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»Hier ist es schön« weiß Annika Scheffel

»Hier ist es schön« ist Annika Scheffels dritter Roman und eine Verheißung auf ein Leben in einer intergalaktischen Anderswelt, die mal unerreichbar mal unentrinnbar erschient.

»Das Mars One Projekt war die ursprüngliche Inspiration zu diesem Roman.« (Annika Scheffel)

Die Welt ist nicht genug

Irma Lewyn ist noch ein Teenager, als sie beschließt eine Heldin zu werden und die apokalyptische Züge tragende Erde inklusive aller Menschen, die bisher ihr Leben bestimmt haben, hinter sich zu lassen. Auf einem weit entfernten Planeten soll sie zusammen mit einem zweiten Auserwählten die Menschheit neu auferstehen lassen und so deren Fortbestand sichern. Denn die Welt hierzulande hat sich bereits in einen lebensfeindlichen Ort verwandelt, in karges, unfruchtbares Land, Verfall und Dunkelheit. Doch das ist es nicht, was Irma forttreibt, sie will das Außergewöhnliche, weit weg von durchschnittlichen Lebensentwürfen, von ganz irdischer Langeweile.

Eine zynische, zum Massenspektakel inszenierte Casting-Show, die an Gladiatorenkämpe, an Big Brother auf Leben und Tod, an The Hunger Games erinnert, soll die Auserwählten, die zukünftigen Adam und Eva 2.0, für die gleichermaßen waghalsige wie feige Mission einer Neubesiedelung auf einem fernen Planeten küren. Die Wahl fällt neben Irma auch auf Sam, einen Jungen ohne Vergangenheit und Geschichte, in Unkenntnis von sich und der Welt gelassen, isoliert aufgezogen und anscheinend in einem Kontext aus Menschenversuch und Labor herangezüchtet.

Doch erzählt wird nicht nur von den beiden jungen interstellaren Gesandten, ihren Beweggründen und Vorbereitungen auf die große Mission, sondern vor allem von der Unmöglichkeit der Hinterbliebenen, zu verstehen, zu verzeihen, loszulassen und selbst weiterzumachen.

 

Sie suchen das Meer und greifen nach den Sternen

Und dann kommt alles doch ganz anders, als Sam sich kurzentschlossen aus dem Umfeld der graueneinflößenden, krähenartigen Aufseher flüchtet, mitten hinein in das gefährliche wie spannende Chaos, das sie Welt nennen, ausgestattet mit einer Sternenkarte und dem brennenden Wunsch, nach Antworten auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte und einer mysteriösen Bezugsperson, die auf einer nicht weniger mysteriösen, utopischen letzten Insel warten soll…

»Mehr Erde, mehr Leben, mehr alles als hier gibt es nirgendwo.« (S. 15)

Die beiden begeben sich auf eine sinnlose Reise in öde Tristesse, die schnell zum Überlebenskampf wird und nicht nur Sam schonungslos mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Tschick’scher Roadtrip, zombie-ähnlicher Fanmob und Robinson Crusoe-Insel geben sich hier die Hand und längst ist nicht mehr klar, wer in dieser Geschichte Jäger, wer Gejagter ist. Die Reise ändert alles und bringt den beiden Sternenwanderern die Vorzüge des Irdischen und Menschlichen, der Hoffnung, Selbstbestimmung und Verantwortung – hier und heute – nahe, doch entkommen können sie ihrer Mission nicht.

»Das Wasser schwemmt ein Gefühl von Möglichkeiten an« (S. 190)

Ganz genretypisch bringt der Roadtrip inneren Wandel und führt zu dem Sehnsuchtsort schlechthin: dem Meer im Süden. Und doch wird nichts verkitscht, geht es schließlich um‘s nackte Überleben. Auch die Romantik erhält nicht einfach so Einzug in die Geschichte: wir haben hier ein Protagonistenpärchen, das sich reibt, das Aufflammen einer schwierigen Jugendliebe und eine Mutter, die sich von ihrem einzigen Kind und ihrer Vernunft abwendet.

