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Peter Stamm tritt an gegen »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«

Das allseits beliebte Spielchen des ›Was-wäre-wenn‹

»Es ist, wie wenn ein Stück von verschiedenen Regisseuren inszeniert wird. Die Bilder sind andere, sogar der Text kann geändert oder gekürzt werden, aber die Handlung nimmt ihren unabwendbaren Lauf.« (81)

Peter Stamm führt uns in dem mit dem Schweizer Buchpreis 2018 ausgezeichneten Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ein absurdes Phänomen vor: Sein Protagonist scheint nicht nur einen Doppelgänger zu haben, der seinem jüngeren Ich auf das Haar gleicht, sondern auch sein bisheriges Leben nachlebt.

Christoph ist Schriftsteller, oder versucht einer zu sein; immerhin ein erfolgreiches Buch hat er geschrieben, über die Trennung von seiner großen Liebe Lena.

»Ich bin Schriftsteller, sagte ich, oder besser, ich war Schriftsteller. Ich habe nur ein Buch veröffentlicht, und das ist fünfzehn Jahre her. Mein Freund ist Schriftsteller, sagte sie, oder möchte es gerne sein. Ich weiß, sagte ich, deshalb will ich Ihnen meine Geschichte erzählen.« (15)

Der größte Schock seines Lebens war die Begegnung mit seinem Doppelgänger Chris in Barcelona – oder ist der tatsächlich sein jüngeres Ich? Eine seltsame Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart durch eine physikalisch erklärbare Zeitschleife vielleicht? Eine verwirrende Geschichte entspinnt sich, als der Ich-Erzähler beginnt, sich in das Leben des jungen Chris einzumischen und erst ihm und dann seiner Freundin Lena seine eigene tragische Lebensgeschichte zu erzählen. Ein Zufall jedenfalls scheint ausgeschlossen, denn auch Chris ist Schriftsteller, schreib an demselben Buch, dass Christoph zum Erfolg verhalf, ist auch mit der Theater-Schauspielerin Lena zusammen. Die beiden Doppelgänger-Paare teilen Erinnerungen, Begebenheiten, Überzeugungen – und doch: »es gibt Abweichungen« (97).

»Du begegnest dem Menschen, der du einmal gewesen bist. Er trifft andere Entscheidungen, macht andere Fehler – und doch entkommt er deinem Schicksal nicht.«

Es ist eine rätselhafte Geschichte, die mit der Zeit immer verworrener anmutet. Ein Doppelgänger-Paar, das durch 16 Jahre getrennt ist und doch ein und dasselbe zu sein scheint. Christoph ist mittlerweile auf der Hälfte seines Lebens angekommen, vereinsamt, desillusioniert und des Lebens müde – ein gealterter Schriftsteller, der schon lange nichts mehr schreibt. Nun beschließt er, den Verlust seiner großen Liebe Magdalena rückgängig zu machen, indem er dem 16 Jahre jüngeren Paar seine Lebensgeschichte erzählt. Und es scheint zu funktionieren: Die beiden heiraten, was Christoph nie getan hat. Aber vermag diese Änderung tatsächlich die Gegenwart des Ich-Erzählers zu verändern? Kann man in den Lauf der Dinge eingreifen?

Angel- und Wendepunkt dieser verdrehten, verdoppelten und gespiegelten Geschichte ist ein Schriftsteller-Workshop in Stockholm; hier treffen die vier vom Schicksal durch die Zeiten Verbundenen Entscheidungen, die die Weichen ihrer aller Zukünfte stellen…

»Wenn er ist wie Sie und ich wie Ihre Magdalena und wenn wir dasselbe Leben führen wie Sie beide vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, (…). Dann müsste die ganze Welt sich verdoppelt haben. Und das hat sie nicht. Nein, sagte ich, das hat sie nicht. Es gibt Unterschiede, Abweichungen. Es sind die Fehler, die Asymmetrien, die unser Leben überhaupt erst möglich machen.« (80f.)

 

Derselbe oder der Gleiche?

Stamm wartet mit einer surrealen Geschichte auf, die offenlässt, was hier eigentlich für Kräfte am Werk sind: Zeitreise, Halluzination, Wunschtraum, physikalische Viele-Welten-Theorie oder vielleicht doch eine Meta-(Meta-)Fiktion, in der Christoph ein Buch schreibt, in dem sich Doppelgänger-Figuren treffen? Auch wenn ich von Peter Stamms literarischer Qualität überzeugt bin, werde ich unweigerlich an das Konzept des Schnulzenfilms »Das Haus am See« mit Keanu Reeves und Sandra Bullock erinnert, deren Gegenwarten um einige Jahre getrennt sind und die beginnen, sich durch die Zeiten hinweg Briefe zu schreiben.

