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Valerie Fritsch »Herzklappen von Johnson & Johnson«

»Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Schmerzes.« (Nabokov)

Valerie Fritsch wartet mit zarter Sprache im schmalen Büchlein auf, hier wird sehr dicht erzählt, glühend, rührend, sprachlich überwältigend.

In »Herzklappen von Johnson & Johnson« werden schlaglichtartig das Leben von vier Generationen einer Familie beleuchtet, zusammengehalten durch ein transgeneratives Trauma, die Kriegsschuld, die in den Nachkommen auf unterschiedliche Weise fortwirkt. Der Großvater, der den Anstoß für diese Verkettung liefert, muss als junger, verängstigter Soldat in den Zweiten Weltkrieg ziehen und kommt dann als Kriegsgefangener in ein russisches Kohleschacht-Arbeitslager, wo er Lebenshunger, Zeitgefühl, Glaube und Hoffnung verliert: »Der Krieg war kein guter Ort, Mensch zu sein und Mensch zu bleiben. Und ein unmöglicher für einen Gott.« (43)

»Er stand da am Bahnsteig im Kreis der Spätheimkehrer, ein paar Toterklärte, die noch nichts wussten von ihrem Tod, wie Gespenster in ihrer Mitte, und verstand die Welt nicht mehr, an die sich der Rest bereits wieder gewöhnt hatte, an den Frieden und den neuen Staat. Er war ein Relikt aus einer Zeit, an die man sich mit dem Glockenschlag ihres Endes nicht mehr erinnern wollte. Und während er auf den Straßen verwirrt vor den ersten Denkmälern stand, wurde in den Häusern schon das Vergessen geübt.« (46)

Dieser Hang zum Vergessen und Verschweigen prägt für lange Zeit den Umgang mit dem verlorenen Krieg, dringt ins Innerste der Familien ein. Valerie Fritsch spürt diesen ungeliebten Gefühlen nach, dem Wesen des Schmerzes, der Verletzlichkeit und den Bedingungen von Mitgefühl, sie zeichnet den Umgang mit Schuld und Tod nach, macht die komplexen Auswirkungen von Krieg, Erinnerung und dem Altern sichtbar: »Während Gewalt einfach war, waren ihre Folgen kompliziert und unübersichtlich.« (130)

 

»Sie wusste nur eines: Sie wollte das Schweigen brechen, statt es zu bewahren.« (26)

»Alma wurde die Idee nicht los, dass man für sie Theater spielte. In jedem Zimmer war eine Bühne errichtet für die endlosen Vorstellungen, in denen alle ihr Bestes gaben und stets heimlich enttäuscht davon waren, dass der Applaus für ihre Mühen ausblieb.« (11)

Alma ist ein sensibles, aufgewecktes, ein besonderes Kind, das ihren Großeltern sehr nahesteht und behütet, aber einsam aufwächst. In der kulissenhaften Vorzeigeexistenz der Eltern, die für gewöhnlich miteinander schweigen und nur nachts streiten, neben einer unterwürfigen, pedantischen Mutter, die nie die Kontrolle verliert, außer wenn sie schlafwandelt, wie eine »planetensüchtige« Somnambule, und einem seltsam abwesenden Vater. Lieber ist Alma im Haus ihrer Großeltern. Sie lechzt nach den Geschichten, Geheimnissen, Erklärungen, die ihr von der Familie so vehement verwehrt bleiben, aber noch ist sie zu schüchtern, um diese einzufordern, sie mit Fragen über die Vergangenheit zu bohren. Der schweigsame Großvater, der in einem unaussprechlichen Krieg im russischen Winter zwei seiner Zehen verloren hat, und die Großmutter, eine mondäne, hypochondrische Kettenraucherin, stolz, streng und (aber-)gläubig, die seit Jahren das ihr Grundstück nicht mehr verlassen hat, behüten sie, ohne Antworten zu liefern.

»Noch viele Jahre später erinnerte sich Alma, wie sie an trägen Sonntagnachmittagen die Finger und nackten Zehen der Anwesenden mit einem Reim abzählte und stets ins Stolpern geriet und verwirrt innehielt, wenn sie beim Großvater angekommen war, weil sie an seinem rechten Fuß bloß drei Zehen fand. Dass womöglich nicht nur an dem alten Mann etwas fehlte, aber es überall mehr gab, als man sie sehen ließ, wurde für Alma ein vager Gedanke, ein unbestimmtes Kindheitsgefühl, dem sie sich nicht entziehen konnte.« (10)

Auf ihre zögerlichen Fragen erhält Alma nur ausweichende Antworten. Ausreden, Rechtfertigungen, Lügen. Ein brennendes Verlangen, zu erfahren, wie es denn nun wirklich war, nimmt immer stärker Besitz von ihr, in eine nebulöse Vergangenheit verstrickt.