Scheffel erschafft in »Hier ist es schön« Figuren, die sich nicht so leicht erschließen, die wir bis zum Schluss nicht gänzlich durchschauen oder zu kennen glauben, die überraschen. Irma, der blauhaarige, bebrillte Nerd und die weltgrößte Streberin, sie tragisch und kantig, misstrauisch, trotzig und schwierig und nicht selten unsympathisch erscheint. Und an ihrer Seite dagegen Sam, sensibel und weich, kindlich- naiv, voller Begeisterung für die Welt und ihre Wörter, der neue Ur-Vater einer fernen Menschheit, der sich aber eigentlich mehr von Männern angezogen fühlt.

 

 

»Hallo Welt!«

»Vor dem Fenster winkt ihm die Welt zu. … Vögel am Himmel in Schwärmen, sie ziehen Kreise, die aussehen wie geheime Botschaften. Er kann sie nicht lesen, aber er freut sich, dass sie sich Mühe geben.« (S. 219)

Sam soll Anlass zum Lachen geben in dieser düsteren Weltendgeschichte, ein naiver Spiegel unserer Verhältnisse. Er ist ein Junge, der die Welt und ihre Bewohner nicht versteht, weil er unter künstlichen Bedingungen und ohne soziale Kontakte aufgezogen wurde. Eine Figur, die auf amüsante Weise durch die Welt und ihre Fettnäpfchen stolpert, die von kindlichem Entdeckergeist und Begeisterungsfähigkeit angetrieben wird, die leichtgläubig, entwaffnend herzlich und staunend »hallo Welt« hinausruft. Mithilfe dieser Figur kann Annika Scheffel eine ungewöhnliche, naiv-sympathische Bestandsaufnahme, Verortung, Greifbarmachung von diesem Ding »Welt« in Petit Prince-Tradition vorführen, jedoch geraten die humorigen Stellen, wenn Sam ‚falsch‘ reagiert, meist allzu albern und flach, das intendierte Lachen wird so zum Belächeln.

»Über Raufaser streichen zu können bedeutet, wirklich mitten in der Welt zu sein.« (S. 167)

Das dünne Fazit ihrer Geschichte lässt die Autorin Irma selbst ziehen: Es geht bei der Raumfahrt, bei der Pseudo-Erschließung von Lebensraum auf fremden Planeten, letztlich um die Illusion, die wir brauchen, um mit reinem Gewissen genau wie immer auf der Erde weitermachen zu können, ein göttliches Konzept, das den Menschen Ruhe geben soll und die beiden Auserwählen zu Märtyrern:

»›Sie wollen unbedingt weiterleben. Alle. Aber nicht da oben. Da will keiner hin und schon gar nicht dauerhaft. Nicht mal wir wollen das.‹

›Nein?‹

›Nein. Wir wollen uns nur vorstellen, dass es weitergehen kann. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende lang wollen wir immer so weitermachen. Wenn sich jemand da oben um den Plan B kümmert, können hier unten alle sorgenfrei tun.‹« (S. 342f.)

Die beiden jungen Protagonisten müssen auf ihrer Reise, die in Wirklichkeit die Flucht vor der eigentlichen großen Reise ist, erwachsen werden. Sie bieten eine Art außerirdischen Blick auf die Verhältnisse und lassen sich von der schaurigen Schönheit dieser surrealen Welt faszinieren und doch zum Bleiben überzeugen, auch wenn es für sie kein Entrinnen mehr geben kann und sie so ihrem tragischen Ende auf einer Bohrinsel entgegen gehen.

Diese ungewöhnliche Geschichte präsentiert sich anachronistisch, collagiert und durch eingeschobene Briefe abwechslungsreich und teilweise recht experimentell erzählt. Zwar bildet sich kein so richtig ausgeprägter Stil heraus, doch einige gelungene Stellen und sprachliche Perlen halten einen bei der Stange.

