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Édouard Louis‘ Spurensuche: »Wer hat meinen Vater umgebracht«

Die Tragödie der sozial Abgehängten

Das dritte Buch des jungen französischen Erfolgsschriftstellers Édouard Louis ist eine Art autobiografischer Essay. Wieder arbeitet er sich an der Figur seines Vaters ab, diesmal jedoch mit sehr viel wohlwollenderem Blick als in seinem Debut »Das Ende von Eddy«. Auf der Suche nach Schuldigen für das Elend im Leben seines Vaters, auf der Suche nach Gründen für die harte eigene Kindheit erzählt Louis Anekdoten wie aus dem Familienalbum gescheiterter Leben. Er scheint einer Antwort näher zu kommen, als er beginnt, in der persönlichen Tragödie die allgemeine zu suchen.

»Die Welt war für das Elend verantwortlich, doch wie sollte man die Welt verurteilen, die Welt, die den Menschen um uns herum ein Leben auferlegte, das sie nur zu vergessen versuchen konnten – mit Alkohol, dank Alkohol.
Es galt: vergessen oder sterben, oder vergessen und sterben.« (22)

Der Titel erinnert derweil an Xavier Dolans Film »J’ai tué ma mère«, auf Deutsch »Ich habe meine Mutter getötet«, welchem Louis sein Buch auch widmet. Der frankokanadische Filmemacher und Louis sind etwa im selben Alter und sie treiben ähnliche Themen um. Bei beiden geht es zentral um die Homosexualität junger Männer, um soziale Ressentiments, Schwierigkeiten sich einzufügen, um Gewalttätigkeit und nicht zuletzt ein problematisches Verhältnis zu seinen Eltern.

Louis adressiert seinen Text an den Vater, dafür greift er teilweise auf eine ungewöhnliche Form und ein prosaisches Du zurück. Seine Aufzeichnungen wirken notizbuchartig und stark elliptisch, als würde sich ein Gespräch entspinnen bzw. ein Vergebungs-Monolog an den Vater gerichtet, die Versöhnung groß ausgestellt. Innerhalb dieses Schriftuniversums können Vater und Sohn zum ersten Mal über alles offen reden und Voreingenommenheiten und Groll beseitigen.

Es erzählt ein wütender junger Autor, der einen mitfühlenden Blick auf den eigenen Vater mit Verständnis für dessen Unzulänglichkeiten wirft. Wer kann für dieses gescheiterte Leben zur Verantwortung gezogen werden?

Um das zu beantworten, trägt Louis zusammen, was er von seinem Vater weiß und versucht zu verstehen, warum ihr Verhältnis so schwierig war – dieser konnte einen schwulen Sohn nur schwerlich akzeptieren, schenkte der Familie nicht genug Zuwendung, litt unter prekären Lebensbedingungen, unter der harten Arbeit in der Fabrik und schließlich unter dem eigenen Männlichkeitswahn.

»Möglichst früh von der Schule abzugehen war für dich ein Männlichkeitsbeweis und in deiner Welt zudem die Regel: Ein Mann sein, das heißt, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen.« (29)

Er erkennt im Vater einen gebrochenen, verbitterten Mann, der in Armut aufgewachsen und in ihr verhaftet geblieben ist. Ein Vater, der gewalttätig und alkoholsüchtig war, der keine Ausbildung hatte und auf harte, körperliche und gesundheitsschädigende Arbeit angewiesen war, der nicht nur von seiner Frau verlassen wurde, sondern aller Träume und Hoffnung verlustig ging. In einem Wort: keinen guten Vater.

»(…) ich glaube, du tust so, als würdest du das Glück hassen, um dich selbst glauben zu machen, dass dein Leben aus deiner eigenen Entscheidung heraus unglücklich wirkt, als hättest du dein eigenes Unglück unter Kontrolle, als sollte es so aussehen, dass du dieses allzu harte Leben selbst gewollt hast, aus Ablehnung von Genuss, aus Ekel vor der Freude.
Ich glaube, du weigerst dich, verloren zu haben.« (23)

Und dann die schicksalhafte Wende: Bei einem Arbeitsunfall wird die Wirbelsäule des Vaters zertrümmert, die Folgen: Arbeitsunfähigkeit, lebenslange Schmerzen. Mit 50 wird sein Körper kurz vor dem Kollaps stehen. Und als dann verschiedene französische Regierungen schrittweise die Sozialleistungen kürzen und Arbeitnehmerrechte schwächen, sieht sich sein gebrochener Vater gezwungen, wieder Arbeit zu suchen. Als Straßenfeger fühlt sich dieser nicht nur entwürdigt, sondern ruiniert nun auch endgültig seinen Rücken.