»Seine Geschichte war der Krieg, und sie wurde nur erzählt, wenn es sich nicht vermeiden ließ, hinter vorgehaltener Hand, in ritualisierter Form, einer verdrehten Chronik folgend. Sie klang immer falsch und war so verwirrend, dass man die Opfer und die Täter verwechseln konnte und die Tage- mit den Geschichtsbüchern, wenn man nicht scharf mitdachte. Seine Geschichte begann mal hier und mal dort und klang, als wäre der Großvater kein aktiver Teil davon gewesen, als wäre ihm der Krieg, der immer noch nicht richtig zu Ende schien, bloß zugestoßen.« (16)

Dagegen ist Alma eigentlich am Extremen interessiert, wo ihre Eltern doch so blass-bieder sind und Wert darauf legen, unauffällig zu sein. »Während die Eltern das eigene Ich so klein hielten, dass man es mitunter übersah, war Alma fasziniert vom großen Exzess, der nackten, nervösen Existenz, unterschied nicht zwischen dem Furchtbaren und dem Schönen und fand, dass alles, was geschah, eine berechtigte Funktion habe in der Welt.« (20) Die Lebenslügen der Eltern, das phrasenhafte, einstudierte, belanglose Zusammenleben frustriert sie mehr und mehr.

Und das Schweigen ihrer Vorfahren hindert sie nicht daran, sich die Kriegserlebnisse einzuverleiben, die Erfahrungen von Bomben und Hunger, Angst und Schuld belasten auch ihre Knochen. Es tobt ein Schattenkrieg, der auf der Welt aber nicht in den Menschen zu Ende gegangen ist. Ihr Ich stellt Alma sich »als komplizierte Rechnung mit den Toten und Lebenden als Variablen vor« (25). Alles hängt zusammen. So sehr sie an der Wahrheit des Krieges interessiert ist, so sehr begeistert sie sich auch für schillernde Fiktionen, bunte Gegenwelten, die sie in Zeichnungen festhält. Almas ruhelose, überbordende Fantasie wird von der Autorin in fantastische Bilder gefasst.

 

What Yesterday Brings

Mit beginnender Demenz fängt die Großmutter dann schließlich doch an, der erwachsenen Alma die Geschichten des Krieges zu erzählen, die der aufbrechenden Soldaten und der flehend Zurückbleibenden. Unbarmherzig erzählt sie auf ihre alten Tage von den Schrecken der Vergangenheit, von den Erlebnissen ihres Mannes, über ihn, fast manisch protokolliert sie Schuld und Mord – große und kleine Vergehen. »So hartnäckig er sich der Pflicht entzog, sich zu erinnern, so vehement tat es die Großmutter an seiner statt.« (63)

»Sie fühlte sich der Loyalitätsidee der Familie nicht länger verpflichtet, das Verschweigen war ihr kein Bedürfnis mehr, die Irreführung fremd, sie dachte schnurgerade. Sie verachtete, was der Großvater getan hatte, verurteilte seine Verbrechen, aber schämte sich nicht für sie, nur für die Lügen, die Entschuldigungen, die Rechtfertigungen, die sie ungeschehen machen sollten.« (64)

Alma haucht dieser Vergangenheit in sich neues Leben ein: Sie lässt die »Zeitkapselfremden« Einzug in ihr Leben erhalten, freundet sich nachträglich mit den Figuren aus den Erzählungen der Großmutter an, erbittet ihren Rat. Das Haus der Großeltern wird zum Museum, zum Einmachglas konservierter Vergangenheit, zum Gespensterhort: »Die Verstorbenen waren immer weiter anwesend in diesem Haus, verpflichtet von Erinnerungen, ein gespenstischer Hofstaat, dem man nicht entkam.« (58)

»Die beiden Frauen – Großmutter und Enkelin – kamen sich nah. Ihre Begegnungen waren Spaziergänge im Gedächtnis der einen, die andere war Besucherin im Museum eines verschwindenden Lebens, Gast in einem fremden Schädel voller Geschichten, die ihren Weg bereitet hatten. Manche Kinderfrage und manche Erwachsenenfrage fand eine Antwort. Es reichte für eine späte Liebe.« (65)

Leider bleiben diese Geschichten aus dem Krieg lediglich Hüllen, Platzhalter, Andeutungen – die von der Leserschaft gefüllt werden können.