Besonders schwierig und frustrierend: Gründe, Motive und Ziele werden erst sehr spät etwas klarer, häufig bleiben Handlungen schlecht motiviert und werden auch so markiert. Die Figuren in »Hier ist es schön« lügen, manipulieren, misstrauen und irren, sie handeln ohne Gründe oder wider besseres Wissen. Über allen Entwicklungen schwebt die schaurige Vermutung der Inszenierung, eine ins Gegenteil verkehrte Truman Show. Scheffel seziert augenzwinkernd literarische Klischees, reproduziert, widerlegt und kommentiert diese. Mit dieser mit Erwartungen brechenden und einfache Erklärungen verweigernden Haltung trifft sie einen Nerv, aber irritiert den Leser auch grundlegend.

»Es ist nicht schön, es ist nicht so, wie es sein sollte und wie sie es sich vielleicht vor Jahren einmal vorgestellt haben. Beide, knapp aneinander vorbei, nie gleichzeitig, nie richtig.« (S. 219)

Beileibe nicht alle Andeutungen, Vermutungen, Fragen und Stränge werden aufgelöst, keine klare Aussage, kein klarliniger Plot, keine eindeutige Entwicklung, aber ein ungewöhnlicher und aufwühlender Blick auf eine Welt, wie sie vielleicht schon bald sein wird, bietet dieser Roman, der im Ganzen für meinen Geschmack zu fantastisch gerät, zu sehr an ein Jugendbuch erinnert und deutlich zu viele Anspielungen und Vorbilder vermengt.

Fazit

Leider kommen einem die Figuren in »Hier ist es schön« nicht nahe genug, werden nicht recht verständlich, widerstreben der Zuordnung. Dafür zeigt Annika Scheffel ein besonderes Gespür für Emotionen, ein Talent, Gefühlen nachzuspüren und sie in Wörter zu gießen!

Schonungslos wird die unethische Skrupellosigkeit der Menschen vorgeführt, Menschenversuche, Züchtungslabore und die Ausschlachtung der Leben der Missionsprobanden zu medienwirksamen, dramaturgisch gestylten Geschichten, die zu (berechtigten?!) grundlegenden Zweifeln an der Realität führen – Wahrheit wird fingiert, inszeniert, Realität als Material angeeignet und in archetypische Fiktionen integriert, erweitert. Aus der kindlich-trotzigen, sinnlosen Flucht der beiden Auserwählten wird der existenzielle Versuch, sich ihre Entscheidungsfreiheit, Unabhängigkeit und Würde, ihre Mündigkeit zurück zu erkämpfen.

»wir haben den Himmel mit der Welt verwechselt.« (S. 390)

Leider tauchen in Annika Scheffels Roman aber immer wieder Unstimmigkeiten und Absurditäten wie einbeinige Flamingos auf Bohrinseln auf und der Grundton einer Kinderstimme mit naiven Formulierungen trägt für mich die Geschichte nicht. Dazu übertreibt die Autorin es mit flachen Metakommentaren, dem Spiel mit Genreelementen und -erwartungen. Nein, das Leben – und auch das von literarischen Figuren – ist nicht wie im Film, es liefert keine Antworten, keine Gerechtigkeit und Schönheit, Kreise sind nicht dazu da, um sich an einem dramatischen Wendepunkt zu schließen, eher sind sie Hamsterräder, Irrwege, Sackgassen.

Immer wieder wartet »Hier ist es schön« mit ungewöhnlichen Einfällen und Lichtblicken auf, aber so recht überzeugen konnte mich Annika Scheffels dritter Roman dann doch nicht. Die Grundidee und dystopische Gesellschaftsanalyse sind schön gedacht, doch der Plot scheint dann zu entgleisen, die Geschichte verselbstständigt sich und lässt Figuren wie Leser verwirrt zurück. Nichtsdestotrotz gibt es einige sprachliche und gedankliche Highlights.

»Lass die Kometen kommen, die Sonne verglühen, die Menschheit völlig den Verstand verlieren und die scheiß Flüsse aufwärts fließen, hier ist es schön. Hier war es schön mit dir und ohne dich eher nicht so.« (S. 16)

»Hier ist es schön« von Annika Scheffel erschien am 07.05.2018 bei Suhrkamp, umfasst 390 Seiten, hat ein großartiges Cover und kostet im Hardcover 22,00 €.

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https://www.suhrkamp.de/buecher/hier_ist_es_schoen-annika_scheffel_42794.html

 

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