nur wenige Hinweise sind vorhanden.« (Vorwort, 7) Sehr gewissenhaft recherchiert Duve – sie vergleicht sich selbst mit einer Profilerin – aus einer schier unglaublichen Fülle an Archivmaterial, Briefen, Tagebüchern, Familienchroniken; im Anhang des Romans werden etwa 200 Referenztexte der Sekundärliteratur aufgelistet. Diese Recherche-Akkuratesse setzt sie gekonnt um, sodass …

Sarah Kuttner kennt ‘nen »Kurt«

»Also habe ich jetzt ein Haus und zwei Kurts. Im Grunde wie Pippi Langstrumpf.« (S. 46) Sehr treffsicher legt die lässige TV-Moderatorin Sarah Kuttner mit »Kurt« eine tragische Familiengeschichte vor, die ins Herz trifft, ohne je Gefahr zu laufen, ins Feld des Kitsches abzurutschen. Zwar nimmt sie sich des schweren Themas der Trauerbewältigung nach dem plötzlichen Tod eines nahestehenden Familienmitglieds sehr einfühlsam an, dabei erzählt sie aber auch augenzwinkernd und leichtfüßig. Man verliebt sich während der Lektüre zwangsläufig in Kurt, den großen und den kleinen, und dann gleich in diese ganze Truppe aus coolen, albernen, herzenswarmen Oranienburgern, was die Tragödie umso schwerer macht. Ãœberwältigend und entwaffnend schön erzählt die Autorin so viel auf so kleinem Raum und vermeidet dabei gekonnt Kitsch und Pathetisches.   Alles Kurt! »Ich bin mit zwei Kurts zusammengezogen. Einem ganzen Kurt und einem Halbtags-Kurt. (…) Jana und Kurt haben sich entschieden, dass sie ihr Sorgerecht teilen, vor allem wenn Kurt schon extra aufs Land zieht. Und so pendelt das Kind nun wochenweise zwischen seinen beiden Oranienburger Zuhauses hin und her (…): …

Lucy Fricke schafft ein Monument für uns »Töchter«

Kann man seine Vergangenheit ablegen und hinter sich lassen? »›Ich wollte zum Grab meines Vaters.‹ ›Dein Vater ist tot?‹ ›Nicht der. Der andere.‹ ›Du hast so viele Väter, dass ich nie weiß, von welchem du sprichst.‹ Martha übertrieb. Es gab im Wesentlichen nur drei. Den guten, auch genannt Der Posaunist, den bösen, auch genannt Das Schwein, und den leiblichen, genannt Der Jochen.« (S. 18) Betty ist 40 und in ihrem Leben in eine Sackgasse geraten. Enttäuscht von den Männern ist sie, seit ihre zahlreichen Väter alle immer nach kurzer Zeit wieder verschwunden sind. Auch als Schriftstellerin ist sie in eine Schaffenskrise geraten und verdient sich im teuren, hippen Berlin-Friedrichshain durch Untermieter etwas Geld dazu, während sie in Auslandsreisen vor ihrer Lebensmisere davonzulaufen versucht. »Wir wohnten durcheinander, wohnten unten und oben bei den Nachbarn, schliefen auf den Sofas, während in unserer eigenen Wohnung die Partytouristen aufs Parkett pinkelten. / Ich finanzierte mich, indem ich aus der Stadt verschwand. Brauchte ich Geld, fuhr ich weg, in Gegenden, die billiger waren als diese, und davon gab es jede …

Virginie Despentes »Das Leben des Vernon Subutex 1«

International gefeiert: die provokante Pro-Sex-Feministin und französische Skandalautorin bzw. -filmemacherin von »Baise-moi – Fick mich«, »Apokalypse, Baby« und »King Kong Theorie«. In Frankreich ist ihre Vernon-Subutex-Trilogie bereits ein Riesenbestseller und Filmvorlage. Despentes liefert einen vielstimmigen politischen Gesellschaftsroman, der moderner Gewalt, Elend und Sehnsucht ein Gesicht verleiht – oder besser viele Gesichter. Der Mann mit dem abgespacten Namen Vernon Subutex ist ein insolventer Ex-Plattenladenbesitzer in Paris, ein Anhänger der analogen alten Welt, Ȇberlebender einer untergegangenen Industrie«. Mit Fünfzig ist für ihn in der heutigen Zeit kein Neuanfang mehr möglich, der Sozialstaat versagt und Vernon ist arbeitslos, pleite und nun auch noch obdachlos. Sein rasanter sozialer Abstieg kommt dem Leser wie Vernon selbst zunächst unwirklich vor. Das Figur gewordene Relikt aus vergangenen Zeiten wollte sich sein Scheitern nicht eingestehen und hat sich so an den Abgrund manövriert. Schaurig und erschreckend zeigt seine Geschichte, wie das Prekariat unbemerkt von allen in einer Parallelgesellschaft lebt. »Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre. Er hat zugesehen, wie alles den Bach runterging, …