»Es gibt eine ganz einfache Erklärung für das alles, sagte sie mit heiterer Stimme. Und die wäre?, fragte ich. Dass sie verrückt sind und alles erfunden haben. Dann gehen Sie wohl besser zurück in Ihr Hotel, sagte ich. Ich habe keine Angst vor Ihnen, sagte sie. Erst will ich das Ende der Geschichte hören. Das Ende der Geschichte kann ich Ihnen nicht erzählen, sagte ich, ein Ende haben Geschichten nur in Büchern. Aber ich kann Ihnen erzählen, was weiter geschah.« (38)

Ob Christoph tatsächlich das Leben des jungen Paares beeinflussen kann, bleibt ungewiss. Zwar treffen sie andere Entscheidungen, nachdem er ihnen seine Geschichte erzählt hat, und doch machen sie, auf etwas andere Weise, die gleichen Fehler. Aber selbst wenn Christoph die Liebe des jungen Chris retten kann, so scheint ihm sein eigenes Leben doch immer mehr zu entgleiten. Solange er seinem jüngeren Ich lediglich zuschaut und sich dabei in Erinnerungen seiner Vergangenheit verliert, pausiert Christophs gegenwärtiges Leben. Nicht nur, dass ihm seine Zukunft entgleitet, die Doppelgänger-Nachfolger demontieren seine eigene Geschichte und eignen sie sich an, bis Christoph ohne alles dasteht.

»Ich war eifersüchtig auf ihn, als stähle er mir meine Erinnerungen, indem er sie nachlebte. (…) Unsere ganze Geschichte kam mir vor wie die missratene Probe einer schlechten Inszenierung.« (39)

Mit der Zeit werden immer mehr Zeitschleifen-Überschneidungen aufgemacht – ein Konzept, das nicht nur reichlich kompliziert, sondern dessen logische Richtigkeit nicht überprüfbar ist. Ein Verwirrspiel, das sich auf kleinstem Raum entfaltet.

»Während ich Lena gefolgt war, hatte ich mich gefragt, ob wohl auch meiner Magdalena vor sechzehn Jahren jemand gefolgt war, ob ich nicht nur einen Doppelgänger hatte, sondern auch einer war, Teil einer endlosen Kette immer gleicher Leben, die sich durch die Geschichte zog.« (77)

Ein Plot, der viele Fragen produziert, eine aber überschattet sie alle: Was soll das Ganze? Da Stamm eine Erklärung für sein Doppelgänger-Phänomen verweigert, bleibt seine Geschichte lediglich eine kleine Meta-Spielerei, die es mit dem symbolischen Gebrauch von klassischen Buch- und Bühnen-Lebensmetaphern übertreibt und seine Leser*innen mit wiederkehrenden Formulierungen und repetitiven Momenten streckenweise etwas langweilt.

Wir haben in Peter Stamm ohne Frage einen routinierten Autor, der stimmig erzählt, unaufgeregt und schlicht, aber doch durchzogen von wohldosierten Teasern und Vorgriffen, die einen bei der Stange halten. Aufgebaut ist dieser Roman in konzentrischen Kreisen, die neugierig auf eine schlüssige Auflösung machen und einen mit diesem Wunsch leider zurücklassen.

Cover-Kunst für alle Bibliophilen: Dafür haben wir Fischer ein überwältigendes Glanz-Cover zu verdanken. Das weiche, warm-glühende Gemälde von einer zarten Figur in hoffnungsvollem Gelb und verführerischem Violett – androgyn zwar, aber schön, liebenswürdig, zutraulich – blickt einen auffordernd vom Cover des schmalen Buchpreisträgers an. Eine verlockende Einladung, das Versprechen einer Liebesgeschichte. An einem solchen Umschlag kommt man nicht vorbei.


Fazit: »Nur nicht zurück. Ich hasse es, Wege zurückzugehen.« (24)

Blickt man über das Spiegel-Konzept des Romans hinaus, erzählt Stamm von der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber einzelnen Individuen und dem Frieden, den man mit seiner Vergangenheit schließen muss, von Schicksal, Verlust und Reue. Von verpassten Chancen, dem Wunsch, etwas ändern zu können und der grausigen Verantwortung, wenn man tatsächlich Einfluss nehmen kann.

»Wenn alles, was man macht, zweimal geschieht, wenn jede Entscheidung, die man fällt, nicht nur einen selbst betrifft, sondern auch einen andern, der einem ausgeliefert ist, dann überlegt man besser zweimal, was man tut.« (84)

Das Ganze entfaltet aber beileibe nicht die Tragweite und Bedeutungstiefe wie Milan Kunderas »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« oder »Das Fest der Bedeutungslosigkeit«, auf die zumindest Stamms Titel anzuspielen scheint.

Peter Stamm liefert in »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« Schlaglichter aus dem Leben eines gescheiterten Protagonisten und Bilder seiner Liebe. Die Konzeption von Doppelgängern und Zeitschleifen ist allerdings ziemlich fad und bietet wenig Neues. Greift lieber zu einem Stamm-Klassiker wie »Agnes«!

 

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»Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« von Peter Stamm umfasst 160 Seiten, erschien am 22.02.2018 bei S. Fischer und kostet als Hardcover 20,00 €, im Taschenbuch-Format 11,00 €.

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