 

»Du wusstest, dass Politik für dich eine Frage von Leben und Tod bedeutete.« (70)

»(…) weil es Mörder gibt, die nie für ihre Morde bekanntgeworden sind, (…). Ich möchte ihre Namen in die Geschichte einschreiben, das ist meine Rache. (…) Für deine Leidensgeschichte gibt es Namen.« (74f.)

Die Annahme, die allem zugrunde liegt, ist die, dass sich sozial-politische Unterdrückung jeder Art in Form von Separation und eines verfrühten Todes der Betroffenen äußere. Das gelte für Frauen, Arme, Nicht-Heterosexuelle, Transgender, Migranten usw. – alles Marginalisierte, für die die Politik zum Todesurteil wird. Louis wird nicht müde, mit dem Nachdruck des Existenziellen Politiker zu Mördern zu erklären – so als seien politische Kurse darauf ausgerichtet, Unerwünschte, als unwert Geltende aktiv loszuwerden.

»Hattest du mir schon die Einsicht vermittelt, dass wir zu denen gehörten, denen niemand zu Hilfe kommen würde? Hattest du mir schon den Sinn für unseren Platz in der Welt vermittelt?« (25)

Selbstverständlich gibt es entsetzliches Elend auf der Welt und die Politik tut bei weitem nicht genug, um soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Aber die Art, wie Louis das politische und wirtschaftliche System für einen grausamen Vater zur Rechenschaft zieht und ihn zum Märtyrer macht, wie er jegliche Eigenverantwortung für ein Leben negiert und die Problematik sozialer Missstände entkomplexisiert, halte ich für sehr bedenklich. Der Autor beschwört den Klassenkampf neu herauf und erreicht seinen Höhepunkt an Pathos und Anklage am Ende, wenn er erklärt: »Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen« (70). In der Verhandlung seiner »Frage nach Leben und Tod« ist Louis nicht nur populistisch, sondern geht auch sehr repetitiv vor.

»Auch das habe ich bereits erzählt – aber ich muss mich doch wiederholen, wenn ich von deinem Leben erzähle, denn von so einem Leben will niemand hören! (…) Ich scheue mich nicht, mich zu wiederholen, denn was ich schreibe, was ich erzähle folgt nicht den Erfordernissen der Literatur, sondern denen der Notwendigkeit, der Dringlichkeit, denen des Feuers.« (20)

 

Fazit: Das System ist schuld

»Dein Leben beweist, dass wir nicht sind, was wir tun, sondern im Gegenteil sind, was wir nicht getan haben, weil die Welt oder die Gesellschaft uns daran gehindert hat.« (31)
Dieser extrem schmale, zum Hardcoverbuch aufgeblasene Band eines talentierten, wortgewaltigen Nachwuchsschriftstellers ist schwerlich noch unter dem Begriff Literatur subsumierbar. Louis schreibt aus dem eigenen Leben, um Politik zu machen.
Er biegt das unglückliche Leben seines gewalttätigen Vaters so hin, dass es als Rache für die ihm nicht gewährten Chancen erschient, charakterisiert ihn als einen, der nicht besser sein konnte, obwohl er wollte, und deshalb sich und die Menschen um ihn herum verletzte. Louis schreit sie heraus, seine Wut auf eine Gesellschaft, in der die Schwächsten keinen Platz haben. »Wer hat meinen Vater umgebracht« ist eine populistische Streitschrift und eine Hommage an den eigenen Vater und dessen gescheiterte Träume.

»Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.« (77)

 

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»Wer hat meinen Vater umgebracht« von Édouard Louis, aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, umfasst 80 Seiten, erschien am 03.05.2018 bei S. Fischer und kostet im Hardcover 16,00 €.

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