»Wer keine Ordnung mit sich selbst hielt, eine innere und eine äußere, war verloren gewesen im Lager. Die kasachische Steppe kannte keine Formen außer jener der Leere und jener der Weite, jede andere musste man sich selbst ausdenken.« (38)

Es könnte sich dabei um jeden beliebigen Krieg drehen, auch die Rolle, die der Großvaters darin gespielt hat, bleibt unklar – eine genaue Analyse nach Erlebnissen, Entscheidungen, Moral, Überzeugung und Schuld, nach politischen und ideologischen Standpunkten ist nicht im Interesse der Autorin. Es geht vielmehr um das Pure, Existenzielle, das Menschliche an sich, um Gewalt und Vernichtung, Leid und Furcht. Der Krieg per se als Kollektivsingular.

»Die Russen gingen so grausam mit ihnen um, wie sie mit ihnen umgegangen waren, und manchmal auch nicht. Nur der Zufall beschützte einen in solchen Zeiten, und nie war man sich sicher, ob man ihn verdient hatte.« (39)

 

»Schmerz als eine Art Traurigkeit des Körpers« (116)

An dieser Stelle macht der Roman einen Sprung zu Alma als einer Erwachsenen, einer geschiedenen Illustratorin. Sie ist mit dem melancholischen Fotografen Friedrich zusammen, beide haben sie die Bilder zu ihrem Leben gemacht, und gemeinsam haben sie einen Sohn, Emil, der keinen Schmerz fühlen kann. Während Emil ein Baby ist, helfen die Geschichten aus der Vergangenheit Alma ihre Wochenbettdepression zu überwinden und als schließlich Emils Anomalie entdeckt wird, macht das jeden Tag aufs Neue zur Belastung und Zerreißprobe. Akribisch sucht sie stündlich seinen Körper nach Verletzungen ab und hat eine grauenvolle Angst vor den unsichtbaren, den inneren Wunden, die ihn umbringen können, wenn sie unbemerkt bleiben. »Emils Körper warnte und strafte und beschützte ihn nicht, weil er die Verwundbarkeit des Fleisches nicht kannte, die böse Wirkung der Ursache nicht verstand.» (106)

Eines Tages macht sich die junge Familie auf eine Reise Richtung Russland: Friedrich fotografiert für eine Reportage Ruinen sozialistischer Vergangenheit und Alma wandelt auf den Spuren des Krieges, versucht die Bilder zu den Geschichten ihrer Großmutter zu finden. »Friedrich würde Ruinen suchen und Alma den Großvater.« (141)

In »Herzklappen von Johnson & Johnson« kriegen wir von jemandem erzählt, die von einem Schmerz gezeichnet ist, der nicht ihr eigener ist, und von einem, der nicht mal den eigenen Schmerz spüren kann. Wie aber ist Mitgefühl möglich, wie Moral und Verständnis, wie Angst oder Zärtlichkeit, wenn man nicht spürt, kein Weh, keine Pein, keine Last oder Leid? – Kann man ein Mensch sein, wenn man die Verletzlichkeit, die Todesahnung nicht kennt? Wenn man nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann?

Mit Emil platzt ein Unbelasteter, ein Schmerzloser in die Leidens- und Verfallsgeschichte von Almas Großeltern, die sich nichts mehr wünschen, als ihre körperlichen und seelischen Schmerzen zu vergessen – die Antipoden einer Familiengeschichte. Und auch Alma begreift ihre Rolle in einem Netz aus Verletzungen und Wunden, die über die Generationen hinweg wirken.

 

»Nicht alles endet mit dem Tod.« (135)

Im Ganzen weist der schlanke Roman einen etwas zu starken Hang zu Aufzahlungen und Reihungen auf. Plotfern werden einzelne, lose Szenen aus verschiedenen Figurenperspektiven eingefangen. Immer wieder kreiert Valerie Fritsch wunderschöne kleine Details und hübsche Neologismen, erzeugt einen großartigen Rhythmus und transportiert mit wenig Worten unverschämt viel Gefühl, und auch wenn die großen Geschichten vom Krieg Platzhalter bleiben, ist der Roman ein famoser Denkanstoß, ein Kleinod der Erinnerungskultur und Verarbeitungsappell.

Fritschs Sprache ist überwältigend, einnehmend, entwaffnend. Sie erzählt die Geschichte einer Familie über vier Generationen hinweg aus der Warte eines Organs:

»Die Welt war ein Suchbild, in dem sie nach dem toten Bruder Ausschau hielt, aber wenn sie ihn dann zu Hause sah, auf dem Bild unter dem schwarzen Band, setzte ihr Herz jedes Mal für den Bruchteil einer Sekunde aus, und sie fragte sich, ob man irgendwann, am Ende aller Tage, an den Unregelmäßigkeiten des Herzschlags, an den Arrhythmien des biologischen Metronoms im Körper, das Geheimnis des eigenen Lebens würde ablesen können.« (53)

 

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»Herzklappen von Johnson & Johnson« von Valerie Fritsch umfasst 174 Seiten, erschien am 17.02.2020 bei Suhrkamp und kostet fest gebunden 22,00 €.

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